„Weißt du, Steven, wir sollten dieses Jahr Weihnachten wirklich mal zu meinen Eltern fahren.“
„Ines, bitte nicht. Du weißt, ich habe bis Heilig Abend Dauerstress, da will ich nicht noch vier Stunden im Auto sitzen und in die Lüneburger Heide fahren.“
„Du armer Postzusteller“, um Ines Schmollmund legte sich das typisch spöttische Grinsen. „Deine jetzige Runde kannst du um 12:00 Uhr fertig haben.“
Da hatte Ines recht. Nachdem ich Anfang des Jahres abgeurteilt wurde, blieb mir die städtische Runde in Putbus verwehrt. Ich wurde quasi in die Provinz verbannt und stellte die Post fast nur noch in den Dörfern Nadelitz, Vilmnitz, Freetz, Groß Stresow, Preetz, Dummertevitz, Gobbin und Neu Reddevitz zu. Das sollte mich wohl zur Besinnung bringen und mich von dummen Gedanken abhalten. Flüchtlinge und schon gar nicht Fathma gehörten jedenfalls nicht mehr in meinen Zustellungsbereich. Aber ich schwieg vor Ines und schlürfte mürrisch von meinem Frühstückskaffee.
„Wenn wir gleich losfahren, sind wir rechtzeitig zur Bescherung da“, hakte Ines nach. „Da die Straßen wahrscheinlich leer sind, brauchen wir nicht mal vier Stunden.“
„Wahrscheinlich“, fuhr ich verärgert auf. „Und was ist mit dem Wetter? Es war dieses Jahr schon im November frostig. Willst du bei Glatteis und Dunkelheit auf die Straße?“
„Ausreden, das sind immer deine Ausreden. Seit zehn Jahren war ich nicht mehr Weihnachten zu Hause.“
„Dein und unser zu Hause ist hier in Putbus, dachte ich jedenfalls immer.“
„Ja sicher, aber ich dachte, nach all dem, was wir durchgemacht haben…“
Nicht auch das noch, Ines fing zu schluchzen an. Aber wieder hatte sie Recht. Letztes Jahr waren wir genau am Heiligen Abend auseinander gegangen. Sie hatte das Fest der Liebe mit Holger, meinem Chef, gefeiert. Und ich feierte Weihnachten mit Fathma und den Flüchtlingen im Pädschen, im ehemals Fürstlichen Pädagogium zu Putbus, welches noch immer einige Flüchtlinge beherbergte. Aber Silvester war Ines wieder zurückgekommen. Und ich? Ich nahm sie mit offenen Armen auf, denn ich wollte im neuen Jahr versuchen, von meiner irrigen Verliebtheit zu der Mutter zweier Kinder und der Ehefrau eines Syrers loszukommen. Und danach die Gerichtsprozesse. Ines hatte zu mir gestanden und ich war mit einem blauen Auge davongekommen.
Dass ich nicht umgehend vom Dienst suspendiert wurde, hatte vor allem damit zu tun, dass keiner der Geschädigten gegen mich Klage erhoben hatte. Es war, als hätten die Leute ein Einsehen. Ich stahl die Postzustellungen ja nicht aus Eigennutz, sondern stellte sie bedürftigen Flüchtlingen, vor allem Kindern, zu. Weiter wurde mir zugestanden, an Weihnachten unter Dauerstress gestanden zu haben. Das stimmte für alle Postzusteller und es war nicht mal ein medizinisches Gutachten nötig. Mein Chef Holger bekam auch sein Fett weg, weil er meine Taten nicht rechtzeitig unterbunden und gar gedeckt hatte. Und da wurde Holger angelastet, dass er das nur seiner eigenen Gewissensberuhigung wegen getan hatte. Denn Holger war dabei, mir, seinem Angestellten, die Frau auszuspannen. Mit seinem Verhalten habe Holger sich sein Gewissen reinwaschen wollen. So etwas sei eines Postdienststellenleiters nicht würdig. Holger war kein Dienstellenleiter mehr, er stellte jetzt selber wieder Post zu, in der Kreisstadt Bergen. In Bergen oder Binz würde ich vielleicht auch bald Post zustellen dürfen, bei guter Führung, nach Ablauf meiner Bewährungsstrafe im nächsten Jahr.
