Wenn Lahcen 9:30 Uhr sagt, dann stelle ich den Wecker auf 11 Uhr, habe dann noch drei Stunden, um mir die Laufklamotten anzuziehen. Zum Frühstück gibt es wie immer den Käse „La Vach qui rit“, eine Erfindung aus dem ersten Krieg. Nach dem Krieg wurde aus Wachkyrie die lachende Kuh, ein Weichkäse.
Der Jbel Bani, übersetzt soviel wie Mauerberg, zieht sich südlich des Hohen Atlas durch Marokko bis zur Küste nach Agadir. Hier wird die nächsten Tage unser Laufrevier sein.
Gegen 14 Uhr bin ich dann im Ksar Tinsouline, dem alten Wehrdorf, und werde vom Filmteam des m2 erwartet. Wir besprechen die Szenen. Es geht um das Leben von Lahcen, wie er entdeckt wurde und so. Ich schlage vor, Lahcen zu doubeln, wie er aussieht, wenn er das Laufen aufgibt und Bier trinkt.
30 km stehen heute auf dem Programm, Ziel wird die Schule in Boutyousse sein, ein Hilfsprojekt der Ahansal-Brüder. Wir werden dort , nordwestlich von Zagora, 400 Bäume pflanzen.
Es gibt kein Konzept für den Lauf und so nehme ich mit, was ich für eine Silvesternacht und alle Abende davor brauche. Wer mich kennt, kann sich vorstellen, dass ich weit mehr als 16 kg auf dem Buckel habe, als wir das letzte Foto vorm Panneau de Timbouktou schiessen.
Wenn das Kamerateam dreht, dann drehen wir auch, und zwar auf. Wir laufen wie Models. Model ist eindeutig Lahcen, der einen Laufstil hat, von dem man nur träumen kann. Die kleine Aziza hält locker mit, Samir ist ein lieber Marokkaner, hatte Platz vier beim MdS 2015 gemacht. Gisi hat mehr Gepäck als ich, Khadija läuft nur mit Sonnenöl, Ismail ist mit geschultertem MTB hinter uns.
Eigentlich ist das Fernsehteam wegen Aziza und Samir hier, doch irgendwann merken auch die, dass ich bekloppter bin. Lahcen findet das super, tanzt durch die Wüste, während ich Interviews gebe.
Wüste ist gut, hier werden Melonen angepflanzt, Wassermelonen. Wasser ist kein Problem, das gibt es in 30 Meter Tiefe und ist uralt. In wenigen Wochen verlassen 600 Schwerlaster (täglich!) diese Gebiet, transportieren Wassermelonen über den dieselgeschwängerten Hohen Atlas. Zurück bleibt eine düngerverseuchte Landschaft, schwarze Plastikfolie und Unmengen von Wasserleitungen. Wer weiss denn in Deutschland überhaupt noch, wann es heimische Wassermelonen gibt? Die im Februar sind doch auch bestimmt vitaminös! Mohamad flucht über diese Neubauern, die ihr Land für europäisches Geld prostituieren.
Nach 30 km kommen wir nach Boutyousse. Die Kinder und unglaublich viele Kisten mit Pflanzen-Setzlingen warten schon auf uns. Rachid Elmorabity und Mohamad Ahansal dürfen nicht fehlen. Dazu viel Prominenz, viel Politik. Wir müssen Bäume pflanzen, Tamarisken und Bodendecker. Die Bewässerungsanlage ist top. Alles finanziert von den Ahansal-Brüdern. Die Kinder sind süss, sprechen mit den Pflanzen, ich mit dem Kamerateam. Ich buddel zwei Bäume vor laufender Kamera ein, die Fingernägel sind wund, ich bin allergisch gegen Erde, schwitze wie Sau, das ist jetzt Öko genug. 400 Pflanzen sind ne Menge. Ich verziehe mich ins Klassenzimmer.
Früher letzte Reihe mit Milchtüte, heute erste mit Traubensaft. Bis 12 Jahre wird man hier im einzigen Schulraum der Wüste unterrichtet, alle Klassen in einem Raum. Wer Glück hat, kommt danach in die Oberschule. Dafür muss die Familie aber nach Zagora ziehen. Die Provinzregierung baut Häuser, „verleiht“ sie an die Wüstenfamilien, denn Zinsen darf man hier nicht nehmen. 0 x 0 steht an der Wand, 5 x 0 ist auch null. Man muss hier bei Null anfangen. Die Ahansal-Brüder, nicht der Staat, machen hier die Aufbauarbeit. Die Kinder, der Lehrer und die 400 Pflanzen hängen am Tropf der zwei Laufbrüder, finanziert durch diese und ähnliche Laufveranstaltungen.
