Schwer atmend nehme ich Stufe für Stufe. Jede ist mit bahnschwellenähnlichen Balken gesichert, jedes Mal muß ich die Füße ordentlich hochnehmen. Bahnschwellenähnlich ist inzwischen auch meine Dynamik, lokomotivenähnlich geht mein Atem. Die Lautstärke nimmt immer mehr zu. Dann bricht er durch die Bäume in mein Visier: Der kleine Riesach-Wasserfall. Ich bin begeistert. Und habe keine Ahnung, daß sich diese im Verlauf der nächsten anderthalb km noch um mehrere hundert Prozent steigern wird.
Rein lauftechnisch gesehen hatten wir uns ja schon ein wenig angenähert, die Ösis und ich. Z. B. hatten mich die Einsätze in Füssen und Bad Füssing jeweils bis auf wenige Meter an die Staatsgrenze herangeführt. Doch während mich die Schweiz schon mehrfach im heldenhaften Kampf gegen Zeit und Höhenmeter erlebt hat, steht mein läuferischer Ersteinsatz bei den Beutegermanen noch immer aus. Das allerdings wird sich in diesem und nächsten Jahr nachhaltig ändern. Austria, wir kommen!
Wenn Elke und ich für zwei Wochen verreisen, ist das, ohne zumindest einen anständigen Lauf mitzunehmen, kaum vorstellbar. Und wenn man schon mal da ist, kann man doch evtl. auch noch einen zweiten…? Entsprechend durchforsten wir den österreichischen Laufkalender und werden tatsächlich fündig: Hart am Rande der Steiermark zum Bundesland Salzburg hin in Schladming hat man vor wenigen Jahren einen neuen Erlebnis-Wanderweg ausgewiesen und mit erheblichem Aufwand hergerichtet. Von Schladming ausgehend, führt er 14 km lang und 610 Höhenmeter hinauf durch die Talbachklamm, vorbei an der alten Gföllermühle, den Naturschutzgebieten Toteisboden und Tettermoor, zum Riesachfall, dem höchsten Wasserfall der Steiermark, dann entlang des Alpinsteiges über Treppen und Brücken durch die Höll zur Gfölleralm am Riesachsee.
Es muss nicht immer Skifahren sein und was wanderbar ist, geht auch zu laufen, dachte sich der Laufclub Schladming. Und schon war der Wilde Wasser Lauf geboren. Gut, zum Abräumer bei den Teilnehmerzahlen ist er in den bisherigen sechs Durchführungen nicht geworden (an einer dreistelligen Zahl Finisher wird noch gearbeitet), aber daran kann und soll dieser Bericht etwas ändern.
Was laufbar ist, muss man auch wandern können, denken wir uns und machen uns nach unserer freitäglichen Ankunft am Samstagmorgen von Radstatt aus direkt auf die Socken. Dort sind wir bei Maria und Hans Mayrhofer im Ferienbauernhof Arnoldsgut so herzlich aufgenommen worden, dass wir eigentlich am liebsten dageblieben wären. Wirklich noch nie hatten wir eine schönere Ferienwohnung, alles von Hans komplett selbst getischlert. Mit dicker Kamera bewaffnet wollen wir uns trotzdem die Strecke schon mal ansehen und solche Fotos schießen, für die man während eines Laufs nicht so optimal Gelegenheit hat. Vielleicht wandert ja das eine oder andere davon später in den Laufbericht.
In Schladming suchen wir den Einstieg, betreten hilfesuchend das nächste Sportgeschäft und landen einen Volltreffer. Der scharfe Sepp, nein, Sepp Scharf, der Eigentümer, ist einer der Organisatoren und stillt bereitwillig wie geduldig unseren Wissensdurst. Dank seiner Weisheiten fahren wir daher ins Untertal bis zum Parkplatz 1 (dem letztmöglichen) und durchwandern schon ein erstes Mal die Höll. Der Wahnsinn!
Sehr sportliche Menschen gibt es übrigens in dieser Gegend, und das nicht nur skifahrenderweise. Nein, nicht wirklich überraschend wird offensichtlich auch das Laufen sehr gerne betrieben, wie das kurz hinter Radstadt („Die Sportstadt“) beheimatete Laufhaus beweist. Allerdings beginnt die Sportstunde dort erst um 16 Uhr, das ist mir dann doch zu spät. In Obertauern hingegen hat's ein Freudenhaus. In dem werden allerdings Sportsachen verkauft. Da soll sich noch einer auskennen.
