Schwerfällig überhole ich eine Gruppe Wanderer. Dann taucht ein Wegweiser vor mir auf: „Bilsteimturm 600 Meter“. Teufelchen und Engelchen erinnern mich wiederholt daran, beim nächsten Mal weitaus mehr Zeit fürs Lauftraining zu investieren. „Der BiMa-Ultra ist schließlich kein Zuckerschlecke, Du faule Sau!“, der Gehässige. „Im nächsten Jahr rennst Du hier Wischniewskimäßig hoch…ganz bestimmt!“, die Liebsäuselnde. Aber als ob es nicht schon reichen würde, diese beiden Quälgeister mit hochschleppen zu müssen, tönt urplötzlich eine weibliche Stimme älteren Jahrgangs von hinten: „Seht ihr die paar Marathonis vor uns? Komm, die überholen wir locker. Bilstein, Chackaaa!“ Kreidebleich blicke ich entsetzt nach hinten: die Wandergruppe holt mich wieder ein!
Einige Stunden zuvor: bei Sonnenaufgang und leckerem Frühstück blicke ich gedankenverloren auf den Höhenmetern-Spickzettel von Laufkumpel Timo Nolle. Den stets gutgelaunten Kasseler hatte ich während meiner diesjährigen Brocken-Challenge im Februar kennen gelernt – dort hatte er ebenfalls einen solch ominösen Zettel bei sich gehabt. Timo hatte mich in der Vorwoche angerufen und gefragt, ob ich nicht spontan Lust hätte, am Vortag des BiMa bei Ihm und seiner Familie zu übernachten. Da sich meine Frau mit Töchterchen und Schwester ein paar schöne Tage in Frankreich machte, hatte ich prompt zugesagt und war mit dem Zug von Hannover angereist. „Das wird spaßig werden!“, kommentiert er fröhlich meinen kritischen Flachländer-Blick auf besagten Zettel.
Wenig später saßen wir im Auto und fuhren quer durch Kassel Richtung Kleinalmerode. Die dünne, gelb-orangefarbene Staubschicht des Sahara-Sandes, von dem jüngst in den Medien berichtet wurde, hatte auch vor der Großstadt Nordhessens nicht halt gemacht. „Ich hätte Dir ja gestern den Blick auf Schloss und Bergpark Wilhelmshöhe gegönnt“, meinte Timo während der Fahrt. „Gestern bereits diese trübe Sicht, heute der Nebel. Immerhin soll es schönes Wetter geben!“ Dann musste er stark bremsen, denn urplötzlich tauchte kurz vor der Ortschaft Nieste eine besonders dichte Nebelbank auf. “Boah…keine zwei Meter Sichtweite, habe ich hier auch noch nicht erlebt“, staunt er nicht schlecht. Schnell waren wir aus der Suppe aber wieder draußen, als ich für einen kurzen Moment einen nicht minder ehrfurchtsvollen Blick auf die Bergen des Kaufunger Waldes werfen konnte - dem gut 650 Meter hohen und Rund Hundertundsiebzig Quadratkilometer großen Mittelgebirge in Hessen und Niedersachsen. Dann verschwand der riesige, längliche Bergkamm wieder hinter einer Nebelwand. „Flach ist anders, Mario“, grinst mir Timo zu – gekonnte Anspielung auf das Motto der BiMa-Orga.
Mit einer neuen Rekordzahl an Läufern und Wanderern wollen die Veranstalter das diesjährige Limit des Bilstein-Marathons begrenzen, da der Zuspruch mittlerweile enorm ist. Die Organisatoren müssen sich über Teilnehmermangel nicht sorgen. Vor vier Jahren vermutlich noch undenkbar gewesen, als die erste Austragung mit 138 Läufern seine Premiere feierte. In den Folgejahren ist viel passiert: Dank dem Orga-Team, der Helfer, Einbindung der ortsansässigen Vereine, Sponsoren und nicht zuletzt den Teilnehmern hat sich der BiMa konsequent einen Namen in der Läuferszene gemacht. Im Vorjahr erst belegte der Bilstein-Marathon beim Marathon4you-Voting zum beliebtesten Marathon 2013 in Hessen den dritten und bundesweit den vierunddreißigsten Platz.
Nachdem Timo seinen Wagen in Kleinalmerode geparkt hatte, ging es Richtung Ortsmitte, wo sich das Bürgerhaus mit Start - und Zielbereich befindet. Ein kurzer Blick auf die Uhr, es war kurz vor acht. Hier brannten vierundsiebzig Wander-Marathonis bereits darauf, endlich den Schuh zu machen und ordentlich Höhenmeter zu fressen. Während wir unsere Starternummern befestigten, schallte der Start der Wanderer bis ins Bürgerhaus – einfach herrlich, diese besondere Atmosphäre vor einem jeden Lauf. Kurz musterte ich die Strecke, welche hier aushing. So, so: mit mehreren Schleifen wollte der Veranstalter absolut sichergehen, dass insbesondere die Ultraläufer keine einzige Erhebung außer Acht ließen. Im hinteren Teil des Bürgerhauses gab es Kuchen satt, jedoch regte sich bei mir beim Anblick dieser immensen Kuchenorgie nicht der Hunger, sondern eher der Darm – ich musste mal ganz schnell wohin. Die obligatorische Warterei vorm WC hielt sich gottlob diesmal in Grenzen.
Über hundertundzwanzig Ultras tummelten sich auf dem Platz, und jeder wusste, was bevorstand: 54 Km, 1400 Höhenmeter, größtenteils Wald – und Wirtschaftswege sowie knackige Trails. Es war immer noch feucht-nebelig, die Sichtweite betrug kaum mehr als fünfzig Meter.
Plötzlich wurde der Start runter gezählt, dann ging es auch schon los! Schnell dehnte sich die Läuferschaar wie ein Kaugummi in die Länge und verließ die Ortschaft, lief auf Feldwegen eine winzige Schleife und näherte sich erneut Kleinalmerode. Dann tauchte vor uns ein Wegweiser aus der feuchten Suppe auf, der uns Richtung Hermannseiche und Rodeberg hochjagte. Ich hatte jegliche Orientierung verloren, aber bei Smogalarm gilt stets die Faustformel: solange du Läufer siehst, ist alles in allerbester Ordnung.
Nach der Rodebergrunde durchquerten wir den nahegelegenen Buchholz, ein kleines Waldstück zwischen Hubenrode und Kleinalmerode. Alsbald führte uns die Streckenmarkierung einen serpentinenartigen Trail bergauf. Langsam schälte sich eine Felsformation mit Treppenstufen aus dem auflösenden Nebel. „Ist das nicht Klasse? Mach ein paar Fotos“, rief mir Timo zu. Als wir dann oben ankamen, wurden wir von ersten Sonnenstrahlen begrüßt. Erfreulich war auch, dass der Nebel sich zusehends auflöste. Über Feldwege näherten wir uns wieder Kleinalmerode. Bereits von Weitem hörten wir Jubel und Applaus der Einwohner. Mit einem breiten Lächeln schlängelten wir uns durch mehrere Seitenstraßen. Timo überholte eine ältere Dame, die er wohl kannte - Helene Worbes mit der Startnummer 800. Beide grüßten sich herzlich.