Gerade wollte ich Ines Tränen nachgeben, als uns Kleinkindgeschrei aufschreckte. Wir sprangen beide wie von der Tarantel gestochen auf und stürzten aus der Küche und über den Flur ins Kinderzimmer. Unser zwei Monate alte Sohn Jonas lag in seiner Wiege und schrie, wahrscheinlich hatte er Hunger. Aus den Augenwinkeln erkannte ich noch, was ihn geweckt hatte. Nebenan die Tür zu unserem Schlafzimmer stand halb offen. Das Schlafzimmerfenster war ebenfalls wie jeden Morgen zum Lüften geöffnet. Aber die Gardine, die Ines immer wieder zuzog, war aufgezogen. Ich lief zum Fenster und sah hinaus, sah über den Vorgarten bis zur Straße hin. Ich sah einen dunklen Schatten in einen hellen Sprinter - ähnlich dem unserer Postfahrzeuge - springen, hörte gleichzeitig eine Tür zuschlagen und den Motor aufheulen. Reifen quietschend jagte der Sprinter in den noch dunklen Morgen die Putbusser August Bebel Straße entlang und davon.
„Alles in Ordnung?“, fragte Ines.
„Ich weiß nicht“, sagte ich und sah mich um. Meine Frau stand auf der Türschwelle, mein Sohn säugte an ihrer Brust. Unwillkürlich lächelte ich die beiden an. Auch Ines lächelte. Nach ein paar Momenten erst riss ich mich von dem Anblick und dem Fenster los. Instinktiv ging ich nebenan ins Wohnzimmer. Und sah das Maleur.
„Ines“ rief ich erschrocken, „der Fernseher, die Stereoanlage, dein Laptop – sind weg!“
„Oh Gott, mein iPhone?“
Ich lief auf den Flur, zum Telefontisch: „Ne, Ines unsere Handys sind noch da.“
„Gott sei Dank.“ Ines drehte mit Jonas auf dem Arm ab und ging in die Küche zurück.
Ich fragte mich, wie sie nur so ruhig bleiben konnte? Weil ihr iPhone nicht gestohlen wurde? Aber nein, wahrscheinlich blieb sie wegen Jonas ruhig, Ich aber war hinausgelaufen und schaute die Straße hinab.
„Steven, Steven…!“ Mein Nachbar Günter kam auf mich zugelaufen. „Haben sie bei euch auch eingebrochen? Meine Fotoapparatausrüstung samt Computer ist weg. Verdammt, diese scheiß Flüchtlinge.“
„Flüchtlinge?“
„Ja doch, sogar Frauen. Die waren jedenfalls verschleiert, so dunkles Zeug bis ins Gesicht, alles zu.“
„Du meinst so richtig vollverschleiert?“
„Ja, ganz sicher.“
„Mm.“ Das mochte stimmen. Ich hatte ja auch so einen stofflich wehenden dunklen Schatten gesehen. Aber Flüchtlinge und Frauen?
Wir riefen die Polizei an und nach zehn Minuten war ein Streifenwagen da. Angeblich hatten sie nach unserer Beschreibung am Telefon gleich eine Fahndung rausgeben. Aber was brachte das schon. Erstmal wurden unsere Wohnungen inspiziert und die Aussagen aufgenommen. Es handelte sich wahrscheinlich um eine Einbrecherbande, die seit zwei Wochen ihr Unwesen auf Rügen trieb. Alle paar Tage wurde in sogenannten ruhigen aber nicht abgelegenen Gegenden eingebrochen. Die Täter schlugen abends oder morgens in der Dämmerung zu. Da waren die Straßen noch oder schon nicht ganz leer. So fiel der Sprinter nicht weiter auf. Gern wurde durchs Fenster eingestiegen. Manchmal auch durch eine Keller- oder Verandatür. Dreist war, dass die Täter sich nicht daran störten, das die Bewohner, so wie bei uns, zu Hause waren. Und Günter war nicht der erste Augenzeuge, der einen der Täter – oder eine der Täterinnen - als Vollverschleiert ausgemacht hatte.
