Der Ortskern von Melgaco wird von mitelalterlichen Pflastersteingassen, Kirchen und Herrschaftgebäuden bestimmt. Das extrem harte Winterklima hier zur Grenze nach Galizien bestimmt die Bauweise der Häuser. Ich bin ganz froh, dass wir es heute geruhsam angehen. Wir fahren spät mit dem Bus nach….oh hilf! Xertelo? Quatsch, Castro Laboreiro, oh Mann! Laufen macht blöd!
Im Museum erfahren wir, dass man in dieser rauen Gegend noch in einem Sommer- und einem Winterdorf wohnt. Die uralten Häuser bestehen aus schwarzen Granitquadern. Mensch und Tier leben unter einem Dach. Wie bei mir, doch meine Haustiere schwimmen im Aquarium. Im Sommer schützen die üppigen Weinreben an den Häuserwänden vor der Tageshitze. Die Trauben ergeben einen schrecklich Wein, der hier „verde“ genannt wird. Das bedeutet nicht „grün“ sondern „saujung“, bizzelt und hilft dir beim Laufen, zum Klo! Hochexplosiv!
Der gesamte Berg samt Castel Castro Laboreiro (9. Jh.) ist wegexplodiert. Nicht vino verde, sondern Anfängerfehler: Eine Kerze fiel im Pulverturm um.
Dann geht es zur Hundezuchtanlage. Der Cao (Schutzhund) Castro Laboreiro, ist ein kräftiger, eleganten Wachhund, der sich aufgrund seiner Gutmütigkeit auch als Familienhund eignet. Nicht wie das grausame Rudel von gestern, oder war es vorgestern? Es gibt im Hotel eines Sponsors ein zweites Frühstück und viele Fotos. Immer wieder gibt es Geschenke. Unsere schimmligen Taschen füllen sich mit Wein, Würstchen, Honig und Prospekten. Mir füllt sich mein Hintern mit Hummeln, ich will endlich los!
Viel Polizei, viel Presse und knapp 30 Läufer.
Hinter dem Dorf und dem Läuferfeld kann ich wieder frei sein, meine Arbeit zwischen Granitblöcken und saftigem Grün beginnen. Es ist eine Arbeit, die Spass macht, nach fünf oder zehn Kilometern wird die Atmung gleichmäßig und die Ruhe eines Langstreckenläuferlebens tritt ein.
Mein Leben ist grotesk, ich ackere mich die Berge hoch, liefere unglaubliche Bilder, und unten im Tal stehen hochbezahlte Fotografen, knipsen jeden Sabber der Spitzenläufer. Die Realität aber hält nur einer fest.
Mensch und Wasser teilen ihre Wege. Hier teile ich mir den appetittlich duftenden Saft von wildem Lauch, den ich mit jedem Schritt freisetze mit einem freundlichen Bächlein, das ich schwerfällig hinaufkraxel. Es ist grün, es ist lau, die Vögel zwitschern, es riecht herrlich nach Zwiebelkuchen, und ich kann mich frei bewegen. Wenige meiner Kameraden kann ich überholen, meistens bin ich den ganzen Tag allein. Wenn ich in einem der Hochtäler ankomme, kann ich laufen, wenn es hinabgeht kann ich springen, von Stein zu Stein.
Acht, neun Stunden laufe ich jeden Tag, etwa alle 10 Kilometer gibt es eine Verpflegungsstation, in Lamas de Mouro fülle ich mir die Flaschen mit Cola auf, esse zwei, drei Stückchen von diesem Gojigelee und laufe weiter. Goji soll gesund sein, wir nennen die Dinger Bockshorn, kennen es aber nicht.
Carlos kennt keine Fremdsprachen und keine Serpentinen. Wo ein Wille ist, da muss noch lange kein Weg sein. Carlos schickt uns durch den Schlamm steil nach unten. Wenn ich hier ausrutschte, dann kann ich nur noch im Sitzen pinkeln. Es gibt keine Pussylane hier, und das Gestrüpp wehrt sich mit Dornen. Lange stehe ich vor dem Abgrund und überlege. Dann höre ich das Rufen eines Chingelings und stürze mich hinab in die grüne, nasse Hölle, um meine Platzierung zu halten.
Auf den bemoosten Steinen gibt es aber kein Halten, mit dem Fotoaparat dämpfe ich meinen abrupten Sturz und lande im Bach. Chingeling steht lachend da und fragt, ob er ein Foto schiessen soll.
