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30.04.16 - Harzquerung

Harzer Knaller

Autor: Joe Kelbel

Einst stellte der Harzer VEB Pyrotechnik Silberhütte folgendes beeindruckende Knallzeug her: Blitzschläge, Peng Blizzard, Power Cracker, Pfau Knaller, Filous und Fliegender Blitz. Geblieben  ist die Harzquerung.

Wernigerrode war schon zu DDR-Zeiten ein beliebter Urlaubsort. Meistens kam man in einem FDGB-Heim unter. In diesem Jahr sind sämtliche Betten rund um den Brocken belegt, es ist Walpurgisnacht, in 35 Orten rund um den Brocken ist der Teufel los. Auf den und auf mich sind die Hexen scharf.

Ich bin scharf auf eine Startnummer. Für die Nachmeldung muss ich freitags bis 20 Uhr in der Turnhalle „Unter den Zindeln“ erscheinen. Zindeln, lateinisch, bedeutet umzingelt, oder halt Ringmauer. Wernigerrode hatte also mal eine Stadtmauer.  Wichtiger aber war das Schloß von Wernigerrode, es sicherte ab dem 12. Jahrhundert die Jagdzüge der deutschen Kaiser im Harz. 25 Euro kostet die Nachmeldung, sieben die Busfahrt zurück vom Zielort, vier die Übernachtung in der Turnhalle.

 

 
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In der Turnhalle spielen normalerweise die Red Devils um die Deutsche Meisterschaft  im Hallenhockey, aber die Teufel sind heute Nacht natürlich auf dem Blocksberg, sodaß die  Läufer in der Turnhalle ihre Ruhe haben.

Haben hätten können. Denn das Schloss ist taghell erleuchtet, mit Blitzschlägen, Peng Blizzard, Power Cracker, Pfau Knaller, Filous und Fliegender Blitz - es rattert und knallt, die  Burg wird vom Feuerwerk erhellt. Innendrin ein mittelaterlicher Gruselpark mit grausamen Gestalten, die mir mit Kettensägen und Wurfaxt hinterherlaufen. Getränke, wie „Heiße Heidi“ und „Brockenfeuer“ sind das kleinere Übel. An Schlaf ist nicht zu denken.

Morgens sind die Autofenster der partyhungrigen Ultraläufer von innen beschlagen. Die Nacht war kalt und es soll kalt und regnerisch bleiben. Ängstliche Läufer werden nach 500 Metern ihre Handschuhe und Jacken in den Rucksack packen. Die Strecke ist dieses Jahr länger, da man letzte Woche wegen des Neuschnees sich für eine  Streckenänderung entschieden hat. Offiziell gehen wir von 51 km und 1200 Höhenmetern aus. Private Messungen, die später verglichen werden, ergeben sogar das Doppelte an Höhenmetern. Zeiltlimit: 7:30 Stunden. Wer sich das nicht zutraut, der startet früher.

 

 
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Um zum Start in der Salzbergstraße zu kommen, geht man einfach hinter irgendwelchen Läufern hinterher. Die meisten sind Wiederholungstäter, anscheinend sind nur Peer und ich  Erstlinge. Einen Salzberg gab es nie, es ist die Straße, die hinauf ins Salzbergtal führt, wo einst der Salzbach entsprang. Martin ist heute Morgen nicht entsprungen, manche Nächte fordern Opfer.

Das Startgelände ist keins, es ist nur ein Einstieg in den grausam steilen Weg durchs Salzbergtal. „Hier muss doch ein Klo sein, hier muss es doch irgendwo einen Kaffee geben!“ fragt Ilona ängstlich, sie ist offensichtlich auch das erste Mal hier.

Hier gibt es nix, außer einer Stimmung, die an eine Treibjagd erinnert: über 1000  Hunde heulen, bellen und zerren an den Leinen. Für das Zielgepäck hat man einen Anhänger bekommen, der aus alten Startnummern vom Hamburgmarathon geschnipselt wurde. Das Zielgepäck wirft man auf einen Haufen am Jägerzaun, das wird seit 1970 so gemacht.

