Nein, also das mit dem Einschlafen wird heute nichts. Wie auch? Anstatt Schäfchen zu zählen, repetiere ich im Geiste den hinter mir liegenden, langen und ereignisreichen Tag.
Es scheint, als seien die kühnsten Träume wahr geworden. Ich bin zwar nicht die Entdeckerin einer neuen Insel, aber immerhin durfte ich meinen Fußabdruck hinterlassen. Es ist gar nicht so leicht, besonders für Marathon- und Ultramarathonsammler, noch eine fast unbekannte Laufveranstaltung ausfindig zu machen.
Die längste Ausdehnung Gozo’s misst 14 Kilometer und die Küstenlinie ist insgesamt 43 Kilometer lang. Nach knapp 55 Laufkilometern und über 1.400 Höhenmetern ist das 67 Quadratkilometer kleine Eiland auch schon umrundet. Der Lauf - oder besser, der Entdeckertrail - ist nicht nur für uns ideal, um Sport, Kultur und Natur der Insel zu verbinden und zu entdecken.
Gozo liegt etwa sechs Kilometer nordwestlich der Hauptinsel Malta. Als Schiffsbrüchiger wurde Odysseus einst auf dieser Insel angeschwemmt. Sie liegt, eingebettet im Mittelmeer, nur etwa 90 Kilometer von Sizilien entfernt und ist so klein, dass sie weder über einen eigenen Bahnhof oder gar einen eigenen Flughafen verfügt. Die wenigen Straßen, auf denen links gefahren wird, verfügen über nur eine einzige Ampel und sollte es doch einen Strafzettel geben, dann wird dieser in Euro gezahlt. Das Inselparadies aber ist sowieso am besten zu Fuß zu erkunden und die höchste Erhebung ist bereits auf 195 Metern erreicht.
Zugegeben, bis vor fünf Wochen kannte ich das Eiland der Republik Malta auch nicht und es war schon mehr als eine glückliche Fügung, die mir im Anschluss an den Malta Marathon (LINK) die Gelegenheit bot, die Insel auf eigene Faust zu entdecken. Es war nur ein Appetithäppchen aber ich genoss es und fühlte mich wie ein Betrachter auf einer Entdeckungsreise im Paradies. Einmal davon genascht, lässt mich dieser Geschmack nicht mehr los. Odysseus konnte der Verlockung der liebestollen Kalypso widerstehen und ging nach sieben Jahren. Ich muss das Abenteuer Inselumrundung leider schon nach einem verlängerten Wochenende planmäßig beenden.
Mein Direktflug mit der Lufthansa von Frankfurt am Main nach Malta startet um 9:20 Uhr. Keine zweieinhalb Stunden später setzt die Maschine auf dem Malta International Airport (Luqa) auf. Ein lange Menschenschlange vor dem Taxistand: erst wird bezahlt, dann chauffiert. Ich erkundige mich nach dem Preis für eine Fahrt zum Fährhafen Cirkewwa. Fünfunddreißig Euro soll mich die Fahrt mit dem Taxi kosten. Mit der Express-Buslinie X1, die in unmittelbarer Nähe der Taxis abfährt, zahle ich lediglich 2,20 Euro. Keine Frage, ich entscheide mich für den Bus.
Eine Stunde später bin ich am Fährhafen von Cirkewwa. Die Fähre nach Mgarr auf Gozo, übrigens die einzige öffentliche Verbindung Gozos zum Rest der Welt, habe ich knapp verpasst. Ich genieße die Dreiviertelstunde bis zur Abfahrt der nächsten Fähre dösend in der Sonne. Auch Jacques Cousteau´s Forschungsschiff war einst im Comino-Kanal als Fähre im Dienst, bevor Cousteau das Schiff in andere Gewässer steuerte. Ich schippere an Comino, der dritten und kleinsten bewohnten Insel Maltas vorbei. Kaum habe ich meinen Cappuccino ausgetrunken, legt die Fähre auch schon auf Gozo an.
Antonello wartet bereits am Pier auf mich. Bequem bringt er mich durch das ländliche und beschauliche Gozo. Unser Ziel liegt an die Nordküste in Marsalforn, dem größten Ferienort des Eilands. Wir stoppen am Vier-Sterne Hotel mit dem Namen „Calypso“. Zwei Übernachtungen habe ich gebucht. Das Zimmer ist hell und geräumig, von meinem Balkon aus habe ich einen wunderbaren Blick auf die Bucht, die Promenade, das offene Meer und den Kieselstrand. Mit einem Spaziergang durch das einstige Fischerstädtchen und anschließendem Kuchen auf der Dachterrasse des Hotels beginnt das spannende Wochenende. Der gemächlich anmutende, mediterrane Lebensrhythmus wirkt ansteckend. Oder ist es die Luftveränderung, die mich so gelassen macht? An diesem Abend ziehe ich ein saftiges 200 Gramm schweres Rinderfilet den sonst üblichen Kohlehydraten in Form von Nudeln vor. Eine gute Entscheidung, wie sich am nächsten Tag noch zeigen wird.
Ein sauberes Hotel, mit hellen und geräumigen Zimmern. Am Morgen ein leckeres Frühstück – das allein hebt sich noch nicht von anderen Hotels auf der Welt ab. Aber ein extra frühes Frühstück und das keineswegs in einer „abgespeckten“ Version, sondern bereits mit komplett aufgefahrenen Buffet und einem aufmerksamen Service, das ist in der Tat für Läufer schon etwas Besonderes. Zum Zeitpunkt meines Eintreffens hat Gozo etwa 30.000 Einwohner. Wahrscheinlich. Mit den Läufern sind es nun einige mehr. In der Teilnehmerstatistik lassen sich die Italiener nur von den Maltesern überbieten.
Wie ein akustischer Irrgarten schallt der römische Dialekt in allen Tonlagen freudig erregter Sizilianer durch den Bus. Und ich eingezwängt dazwischen. Ruckelnd und mit knochenharter Federung erreichen wir in wenigen Minuten Nadur, im nordöstlichen Teil der Insel.
Unterhalb der Nadur Parish Church, sozusagen am höchsten Punkt der Stadt, wird gerade das Hellfire Banner gespannt. Der Himmel ist strahlend blau und es ist angenehm warm, die Insel ist still. Während hoch über uns die Sonne versucht, durch das Gewölk zu blitzen, reißt mich der italienische Singsang in die Gegenwart zurück. Noch fünfzehn Minuten bis zum Start. Auf meine beiden nackten Oberarme wird mir mit dicker Schrift die Startnummer 22 gemalt. Die schwarze Farbe ist weder fett- noch wasserlöslich und wird mich noch lange an diesen Tag erinnern.