Ein wunderwunderschönes, grünes, bemoostes Flusstal, in dessen klarem Wasser sich über dem sandigen Grund mein verbissenes Gesicht spiegelt. Die Erinnerung an diesen kühlen Grund will ich mit Euch nicht teilen, auch lassen mein Wortschatz keine Schilderung dieser Schönheit zu.
Irgendwann, gegen Abend laufe ich ins Ziel, am Heiligen Granitberg Penedo das Meadinhas, der hier gewaltige 300 Meter steil emporragt. Die Wallfahrtskirche Santuário de Nossa Senhora da Peneda (Heiligtum unserer Lieben Frau von Peneda) ist ein Prachtwerk aus dem 17./18.Jahrh., wurde aufgrund der Erscheinung der Heiligen Maria im 13. Jahrh. gebaut und verbreitet in dieser unberührten, majästetischen Berglandschaft eine heilige, eine andächtige Stimmung. Auf der 300 Meter langen Treppe gibt es 20 Kapellen mit Darstellungen aus dem Leben Christi.
Unser Hotel ist direkt hier am Fusse der Treppen, direkt am Zielbogen. Wieder werden mir diese 0,1 Liter Bierproben an den Tisch gebracht. Es gibt schon komische Kulturen. Sobald man im Ziel ankommt, bekommt man beste Verpflegung und die Getränke sind frei wie ich. Sogar eine Heizung gibt es im Zimmer, das sich bald mit dem Duft verschimmelter Yakverdauung füllt.
Zum Abendessen gibt es Schnitzel, die guten, die von den hier lebenden Ferkeln, mit viel Knoblauch, dazu Schwertfischsteaks, die mir auf der Zunge zerfallen. Carlos Sá sitzt mir gegenüber. Ich lobe seinen Trail (auf spanisch), dass ihm (ungelogen!) die Tränen in die Augen kommen. Es gibt niemanden hier, der nach Pflanzenkost ruft, alle spachteln die fetten, knusprigen Steaks. Der Wein fließt so reichlich, dass selbst ich verwundert bin. Carlos, der heute Nacht wieder hinausläuft, um die Markierungen zu setzen, nimmt nicht die Hand von der Weinflasche. Mit der anderen drückt er mich. An diesem Abend sind wir alle feste Freunde geworden.
Jeden Morgen wache ich vor Sonnenaufgang auf, heute klettere ich hinauf in die Kirche. Sie ist immer offen. Sie ist so wunderschön, so rein und so vollkommen. Die Morgensonne beleuchtet die Heiligenbilder und den Altar.
Den Startzeitpunkt vor der wunderschönen Bergkirche bestimmen die Läufer, die sich irgendwann auf irgendein gefühltes Kommando hin von den Stühlen der Cafés erheben und wie Zombies Richtung Bogen wackeln. Manchmal wird nachgezählt, ob alle beisammen sind. Alle? Es werden täglich weniger! Nary hilft Salva, die Holzsplitter aus dem Oberschenkel zu quetschen. Ein Chingeling hat dicke Löcher in den Socken, meine liegen auf der Heizung, die Dinger kann man eh niemandem mehr anbieten!
Der Lauf die ewig langen, heiligen Treppen hinunter ins Tal ist traumhaft. Es wird der einzige sonnige Tag auf dieser Reise sein. Die Sonne lässt fetten Nebel aus den Wiesen aufsteigen. Prallgefüllte Orangenbäume beleuchten meinen Weg, bis wir zu einem diamantenen Fluss kommen. Der Fluss ist eiskalt und glasklar.Viele Läuferfreunde sind hier versammelt, schiessen Fotos und beobachten, wie Kameraden auf den moosigen Steinen abrutschen, sich lachend und freiwillig ins glitzernde Wasser fallen lassen. Ewige Zeit vergeht, bis ich die weltweit ersten Unterwassertrailfotos im Kasten habe. Viel, viel Zeit.
Die Welt wird von oben erobert und dort muss ich jetzt hinauf. Qualvoll. Nach dem ersten Verpflegungspunkt passiert mir etwas sehr Schlimmes: Im Film „Rausch der Tiefe“ klingt sich der Apnoetaucher aus der Sicherheitsleine aus und schwimmt aus Lebensfreude hinaus ins Blaue. Mir passiert in diesem Augenblick dasselbe. Ich laufe ins Blaue. Weit, weit weg von allen Menschen. Hätte nie geglaubt, dass mir sowas passiert. Es ist der Rausch der Freiheit. Zunächst fotografiere ich die urigen Rindviecher, dann mich selbst und dann setzt das Hirn aus und ich laufe, laufe und laufe in eine komplett andere Richtung, weit, weit weg aus dieser markierten Welt, in meine eigene Welt aus Farben, Natur und seelischer Freiheit. Es ist nur geil, geil, geil. Ich fliege kilometerweit ein goldiges Tal hinab, fliege und bin frei, absolut frei. Sonne im Herzen und Pulver im Arsch.