Ich begann diesen Tag etwas später zu arbeiten, was nicht weiter schlimm war, da ich meine Route eh durchziehen musste und so halt eine Stunde später als sonst Feierabend hatte. So fuhr ich erst gegen 17 Uhr, von Vilmnitz und Lonvitz her kommend nach Putbus rein. Ich überquerte die Bahnschienen und fuhr rechts an die Tankstelle ran. Der Postsprinter sollte ja gleich für morgen frisch aufgetankt sein.
„Hallo Iris“, grüßte ich die Blondine an der Kasse und schob ihr meine letzte Zustellung für heute in Form einiger Rechnungen und Werbebriefe zu.
„Steven, stimmt das, dass sie auch bei euch eingebrochen haben?“
„Ja, leider…“
„Sie haben es im Radio gebracht und auch erzählt, die Flüchtlinge sind’s.“
„Echt?“ Wir Postzusteller durften im Auto kein Radio hören und so war ich nicht aktuell informiert.
„Ja doch, also nichts als Undank mit denen. Dafür, dass wir sie aufnehmen, beklauen sie uns noch.“
„Tja, mach‘s gut, Iris.“
„Bis morgen, Steven.“
Ich fuhr gleich nebenan die Marienstraße hoch und parkte den Sprinter im Carport neben dem Postamt ein. Mein neuer Chef war eine Frau. Susanne war 26 Jahre jung und immer locker gut drauf.
„Mensch Steven, sieh zu, dass du Feierabend machst. Die vom Fernsehen waren schon hier. Ich habe denen gesagt, dass du ab 17 Uhr zu Hause bist. Wahrscheinlich warten sie schon auf dich.“
„Echt?“, hörte ich mich zum zweiten Mal fragen.
Das mit dem Fernsehen habe ich mir auch nach der Sache mit dem Flüchtlingsbeschenken letztes Jahr Weihnachten eingebrockt. Dreimal hatten sie mich interviewt und auch Berichte im Fernsehen sowie im Radio und in der Zeitung gebracht. So erlangte ich als Flüchtlingshelferweihnachtsmann regionale Berühmtheit. Mich beschämte das einerseits, da sie so mit dem Samaritergehabe übertrieben hatten. Aber es schmeichelte mir auch und schließlich nutzte ich auch das, um mich zu rehabilitieren.
Ich ging also rasch die Marienstraße hinauf und am Circus-Platz entlang, um über den Gränensteig nach Hause in die August-Bebel-Straße zu gelangen. Ich kam aber nicht soweit, denn vor dem Pädschen, dem ehemaligen fürstlichen Pädagogium und jetzigem Flüchtlingsheim, hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Auch die vom Fernsehen waren dabei. Etwas abseits stand der Streifenwagen von der Polizei.
„Ausländer raus!“
„Weg mit dem Diebespack.“
„Asylanten runter von Rügen…“
Dergleichen Parolen wurden von den etwa 50 Personen, die meisten Einheimische, die mir bekannt waren, gegen das Pädschen gegrölt. Ein paar Flüchtlinge zeigten sich am Fenster, blickten erschrocken und unsicher hinaus, gestikulierten ihrerseits aufgebracht.
Auch ich war erschrocken, vor allem schreckte mich die grobe, ja beinahe gewaltbereite Menge vor dem Pädschen ab. Nicht nur die Rufe, vor allem die wilden bis bösen Blicke und Gesten, die geschwungenen Fäuste widerten mich an. Gingen so Menschen mit Menschen um, in dem kleinen und feinen Putbus?
Unschlüssig stand ich vor der Einbiegung in den Gränensteig, da wurde die Moderatorin vom Fernsehen auf mich aufmerksam. Sie kannte mich noch von den Berichterstattungen über mich Anfang des Jahres.
„Steven, Sie sind der Postler, der die Flüchtlinge hier im Pädschen letztes Jahr zu Weihnachten mit unterschlagenen Postzusendungen beschenkt hat. Heute Morgen wurde nun bei Ihnen eingebrochen. Sie wurden selbst bestohlen. Was halten Sie von der Sache?“, fragte mich die aufgedonnerte Moderatorin, deren Name mir gerade nicht einfällt, und hielt mir das Mikro vor die Nase. Auch der mobile Kameramann zoomte direkt auf mich.