Hartmann drückt die Stoppuhr gegen 8:30 Uhr und 600 Wilde laufen los. Ob diese Uhr dann per Luftpost nach Nordhausen auf der Harzsüdseite zu Heidrun ins Ziel geschickt wird, kann ich nicht sagen. Ob auf der anderen Seite dieselbe Zeitzone herrscht, kann mir auch niemand sagen, weil ich nicht danach gefragt habe. So macht man das hier, hier fragt man nicht, hier läuft man. Im Ziel gibt es kein Willkommensgeld, keinen Sonderurlaub und keine Medaille.

Die ersten vier Kilometer geht es hinauf zum Schützenberg, der nach den Harzerschützen benannt ist, einer Miliz, die im 30jährigen Krieg ihr Land verteidigte. Ich verteidige meinen Platz in der Läufermeute. Das ist nicht einfach, denn die meisten versuchen schneller zu sein als ich. Meine Erfahrung spricht gerade zu mir: „Joe, die siehst du alle wieder!“

 

 
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Bei km 5 kann ich endlich Luft holen. Wir überqueren den Zillerbachdamm (1936). Es geht um den Stausee herum, Laufen macht Spass! Durchs Kalte Tal geht es hinauf zum Hilmersberg, der erste Schnee wird  freudig kommentiert. Die Wege sind grasbewachsen, Baumwurzeln erfordert Konzentration, ab und zu gibt es Matsch, in diesem Jahr kein Problem. Es ist wärmer als gedacht und anders als vorhergesagt, kämpft sich nun die Sonne raus.

In Drei Annen Hohne ist ein Bahnhof der Harzer Schmalspurbahn. Viele Ortsnamen im Harz sind komisch. Der hier rührt daher, daß der Graf zu Stoltenberg-Wernigerrode 1770 eine Abbaugenehmigung für Kupfer und Silber kaufte. Die Genehmigung war in drei Kuxe (Anteil am Bergwerk) unterteilt: Eine für Mutter Anna, eine für Tochter Anna und eine für Nichte Anna. Hohne ist die Bezeichnung für die nahen Klippen.

Auf einer Schafweide steht eine 600 Jahre alte Eiche. Auf der einen Seite des mächtigen Baumstammes sind Brandspuren erkennbar. Hier wurde 1945 ein deutscher, von Porsche gebauter, Tigerpanzer gesprengt. Wir überqueren die gut gesicherte Brockenstrasse.

 

 
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Die Kalte Bode soll tatsächlich 2 Grad kälter sein, als die Warme Bode, die wir nach acht weiteren Kilometern überqueren werden. Bei Königshütte fliessen die zwei Bäche zusammen, dort müsste man das überprüfen können. Wir kommen aber zunächst nach Kuhbach. Dort überprüfe ich, ob hier der angekündigte Verpflegungspunkt ist. Er ist es nicht. Also ruhig weiterlaufen. Bei km 12 zweigt ein Weg nach Braunlage ab, weltbekannt wegen seiner Nacktrodelweltmeisterschaft.  Bloß ruhig weiterlaufen.

Im Steinbachtal, bei km 13 endlich der erste, heissersehnte Verpflegunggspunkt. Getränke werden aus brauen Plastikbechern gereicht, die aus dem Material eines Trabbi gegossen sind. Ich bin scharft auf die „Fettbemmen“, brösel mir frischen Schnittlauch drauf. Da sagt Gudrun: „Dreh die Bemme einfach um, und tauch sie ein!“ Gute Idee, denn so bildet der Schnittlauch eine nahlose, grüne Decke auf dem Griebenschmalz. Laufen bildet!

Bei Königshütte überqueren wir die Warme Bode (km 18), dies ist ein sehr lieblicher Frühlingsfluß. Dann aber gibt es eine Besonderheit: den sogenannten Schwermetallrasen. Eigentlich sollte man meinen, daß auf diesen alten Abraumhalden nichts mehr wachsen könnte. Doch es gibt Pflanzenarten, die haben sich auf solche Schwermetalle spezialisiert. Hier ist es die Galmei-Grasnelke, Galmei-Veilchen, Galmei- Täschelkraut. Galmei ist Zinkspat. Es gibt hier auch kupferliebende Pflanzen. Dass interessante an diesen Pflanzen ist nicht nur die Fähigkeit auf verseuchten Böden zu gedeihen, sie gedeihen unabhängig von  klimatischen Vegetationszonen im Ural, in Griechenland oder in Afrika.

