Am Rande der Welt trägt der Gott Atlas den Himmel auf seinen mächtigen Schultern. Als im siebten Jahrhundert die Araber nach Marokko vordrangen, übernahmen sie dieses Weltbild der Griechen, es schien ihnen unvorstellbar, daß hinter dem mächtigen Atlas noch eine Welt existieren könnte. Doch es gibt eine: Die noch weitgehend unbekannte Welt der ursprünglichen Bewohner Marokkos, den Berbern.
Der Trans Atlas Marathon ist die einzige Möglichkeit, den 285 km langen Hauptkamm des Hohen Atlas von Ost nach West zu belaufen. Mindestens zweimal pro Tag der sechstägigen Reise werden wir die Grenze von der bekannten zur unbekannten Welt überschreiten, mal blicken wir zum Mittelmeer, mal zur Sahara. 14.000 Höhenmeter kommen so zusammen, rechnet man von den täglichen Tiefstpunkten zu den täglichen Höchstpunkten. Eine niedliche Rechenweise.
Es ist kein Zufall, dass der Trans Atlas Marathon in einem kleinen Ort namens Zaouit Ahansal beginnt. Der Ort gab der Familie von Mohamad, dem Veranstalter und seinem Bruder Lahcen den Nachnamen. Die beiden legendären Marathon des Sables Gewinner gehören zum Stamm der Ait Atta, die sich nach dem Einfall der Araber in den Hohen Atlas zurückzogen.
Stammvater Dada Atta hatte 40 Enkel, die UrUrUrenkel zogen vor 100 Jahren den Draa-Fluß Richtung Süden nach Zagora, verdienten sich mit Landwirtschaft ein wenig Geld, um Land von „den Schwarzen“ zu kaufen. Die Schwarzen waren ursprünglich Händler, die mit den Karavanen aus Mali und Mauretanien kamen.
Heinrich Barth, der Entdecker Timbuktus, hielt das Leben dieser Völker fest, erzählt von der Karavanenstrasse Marrakesch-Zagora-Timbuktu, weckte den Wunsch eines Zwölfjährigen, dieses Gebiet einmal laufend zu erleben.
Unsere Fahrt nach Zaouit Ahansal stoppt am schönsten Wasserfall der bekannten Welt: Der Cascade d´ Ouzoud. Über einen schmalen Pfad, gesäumt von Verkaufsständen, gelangt man zum Fuß des 110 Meter tiefen Wasserfalls. Im feinen, kühlenden Regenbogen vergesse ich das 40 Grad heisse Marrakesch, genießen eine Tagjine, und freue mich auf die unbekannte Welt.
Zaouit Ahansal ist ein Geheimtip für Abenteurer: Mit dem Kajak fährt man den Oued Ahansal mit seinen fetten Forellen hinab. Von rosafarbenen Oleanderbüschen gesäumt geht es durch die sagenhafte Cathedrale des Roches bis zum Stausee Bin-el-Ouidane. Die Stadt selber ist eingekesselt von hohen, ockerfarbenen Kliffs. Die 600 Meter vertikal nach oben schiessende Tamga Amsfrane ist Afrikas extremste Kletterwand, wo sich ganze Seilschaften strangulieren, Höhlenforscher verschwinden im Untergrund, werden nie gefunden. Gibt es kleine Randmeldungen von den größten Suchaktionen Marokkos, dann handeln sie aus dieser Gegend.
Erstaunlich: 300 Kinder kommen jährlich im Rahmen eines Austauschprogrammes nach Zaouit Ahansal, einem winzigen Bergdorf, das nur ein „Lebensmittelgeschäft“ hat. Wir Läufer sind verteilt auf drei Unterkünfte, sogenannte „gites“, Herbergen, in denen noch spät in der Nacht Wanderer und Kletterer eintreffen. Unser Vorhaben, 285 km durch den Hohen Atlas zu laufen, stößt auf Unverständnis. Als der amerikanische Bergsteiger im Nachbarzimmer seiner Mutter mit viel „fuck“, „shit“ und „what the hell“ über unser Vorhaben erzählt, dämmere ich schon weg.