Als die Sonne untergeht, verziehen sich die meisten irgendwohin auf einen Berg und denken über den vergangenen Tag nach. Mohamad und Lahcen graben weiter die Pflanzen ein. Irgendwann setzt sich Samir neben mich. Wortlos schauen wir der Sonne und den fröhlichen Kindern hinterher.
Ildrim kocht gut. Dann sitzen wir am Lagerfeuer, Wasserkanister dienen als Trommeln. Vielleicht habe ich wieder „Am Rande der Donau“ gesungen. Wir pennen in Berberzelten, Ildrim ist schon siebenmal von Skorpionen gestochen worden, Lahcen zweimal. Deshalb musste er den MdS abbrechen. Irgendwas leckt mir in der Nacht die Füsse. Ich hau mit dem Rucksack drauf. Angeblich hätte ich geschnarcht.
Du kannst mich morgens falten! Der Tee strotzt vor Zucker, Marokko hat den höchsten Zuckerverbrauch pro Kopf der Welt. Nur der Kaffee ist gut. La Vach qui rit schmeckt nicht, ich habe Presskopf, nicht vom Rotwein, sondern aus der Dose. Mustafa, der Fahrer, fragt mich, ob wir uns heute den Tag teilen. Angeblich stehen 20 Kilometer an. Ich bin längst Afrikaner und teile nicht, schon gar nicht Kilometer!
Auf der Ladefläche des Kleinlasters stehen eine Handvoll Kinder, die zur Schule gebracht werden. Hier gibt es keine Helicoptereltern, statt X5 mit Allrad nimmt man einen älteren Transporter mit Bodenfreiheit und Tiergatter.
Die Kinder stellen sich wortlos im Klassenzimmer auf, beginnen ein fröhliches Lied. Ich stelle mich mit Kaffeeglas dazu, brumme den unbekannten Text mit. Ich bin glücklich, bis das Kamerateam mich zur Performance ruft, und die Kinder zum Pflanzen aufs Feld schickt. Samir ist nassgeschwitzt, nein, nicht vom Lauftraining, er pflanzt seit dem Morgengrauen.
Wir drehen jetzt einen Film: Lahcen, als 12jähriger beim MdS, als nichtzahlender Mitläufer. Irgendwann wirft er seinen Djallabah (Mantel) ab und wird 10facher Seriengewinner. Das Drehbuch ist gut. Ich sehe es vor mir, wie der kleine Lahcen sich im Lauf verwandelt.
Der erste Knilch ist zu klein, der zweite passt als Double, braucht aber lange, um uns einzuholen, sodaß wir einige Dreheinstellungen brauchen. Es macht Spaß, ich laufe rauf und runter. Irgendwann sagt niemand mehr „stop“ und so laufe ich weiter und verstecke mich wie ein Kind hinter einer Akazie. Ameisen wursteln in den Stacheln des Baumes. Es ist ein Geben und Nehmen. Ameisen beschützen, die Akzie gibt Honig. „Pas bien cachée“ sagt Samir im Vorbeilaufen und unterbricht mich in meiner Naturstudie.
Es sind nun Stunden unbeschwerter Kindheit, ein Leben in grenzenloser Freiheit. Mustafa steht mit seinem Auto am Rande der Melonenebene. Wir sind fertig und steigen schweigend ein, Samir und Lahcen laufen weiter.
Im Camp angekommen, gehe ich sofort zu der Palme, die Mark vor zwei Monaten, vor dem UTMES gepflanzt hat. Er weilt nun in den ewigen Laufgründen. Eine Palme lebt länger als der Mensch, vor allem, wenn sie gut gewässert wird.
Hoch oben auf der Düne schaut man der Sonne und den Dromedaren hinterher. Zum Abendessen gibt es Couscous, das freut die kleine Wüstenspringmaus mit den langen Hinterbeinen, die keine Scheu vor Menschen kennt und jeden Couscouskrümel einsammelt. Es ist allemal besser hier, als das heimatliche Fernsehprogramm und dann auch noch ohne Gebühr und viel lebhafter als Rosamunde Pilcher.
Im Camp bezieht jeder ein 8 Bett-Zelt, die Auswahl ist groß, die neuen Matratzen traumhaft. Schakale meckern, kleinere Wesen plündern die Nussdose mit den salzigen Mandeln vom Pennymarkt. Meine Art Entwicklungshilfe halt.