Nach 81 Männlein und Weiblein 2014 machen sich heuer 62 Personen (78 waren vorangemeldet, drei meldeten nach) auf, die Bergwelt zu erobern. Die Schladminger Läufer pflegen eine Partnerschaft mit dem Team Naunheim aus Wetzlar, der Schladminger Partnerstadt, daher sind heute wieder etliche Hessebebbel, nämlich neun, am Start zzgl. Fanclub. Leider erleben auch die kein besseres Wetter als ich: Eine schwere Nebelwolke liegt über uns, seit gestern regnet es Bindfäden. Das trübt zwar nicht meine Laune, aber die Sicht und dementsprechend die Fotoausbeute lassen deutlich zu wünschen übrig.
Der Start findet um exakt 9:09 Uhr am Hauptplatz statt, offensichtlich will man Kollisionen mit den Kirchgängern um 9 Uhr vermeiden. Hier gibt es auch die Startnummern, unmittelbar vor dem Start, dann erst wird auch gezahlt. Sehr gerne genommen wird der erste heiße Tee, der angesichts von höchstens sechs Grad zur Freude zahlreicher Teilnehmer schon angeboten wird. Selbstauferlegten Stress brauche ich heute keinen, daher gibt es keine persönliche Zeitvorgabe, die ohnehin niemandem nützt. Ich reihe mich ziemlich hinten ein und harre der Dinge, die da kommen mögen.
Vorne wird gerast, als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her, hinten geht es gewohnt deutlich gemütlicher zur Sache. Noch in Schladming geht es leicht bergauf, dann kommt der Einstieg in den Wilde Wasser Weg und wir biegen in die Talbachklamm ein. Auf breitem Schotterweg kommen wir, stetig bergauf und parallel des reißenden Talbachs, gut voran. Schon bald passiert das, was ich unbedingt vermeiden wollte, aber unmöglich vermeiden kann: Die Kamera inkl. Linse wird nass, ich habe nichts Trockenes mehr zum Abwischen dabei, entsprechend ist die Qualität der Bilder. Es regnet weiter ohne Unterlass.
Zügig komme ich voran, schon bald ist das Untertal mit der gleichnamigen Ortschaft erreicht. An einigen Häusern haben sich tatsächlich ein paar unentwegte Fans eingefunden, denen dafür umso mehr Dank gebührt, denn so schön ist es nicht, im kalten Regen auszuharren. An der Gföllermühle vorbei, der letzten von einstmals 40 im Untertal, geht es weiter bergwärts. Das zu durchquerende Naturschutzgebiet Toteisboden ist ein vor 10.000 Jahren entstandenes Naturphänomen: Nachdem Felsstürze auf Gletschereis gefallen waren, schmolz das darunterliegende Eis ab. Es entstanden komplexe Kanal- und Belüftungssysteme, die während des ganzen Jahres annähernd stabile Temperaturen erzeugen – weshalb sich die ausströmende Luft im Sommer kühl und im Winter warm anfühlt. Das Ergebnis ist eine einzigartige Flora, die wir im Vorbeihuschen bewundern dürfen.
Die Untergründe wechseln ständig hin und her zwischen Sand, Asphalt, Holzbrücken und teilweise Naturboden. Natürlich sind die Füße längst nass geworden, die wasserfesten Schuhe liegen gut zuhause. Die erste von zwei Labestellen kommt bei etwa km 6,5, es gibt Iso, Wasser, Bananen und Schokolade. Der gute Mensch vor Ort sorgt nicht nur für Nachschub, sondern auch für das erste Heldenfoto, das man mir freundlicherweise neben einigen anderen direkt nach dem Lauf zuschickt. Vorteil des Reporters!
Vorbei an der Mautstation (für unsere Begleitungen gab es heute erfreulicherweise einen Freifahrtschein) laufen wir öfter parallel zur Fahrbahn auf einem Wirtschaftsweg, und nach dem Almgasthaus Waldhäusel mit Teich gelangen wir schließlich nach ziemlich genau 12 km zum letzten Parkplatz. Hier verpflegen uns nette Mädels ein zweites Mal. Was danach folgt, ist die Hölle. Genau genommen die Höll, also der „Alpinsteig durch die Höll“. Und genau der ist es, der aus diesem Lauf etwas ganz Besonderes macht, denn die letzten beiden km sind Horror und größtes Vergnügen zugleich. Ganz abhängig davon, ob Du Dich vorher verausgabt, oder wie der Autor die Strecke vernünftig eingeteilt hast.