Am nächsten Tag einchecken, Pflichtausrüstung, ärztliche Atteste und EKGs vorlegen. Wir werden in einer Höhe von 1800 bis 3200 Metern laufen. Alle 10 bis 20 Kilometer gibt es Kontrollpunkte, an denen Wasser zugeteilt wird. 12 bis 16 Liter, je nach Streckenlänge. Mohamad sagt: „Du schaffst das!“
Mein heutiges Trainingsläufchen entlang der zwei Schluchten Taghia und Akka N´Tazart ist nicht vielversprechend. Setze mich lieber auf einen Stein, beobachte die Arbeit der Berber: Die Frauen schneiden Futterpflanzen, die Männer laden tief unten im Canyon Baukies auf die Lasttiere. Schöne Welt?
Samir (4. und 5. Platz beim MdS) wieselt von Herberge zu Herberge, hängt den morgigen Tagesplan aus: die Stationen, wo die Ärzte sind, wo es Quellen gibt, wo es Cut-Off-Zeiten gibt.
Morgen: 7:30 Antreten. 8:00 Uhr Start!
Seit Tagen fiebern wir wie Todeskandidaten auf den Augenblick der Gewissheit. In meinem Hirn läuft „Ride to Agadir“ von Mike Batt:
„We rode in the morning
Casablanca to the west
On the Atlas mountain foothills leading down to Marrakesh
For Mohammed and Morocco
We had taken up our guns
For the ashes of our fathers and the children of our sons
For the ashes of our fathers and the children of our sons”
Nach zwei Kilometerchen bleibt die Welt zurück, bin allein mit unzähligen Singvögeln, die entlang der grünen Schlucht des Akka N`Ilissi einer sinnvolleren Beschäftigung nachgehen. Mich überwacht die brutale Wand Tamga Amsfrane, mitten drin die enorme Mundöffnung in die tiefe Unterwelt. Es wäre schwer, als Nichtläufer hier oben zu überleben, Luft und Zeit ist knapp.
Nach Stunden überwinde ich den Col de Tagragra (2800m), laufe locker-leicht hinunter Richtung Souk Asem (2300m). Da dreht sich der Felsen, ich höre einen unmenschlichen Schrei, liege kopfüber und zuckend auf einem Felsabgrund. Die Waden krampfen, der Fotoaparat liegt Meter unter mir, die rechte Hand ist aufgespiesst in einem Dornenbusch, ich habe mir eine Rippe gebrochen.
Die Ewigkeiten hinauf zum Col Tizi N´Yllaz (2905 m) nutze ich, um das Maximum an Schmerzmittel auszurechnen, das ich stündlich zu mir nehmen darf und überlege, wie lange ich bis zum nächsten ärztlichen Kontrollpunkt brauchen werde.
Von oben kommen mir zwei Schafhändler entgegen. Die Höhe, der steile Weg machen Tiere und Händler wirsch. Mit lauten Ratschen treiben die Männer die nervösen Tiere durch die Felsen, fletschen mich an, als ich die Szene fotografiere.
Mein Brustkorb schmerzt, als ich die Hochebene (2520 m) am See Izzourar erreiche. Der See ist ein wichtiger Stützpunkt der Flamingos auf ihren Wanderungen von der einen Welt in die andere. Jetzt im Mai ist der See trocken. Ich erinnere mich an die Kameraführung beim ersten Film von Jurassic Park: Der Flug nach oben, dann Blick über tausend grasende Saurier. Das Grün, die Weite, die Sonne, das Unheimliche. Jetzt fliege auch ich.
Ich habe mich in der Menge der Medikamente verrechnet.