Im Wald entdecke ich einen stark verrosteten Kochtopf, der mit einem stark verrosteten Ofen veroxidiert ist. „Oxidieren“ ist das Jugendwort 2015 und meint das Verschmelzen mit dem Fernsehsessel.

 

 
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Auf „Die Lange“, eine grasige  Hochfläche, ist der zweite Vp, km 20. Die 23 Kilometerläufe laufen ins Ziel nach Benneckenstein. Wir Ultraläufer biegen ab, Richtung Trautenstein, benannt nach einer Opferstätte  (ursprünglich Druidenstein). Interessant, die Bezeichnung stammt nicht aus germanischer Vorzeit, sondern aus dem Mittelalter, als hier eine Sekte seltsame Rituale durchführte, die sich auf den Germanen- und Hexenkult stütze.

Wir überqueren eine weitere Bode, es ist die Rappbode, an der einst die Trageburg lag. Einst schrieb man Drageburg, das hört sich nach Drache an. Obendrüber noch der Rabenstein, das macht die Gegend schaurig. Nun geht es kurz über die Schienen der Harzbahn, an der Haltestelle Sophienhof vorbei und rauf auf die Hochfläche.

Sophienhof ist ein typisches Bergdörfchen auf einer Höhe von 550 Metern. Namensgeberin ist Gräfin Sophie zu Stolberg. Der Dorfgarten ist frei zugänglich, hier gibt es Wollschweine, rote Harzrinder, Esel und Schafe mit frischen Lämmchen. Man tut viel für den Erhalt der braunen Harzziege und für den Erhalt der Läufer. Wir sind beim VP, km 31. Statt gedünstetem Lämmchen haue ich mir wieder „Fettbemmen“ rein.

Dann läuft die Harzer Tradition ab: Salz auf die Faust, in die Zitrone beissen und dann das Schwarzbier runterschütten. Das Schild „Ziegen-Eis, hausgemachte Eisspezialitäten aus frischer Ziegenmilch“ hinterlässt Fragen.

Sophienhof ist schön! Die unerwartete Sonne wärmt, der Ort ist super gepflegt und überall war der Förster Dietrich Zanthier. Am Dorfteich versuchen kleine Jungs Karpfen mit einem Regenschirm zu fangen und sauen sich dabei mächtig ein. Wer kleine Kinder hat, der muss hier mal herkommen. Für die Großen, also für mich, gibt es noch einige Geschichten: Die 44 Personen vom hiesigen Sophienhof stammen von einst 2000 Siedlern eines Ortes in den Karpaten: Deutsch Mokra, wo meine Lieblingskaiserin Maria Theresia im Jahre 1775  250 ihrer österreichischen Untertanen Land schenkte.  

Der Weg hinunter ins Tal ist der Knaller: Es ist ein Lauf durch sonnendurchfluteten, lichten Frühlingswald, in einer Reihe mit bekloppten Läufern. Wir schwatzen im Höllenspeed, können uns aber nicht sehen.  Das geht eine Stunde so und  ist eine absolute Gaudi.

Netzkater -  im Tal war einst ein Villenörtchen, in dem die Wissenschaftler der Mittelwerk GmbH zusammenkamen. Deren bekanntester war Wernher von Braun. Der Name des Örtchens mutet seltsam an. Er stammt von der Netzwiese, auf der die Mönche seit dem 13. Jahrhundert die Fischernetze zum Trocknen auslegten. Das Anhängsel „Kater“ stammt  von einem Wildkater, der hier in einem Restaurant 1880 ausgestellt wurde.