Welche Stimme mich gebremst hat? Ich wache mutterseelenallein und verkatert in irgendeinem blühenden Tal auf und suche nach dem Weg.
Ich habe Misst gemacht, großen Mist. Ich weiss, dass der Abmarkierer, der Mauro, meinen Rückweg ins irdische Dasein unmöglich macht, wenn er vor mir ist. Also laufe ich um mein Leben, den Berg wieder hinauf. GPS. Glück. Kraft und Überlebenswille, dann bin ich nach 2 Stunden wieder auf Kurs. An einem verbrannten Hang bemühe ich mich, Anschluß an die Welt zu finden. Ich erreiche Mauro, den ich wild umarme.
Ich wünsche Euch allen so einen Laufmoment. Es ist die Erfüllung. Doch bitte, Vorsicht! Was gerade passiert, hat 280 Marathonerfahrungen erfordert. Macht es bitte nicht!
In Soajo, an der VP hole ich ZumZum ein. Hier gibt es unzählige Megalithanlagen. Diese vorgeschichtlichen Bauten haben einen Durchmesser von 10-30 Metern, sind teils komplizierte Bauwerke aus Erde mit Steineinbauten. Sogar Felsmalereien sind erhalten. Kleine Häuser liegen an steingepflasterten Strassen, auf dem Dorfplatz steht ein einzigartiger Pranger, der 1910 zum Nationaldenkmal erklärt wurde. Seltsam ist das freundliche, menschenähnliche Gesicht in dem Pranger.
Auf der erhöhnten, gemeinschaftlichen Tenne, die von großen Granitblöcken überragt wird, stehen 24 spätmittelalterlichen Kornspeicher (Espigueiros), die wie überdimensionierte Monstersärge auf Stelzen aussehen. Die Kreuze auf den Dächern betonen die Gruftartigkeit dieser Komplexe, jedoch bitten sie um göttlichen Schutz für den im Inneren gelagerten Mais.
Ich bitte eine französische Familie, Fotos von meinem Lauf durch diese Urwelt aus Särgen zu schiessen. Das dauert, ich muss dreimal im Kreis laufen, die können halt nicht Foto.
Azaleen säumen jetzt meinen Weg. Ich pflücke Zitronen von den fetten Bäumen, dröppel mir reichlich den Saft gegen meinen Gestank über das Hemd. Carlos Sá ist vor mir. Er will unbedingt ein Foto mit mir und ZumZum vor dem Grafity „Cunhas City“. Cunhas ist ein präpubertäres Schmutzwort, und den Trail, den Carlos macht, der ist auch total präpubetär.
Über den Touvedo Staudamm ist es ätzend zu laufen, drüben ist Spanien. Der Zieleinlauf im Castelo de Lindoso (13.Jahrh) ist bewegend. Das Castel bewacht die schmale Schlucht des Rio Lima. Am Burgabhang stehen 50 Maispeicher (17.Jahrh), die hier Hórreos genannt werden. Ein Wunderbares Zielgebiet. Ganz große Freude. Ganz Klasse organisiert! Es sollen sich die Reliquien von Maria Magdalena hier befinden, jedenfalls werden diese am 2.Juli auf einem Holzkarren durch die Strassen getragen.Mich kannste jetzt auch tragen!
Hier in Lindoso gibt es kein Hotel. Wir sind privat untergebracht. Jeder Läufer hat seinen eigenen Fahrer, der ihn irgendwohin bringt. Gute Orga, sehr, sehr gute. Da sind Listen, welcher Läufer in welchem Ort und wo pennen darf. Ich bin in einer Ferienwohnung untergebracht, ohne Heizung. Zum Abendessen werde ich wieder abgeholt. Gegrilltes Hühnchen und leckere Makrele. Als es dunkel wird, werde ich zurückgefahren. Ich will alleine meine Wohnung suchen, doch glücklicherweise begleitet mich der Fahrer zu Fuss durch die engen Gassen bis zu meiner Tür. Er weiß warum.
Einige Zeit lang beobachte ich eine hässliche scharze Käferlarve, die mit ihren sechs Stummelbeinen einen schwerfällige Körper über mein Kopfkissen zieht, dann bin ich weg.