Die Markierungen sind gut, sehr gut, hier jedoch gibt es unzählige schwarze und gelbe Flecken: Ziegen und Schafe, blaue und gelbe, stachlige Kissen, die von tiefen, fast unüberwindbaren Regenfurchen getrennt werden.
Im Halbschlaf weckt mich ein seltsames Grummel. Mein Freund Jorge steht vor mir, hält mir eine warme Dose Bier entgegen. Über das soziale Netzwerk hatte ich mir diesen Service bei dem Fotografen bestellt. Im Augenwinkel sehe ich, wie Uwe weit unter mir an mir vorbeizieht, dann bin ich wieder allein.
Den dritten PC (point de controlle) erreiche ich irgendwann über Umwege, spreche dort mit den Ärzten, will unbedingt weiterlaufen.
Im Tal Ait Bougoumez (das glückliche Tal des Stammes Bou) gibt es jährlich zwei Ernten. Getreidefelder, Pappeln, Walnussbäume, Lehmbauten, Kasbahs und die Getreidespeicher (Agadire) dominieren die Landschaft.
Es gibt kleine Schulen und Moscheen. Die hiesige Sprache ist Tamazight mit Dialekt Tachelheit. Der Unterricht erfolgt in Arabisch, die meisten Kinder haben deswegen Probleme, dem Unterrricht zu folgen. Ich habe Probleme, den Markierungen zu folgen, sehe Uwe auf der anderen Seite, hechte durch den Fluß, über die Bewässerungskanäle und schmalen Windmauern hinüber. Völlig erschöpft stehe ich ratlos rum, keine Markierung. Ich zeige den Jungs die Fotos, auf denen Markierungen zu sehen sind, und tatsächlich malt ein Junge ein großes Kreuz in den Sand.
„Ja,ja, ja! Das ist es!“ brülle ich freudig, wobei mir die Schmerztränen in die Augen schiessen. Er muss eine dieser Markierungen gesehen haben. Er zeigt hinüber und hoch, macht dann eine schnelle Bewegung, als müsste ich ein Flugzeug nehmen. Zeigt auf den Wawgulzat (3800 m), den Igoudamen (3500m), den Azourki (3700m) und den Tizal (3100m) mit den Schneeresten. Ich glaub es nicht! Ich muss den Jungs jetzt vertrauen, folge ihnen. Frauen kommen mir entgegen, sie sind auf dem Weg zum Sidi Moussa (2008 m), dort ist das Grabmal des Marabouts (mythischer Heiliger) Moussa (Moses). Die Frauen wollen um Erfüllung ihres Kinderwunsches bitten. Kann ihnen heute nicht helfen.
Majästetischen Blick über das Tal, das sich die Flüße Assif-N-Rabat und Assif-N-Ait-Hkim teilen. Stunde später bin ich im Dorf Iglouane, ein hässlichster Ort: Lastwagen drängeln sich durch die schmale, schlammige, mit Müll und Öl bedeckte Ortsstraße. Ich hüpfe um tiefe Schlaglöcher herum, während mir ungläube Gesichter nachschauen. Ziel!!! Ein Auto bringt mich nach Agouti, einem kleinen, lieblichen, ruhigen Ort, dort ist unsere Herberge, mit herrlichem Blick über die Schlucht des Assif-N-Arous, ein enger Canyon aus leuchtendem Sandstein.
Abendessen. Ich schicke Gerald, der mir „Ride to Agadir“ ins Ohr gesetzt hat, dreimal los, Melonenstücke zu holen. Ich mag sonst nichts essen.
Die Medizinercrew „Exil Medics“ hat Sprechstunde: Von den 20 Marokkanern sitzen alle im „Wartezimmer“ Der Rest der Läufer, etwa 30 Westler, hält sich zurück. Adam ist der Chef der Medic-crew. Er weiß, dass sich Läufer gerne ins Dunkle verziehen und heimlich leiden. Also kommt er zu meiner Koje, wir besprechen weitere Maßnahmen.