„Ich glaub das einfach nicht“, sagte ich mehrdeutig.
„Sie glauben nicht, dass die Leute, die sie im letzten Jahr beschenkt haben, sich jetzt selbst beschenken, indem sie auf Einbruchstouren gehen?“
„Nein, das kann ich auch nicht glauben. Aber dieser Mob hier. Ich glaube, ich spinne.“
„In der Tat“, entgegnete die Fernsehfrau und wurde selbst groß ins Bild genommen. „Es ist ein unangemeldeter Aufmarsch, eine spontane Demonstration.“
„Ja, wo sind wir denn hier?“, fragte ich aus dem Off.
„Nachdem in der letzten Woche einige Insulaner in Bergen demonstriert hatten, demonstrieren sie zum zweiten Mal auf Rügen, zum ersten Mal in Putbus“, berichtete die Moderatorin im nüchternen Kalkül. „Der Unwille der Einheimischen richtet sich gegen diejenigen, die zu uns kamen um Obdach und Hilfe zu bekommen. Die Leute hier klagen die Flüchtlinge vor allem des Diebstahles an.“ An ihre Seite war ein großer Mann in stattlichen Lodenmantel getreten „Neben mir steht Ernst Klöckner, ein Bergener Bauunternehmer. Herr Klöckner, warum glauben Sie, dass die Flüchtlinge hier in Putbus hinter der Einbruchsserie stecken?“
„Was ich glaube tut hier nichts zur Sache“, hob Klöckner selbstbewusst an. „Aber lassen Sie die Fakten sprechen. Seit über einem Jahr haben wir einige tausend Flüchtlinge auf Rügen. Die Insulaner haben ihnen geholfen, haben Geld und Gegenstände gespendet. Es ist so etwas wie eine humane Integration angelaufen. Aber es ist aus dem Ruder gelaufen. Ich sage Ihnen warum? Weil die politisch bürokratischen Mühlen zu langsam und zu schwach mahlen. Da werden die Flüchtlinge monatelang in überfüllten Unterkünften eingepfercht. Es werden Anträge aufgenommen, Überprüfungen werden vor sich hergeschoben. Aber alles nur halbherzig und ungenau. Und es dauert viel zu lange, bis die Flüchtlinge zu statistisch erfassten Asylanten oder in einigen Fällen auch wieder abgeschoben werden. Ich kann den Flüchtlingen keinen Vorwurf machen. Sie wollen hier arbeiten und wohnen, wollen ihre Kinder zur Schule schicken, sie wollen sich integrieren. Aber sie werden von einem überbürokratischen Reglement bevormundet. Mit welchem Ergebnis? Einige Flüchtlinge und Einheimische verlieren die politisch so hoch angepriesene Geduld. Die einen fangen an zu klauen, die anderen sind darüber aufgebracht. Es ist nicht schön, aber es ist ein Fakt.“
„Sie geben den verantwortlichen Politikern die Schuld?“
„Nein, uns ja. Nein, weil es unserem zu laxen und überbürokratischen System geschuldet ist. Ja, weil irgendein Entscheidungsträger oder irgendein Amt in Berlin oder in Schwerin tausende Flüchtlinge nach Rügen geschickt hat. Es ist ein Fakt: dreitausend Flüchtlinge sind zu viel für unsere Insel!“
„Steven, was sagen Sie dazu?“
„Das der Aufmarsch hier illegal und beschämend ist. Wenn die Menschen so weiter machen, haben wir bald wieder das braune Gesockse an der Macht? Wollen Sie das, Herr Klöckner?“
„Nein, das will ich nicht. Ich will schnellere und tragbarere Entscheidungen. Es wird so viel Geld in die Bürokratie verschleudert. Würde das in schnelle und echte Integration eingesetzt, hätten alle mehr davon. Die Leute würden nicht demonstrieren, die Flüchtlinge würden nicht stehlen.“
„Wer sagt Ihnen denn, dass die Flüchtlinge hinter der Einbruchserie stecken?“ hörte ich mich fragen.