Haben sich die ersten dreihundert Höhenmeter auf zwölf km verteilt, kommen die zweiten geballt auf deren knapp zwei. Im ständigen Wechsel zwischen mit dicken Holzbalken gesicherten Naturstufen mit ständig wechselnden Höhen und verschiedenen Stahltreppen und -leitern kommt wohl auch der stärkste Läufer an seine Grenzen. Obwohl – ein Kilian Jornet fliegt wahrscheinlich auch hier hinauf. Und auch hinunter, denn teilweise folgen auch Abschnitte steilst bergab. Wehe dem, der hier zu schnell macht und stolpert! Immer wieder schaue ich vor und zurück, selbst bei diesem Schietwetter ist es unglaublich, was einem hier geboten wird. Ob es so etwas nochmal woanders gibt?
Begleitet von der parallel verlaufenden Riesach, der in zwei Stufen über 140 m lautstark zu Tal stürzt, geht es immer höher über Stiegen, Treppen und kleine Felsabschnitte weiter und plötzlich kommt dann der Oberhammer: Eine 50 m lange Hängebrücke aus Stahlseilen, über die ich schwankend die andere Seite erreiche, an der eine weitere gute Seele unvergleichliche Fotos schießt. Weitere Treppen, kurze Wegabschnitte und Stiegen folgen bergauf, dann liegt sie vor mir und ich weiß, dass es endlich geschafft ist: Die Gfölleralm auf 1.338 m Höhe. Aber auch ich bin geschafft. Mit meinen 1:32 Std. finde ich mich gar nicht so langsam, um dann zu erfahren, dass der Sieger stolze 30 Minuten eher oben war und damit einen neuen Streckenrekord aufgestellt hat.
Im Ziel gibt es eine tolle, reichhaltige und abwechslungsreiche Zielverpflegung, dann entschwinde ich in den rückwärtigen Bereich der Hütte, der üblicherweise wohl als Lagerraum genutzt wird. Hier kann ich mich im Dunst der Abgase eines Stromaggregats umziehen, die am Schladminger Hauptplatz abgegebene Wechselkleidung steht bereits parat. Egal, Hauptsache es ist warm und trocken. Und dann gibt’s sogar noch eine leckere Suppe auf Veranstalterkosten, die wir u.a. im extra aufgestellten Zelt einnehmen können. Das ist wirklich nicht von schlechten Eltern. Und als ich sehe, welch schönes „Fresspaket“ die jeweils ersten drei Frauen und Männer erhalten, werde ich ob der offensichtlich großzügigen Sponsoren fast schon etwas neidisch. Als auch ich im Rahmen einer Verlosung noch ein paar Flaschen lokalen Bieres in die Hand gedrückt bekomme, bin ich restlos beeindruckt. Gerne schleppe ich die über die zweieinhalb km über einen alternativ zur Höll verlaufenden Forstweg zu Tal, wo unser Auto steht.
Trotz der heute widrigen Umstände bin ich total begeistert von diesem Lauf, einem echten Juwel unter den kürzeren Bergläufen. Sein absoluter Höhepunkt, ja, fast schon ein Alleistellungsmerkmal, sind die beiden unvergleichlichen letzten km. Sehr schade ist halt, dass die Fotos so schlecht geworden sind, aber das Wetter kann man halt leider immer noch nicht bestellen. Der nächste Tag beglückt uns folgerichtig mit einem stahlblauen Himmel, manchmal ist Petrus ungerecht. Ich hoffe sehr, dass es im kommenden Jahr deutlich mehr Menschen geben wird, denen dieses Laufabenteuer – vielleicht während eines schönen Herbsturlaubs? - die schlappen zehn Euro wert sein wird.
Streckenbeschreibung:
Knackiger Berglauf über 14 km mit 610 Höhenmetern.
Startgebühr:
10 €, ab dem 08.10.2015 15 €
Verpflegung:
Zwei Labestationen unterwegs bei 6,5 und 12 km (Wasser, Iso, Bananen, Schokolade).
Zuseher:
Tatsächlich einige unterwegs trotz des besch... Wetters.