Hier ist auch das Steinkohle-Besucherbergwerk, der „Rabensteiner Stollen“, in dem ab 1737 Kohle abgebaut wurde. 26 Euro kostet die Familienkarte für die Fahrt mit dem Rabenstein Express in die Unterwelt. Durchgehende Führungen. Aber auch Übertage gibt es reichlich Fundstücke zu sehen. Ich entdecke die kleine Wirtschaft am Bahngleis, und begebe mich frisch gestärkt auf den Anstieg zum Poppenberg.

Der Poppenberg ist nicht der Rammelsberg. Der ist bei Goslar. Dort gibt’s auch den sagenumwobenen Kinderbrunnen und nen Harzer Knaller. Der Aufstieg ist nicht so sagenumwoben, wie es manche Laufberichte beschreiben. Wir haben ein fröhliches Laufteam gebildet und genießen den Duft der Bärlauchfelder. Ja, und dann sind wir doch schon oben am VP.

Der sieht ziemlich abgegrast aus. Ich bekomme noch etwas Gutes aus der Kiste im Kofferraum, der Kollege neben mir lutscht eine alte Geltüte aus. „Das Beste lassen die immer drin!“  

 

 
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Der nächste VP ist 5 km weiter in Neustadt.  Das ist wieder ein Ort aus dem Bilderbuch. Oben ist die Burg Hohenstein, hier war einst  der Kaiserweg, ein frühzeitlicher Handelsweg, auf dem stellenweise noch die Spurrillen der Ochsenkarren erkennbar sind. Den Namen bekam der Weg wegen der Flucht Kaiser Heinrich IV 1074. Es war die Zeit des Sachsenkrieges.

Im Ratkeller findet gerade eine Hochzeitsfeier statt. Die Gäste wackeln zum Eingang und  gucken uns sprachlos nach, denn wir sind nämlich richtig schnell unterwegs. Wahre Ultraläufer brauchen halt länger, um warm zu werden.

Wir laufen durch das 1450 erbaute Stadtor und werden freudig am VP begrüßt. Klasse, hier gibt es noch richtig viel zum Schlemmen, anscheinend waren noch keine Läufer vor uns hier. Fettbemme nach Fettbemme, eingetunkt in Schnittlauch, ich habe gelernt! Dann weiter, nur noch 8 Kilometer!

 

 
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Wir kommen in die Rüdigsdorfer Schweiz, ein Gipskarstgebiet. Also müssen wir vorsichtig laufen, damit wir nicht in irgendein vom Regen gewaschenes Loch fallen. Das wäre aber nicht so schlimmt, denn die Gipshöhlen hier werden von reinstem Alabaster ausgekleidet. Alabaster ist die schönste Form von Gips. Man stellte daraus Fenster her, die nur den Königspalästen vorbehalten waren. Heiligenfiguren, Vasen und Lampen aus Alabaster senden wohliges, göttliches Licht aus.

Genauso wohlig ist jetzt der Weg oberhalb von Nordhausen durch die Rapsfelder und einem alten, von Obstbäumen gesäumten Weg. Wir überholen jetzt die Wanderer, die um 5 Uhr gestartet sind. Solche Liberalität mag ich. Ich werde also auch in 35 Jahren hier noch antreten können, um dann im Ziel den berühmten Korn zu trinken.

 

 

Nordhausen ist bekannt für seinen Korn, der hier schon im 16. Jahrhundert gebrannt wurde. Seine Berühmtheit aber erlangte er, nachdem Bismark im Jahr 1874 die ihm geschenkten 12 Flaschen miesen Korn verschähte. Die Nordhäuser  reagierten schnell und sandten Bismark zwei Fässer vom Feinsten. Seitdem wird auf absolute Qualität geachtet. Heute prägen zwei riesige Kornflaschen das Stadtbild.

Im Krieg stellte man in den Brennereien natürlich technischen Alkohol her - für den Wernher von Braun. Weswegen Nordhausen bombardiert wurde. „Lediglich neun Brennereien blieben intakt“. Auch ich bin noch intakt und laufe locker und  leicht ins Ziel. Schnell duschen und dann ab in den Bus, denn heute Nacht bin ich der Harzer Knaller!

 

Informationen: Harzquerung
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