„In der Tat ist das nicht erwiesen“, entgegnete Ernst Klöckner, der Bauunternehmer aus Bergen auf Rügen. „Aber sehen Sie, das Fass ist übergelaufen. Der Unmut der Leute sucht sich sein Ventil.“
„Das ist ein Scheißventil.“
Dieser letzte Satz von mir wurde in der abendlichen Nachrichtensendung nicht ausgestrahlt. Statt dem gab es ein Statement eines Sprechers vom Schweriner Innenministerium, das zum einen beschwichtigte und schönredete, zum anderen aber auch den aufgebrachten Mob scharf verurteilte. Die da oben merkten mal wieder nicht, dass dergleichen die rechten wie die linken Radikalen im Land noch mehr anstachelte.
„Was meinst du Ines, waren das Flüchtlinge heute Morgen?“
„Kann schon sein. Aber ich glaub es ehrlich gesagt nicht.“
„So einen Nikab oder wie die Vollverschleierung sich nennt, kann sich jeder anziehen“, sagte ich.
„Ja, und dass Frauen einbrechen und so recht schwere Sachen wegtragen, ist untypisch.“
„Genau, Ines.“
„Frauen hätte eher mein teures iPhone mitgenommen.“
„Ich glaube, dass jemand anders den Flüchtlingen die Einbruchserie anlasten will.“
„Wahrscheinlich, aber bewiesen ist das nicht.“
„Vielleicht stecken dieselben Leute dahinter, die heute gegen die Flüchtlinge demonstriert haben.“
„Vielleicht…“
Diese Vielleicht ließ mir keine Ruhe. Noch am Abend setzte ich mich ins Auto und fuhr nach Bergen. Ich wollte wissen, ob die Flüchtlinge hinter der Einbruchserie steckten oder nicht. Das konnte mir mein Freund Hassan Suliman sagen. Hassan hatte es fast geschafft. Er arbeitete mittlerweile als Assistenzarzt im Bergener Krankenhaus. Für den Chefarzt der HNO-Abteilung führte er die Untersuchungen vor Operationen durch. Wenn seinem Asylantrag stattgegeben würde, würde er wohl auch selbst operieren dürfen. Dass das soweit ganz gut lief, hatte er auch mir zu verdanken. Denn die Flüchtlingsfamilie Suliman war durch meine Geschenkaktion auch in den Fokus der Medien geraten. Das öffentliche Interesse öffnete halt so manche Tür.
Ich gebe zu, dass ich auch aus einem zweiten Grund nach Bergen fuhr: Fathma. Ich hatte versucht, die schöne wie anmutsvolle Syrerin aus meinem Herzen zu verbannen. Endlich sollte die Vernunft regieren. Fathma war die Frau eines anderen, ich war der Mann einer anderen. Punkt, aus. Aber in Gefühlsdingen liegen die Dinge nicht so einfach. Schon gar nicht bei mir. Sind die Sinne und das Herz erstmal betört, ist das nicht von heute auf morgen abstellbar. Erst recht nicht, wenn man zu spüren glaubt, dass die verbotene Frau zu einem selbst noch tiefere Gefühle hegt.
Zwei Faktoren sollten mir helfen, von Fathma loszukommen. Der erste Faktor hieß Verdrängung. Das schaffte ich durch die Wiederzuwendung an Ines mit der daraus resultierenden Geburt unseres Sohnes recht gut. Der zweite Faktor hieß Zeit. Mit der Zeit, wie man so schön sagt, wird die Wunde heilen. Wenn ich Fathma nicht mehr sah, würde ich auch nicht mehr an sie denken. Das schaffte ich – sagen wir mal – weniger gut. Geholfen hat mir zunächst, dass ich die Post nicht mehr in Putbus und bei den Flüchtlingen zustellte. Auch dass die Sulimans jetzt seit ein paar Monaten in Bergen wohnten, half da noch mal nach. So konnte Fathma mir in Putbus nicht mehr über den Weg laufen. Was mir nicht half, war der Fakt, dass ich mit den Sulimans und ein paar anderen Flüchtlingen seit dem letzten Weihnachtsfest befreundet war. Wir hängen jetzt nicht ständig zusammen. Aber die Flüchtlinge riefen mich am Telefon an, kamen auf der Straße auf mich zu. Sie waren gastfreundlich und liebenswert, sie waren interessiert am öffentlichen Leben und suchten bei mir Rat und Hilfe. Ich sagte ja schon, dass ich die kleinprominente Stelle eines Flüchtlingshelfers einnahm. Alldem stellte ich mich und ich glaubte mehr daran als das ich es hoffte, dass die Zeit Fathmas wie meine Wunde schließen würde.
Also noch war meine Wunde nicht geschlossen uns so ging ich klopfenden Herzens auf die Wohnungstür der Sulimans in Bergen-Süd zu. Die vierköpfige Familie teilte sich die Dreiraumwohnung von vielleicht 70 Quadratmetern mit einer weiteren dreiköpfigen Familie. Ich hatte Glück und Fathma öffnete mir.
„Steven?!“
Oh Mann, sie lief rot an, aber dann lächelte sie halb ehrlich, halb aufgesetzt erfreut. Auch ich lächelte sie möglichst neutral an. In meinem Innern konnte ich aber nicht anders, als sie einfach umwerfend und wunderschön zu finden. Das Feuer loderte auf, aber ich kämpfte es nieder: „Hallo Fathma. Ist Hassan auch da? Ich muss mit euch reden.“
„Komm doch rein.“ Sie trat mit einem effektvoll wiegenden Schritt zur Seite und ich stolperte unbeholfen steif in die Wohnung. Ich konnte meine körperliche Anspannung mit meinen aktuellen Anliegen begründen und kam nach der Begrüßung gleich zur Sache.
„Ihr habt doch von der Einbruchsserie gehört. Es gibt Leute, die glauben, dass Flüchtlinge hinter der Sache stecken.“
„Unsinn“, meinte Hassan sogleich.
„Das glaube ich ja auch. Aber kannst du mir versichern, dass es keine Bande oder dergleichen Organisation von euch gibt?“
„Davon wüsste ich.“
Das genügte mir eigentlich schon. Hassan war im Rügener Flüchtlingsrat organisiert und hätte über so eine Machenschaft gewusst. Ich weiß nicht warum, aber hätten sie mich angelogen, hätte ich es sofort gespürt. Das musste am gegenseitigen Vertrauen zueinander liegen. Das schloss die Gefühle von Fathma und mir ein. Hassan wusste, dass ich Fathma begehrte. Und er wusste auch, dass Fathma auf mich stand. Aber er vertraute offensichtlich auf die Freundschafft, die uns verbannt. Unter Freunden tut man nichts unanständig Verbotenes. Und das arabisch geprägte Ehegelöbnis war sicher einige Zacken schärfer als das unsere. Also selbst wenn ich mich Fathma eines Tages vielleicht körperlich nähern würde, wäre sie mit Sicherheit diejenige, die nichts zwischen uns zustande kommen lassen würde.
Wir plauderten noch eine geraume Weile bei einer Tasse Tee über dies und das. Das Thema war eigentlich schon durch, aber dann fing Hassan an:
„Wir werden beweisen, dass wir nicht hinter den Einbrüchen stecken.“
„Das müsst ihr nicht. Ich glaub euch auch so.“
„Du ja. Die anderen nicht.“
„Ich werde mit ihnen reden. Im Fernsehen.“
„Tu das, Freund Steven. Aber es wird nicht reichen.“
„Was wollt ihr tun?“
„Wir organisieren uns.“
„Wozu?“
„Die Deutschen organisieren sich. Wir Syrer tun dies auch“, entgegnete Hassan ausweichend.
Ich rührte missmutig in meinem Teeglas herum und schwieg.
Aber wir waren Freunde und Hassan erklärte sich mir: „Wir werden aufhalten die Augen, am Morgen und am Abend. Flüchtlinge haben viele Freizeit. Wir werden stellen die Diebe.“
Ich sah Hassan ungläubig an: „Eine Streife? Eine Bürgerwehr?“
„Sagt man so? Ich sage Flüchtlingswehr! Du kannst helfen dabei.“
„Wie?“
„Gib uns dein Auto.“
Unter Freunden hilft man sich. Die Flüchtlinge bekamen mein Auto und ich kümmerte mich darum, dass auch ein paar andere Einheimische ihre Autos zur Verfügung stellten. Diese waren von der Sache so angetan, dass auch sie sich weiter kümmerten. Somit fuhren die Flüchtlinge kurz vor Weihnachten auf der ganzen Insel Streife. Freilich blieb das unter uns. Keineswegs trat ich damit an die Öffentlichkeit. Sonst hätte der zuständige Landrat die Sache mit Sicherheit polizeilich verbieten lassen. Ich will auch gar nicht behaupten, dass die Polizei nichts tat. Die fuhren auch vermehrt Streife. Aber die Flüchtlingsautos waren deutlich mehr. Rein statistisch gesehen, müssten die Flüchtlinge den Einbrechern eher auf die Schliche kommen.
Aber zunächst hatten sie keinen Erfolg. Zweimal noch schlugen die Einbrecher zu. Zuerst raubten sie besonders dreist des Abends in Sagard, als dort gerade Weihnachtsmarkt war, gleich fünf Häuser aus. Dann dergleichen am Morgen in Middelhagen auf Mönchgut, wo wie in Putbus zwei Häuser betroffen waren. Von den Tätern fehlte fast jede Spur. Das einzige, was in Middelhagen gefunden wurde, war ein Nikab – ein Vollschleier, den der Täter oder die Täterin dort verloren hatte. Da schlugen die Wellen wieder hoch. In Putbus wurden Flüchtlinge auf offener Straße derb beleidigt. In einer Bergener Discothek gab es eine Messerstecherei zwischen Afghanen und Deutschen mit blutigem Ausgang. Der Stecherei soll ein verbaler Streit über ausländisches Einbrechergesindel vorausgegangen sein. Die Krönung war die versuchte Brandstiftung am Putbusser Pädschen. Zwei junge Rüganer waren am Abend über den Hofeingang mit Benzinkanistern ins Gebäude eingedrungen, um dort in den unbewohnten Kellerräumen zu zündeln. Es war die Flüchtlingswehr, die die Eindringlinge beobachtet hatte und stellte. Die Polizei nahm die versuchten Brandstifter fest und übergab sie dem Haftrichter.
Dann kam der Heilige Abend, mein letzter Arbeitstag vor dem Fest. In Anbetracht der Ereignisse konnte ich bei Ines durchsetzen, dass wir in Putbus blieben. Auch über die Feiertage wollten die Flüchtlinge mit unserem Auto Streife fahren. Es war ein mieser verregneter Weihnachtsmorgen. Dazu ging die Temperatur nahe Null und es konnte rutschig werden. Das ärgerte mich insofern, dass gerade ich mit meinen langen Überlandtouren langsamer als sonst fahren musste, was zur Folge hatte, später Feierabend zu haben. Trotzdem freute ich mich auf die erste Bescherung mit unserem Baby und auf den Whisky heute Abend. Und morgen sollte es Ines Entenbraten geben! Zum Kaffee mit Plätzchen und Stollen hatten wir dann Fahtma und Hassan mit den Kindern Kala und Alaa zu uns nach Putbus geladen. Natürlich freute ich mich hinterhältig diebisch besonders auf Fathma. Aber ich schämte mich dieser meiner Vorfreude und vertraute auf meine vernünftigen Verdrängungskünste. Mit Fathma und mir ging es ja nun wirklich nicht an, gerade da Ines, Jonas und ich uns jetzt ein kleines Familienglück aufbauten. Gleiches trifft natürlich auch auf Fathmas Familie zu. Kala und Alaa sahen in mir immer noch den Weihnachtsmann, der ihnen Geschenke bringt. Freilich hatte ich ihnen auch dieses Jahr Geschenke besorgt, aber völlig legal, ehrlich! Die beiden besuchten einen Deutschkurs für Flüchtlingskinder in Bergen und wuchsen zweisprachig auf. Dagegen hielt sich mein arabisch noch in vagen Grenzen.
Ich wollte mit der Postzustellung am hintersten Ende der Landzunge in Neu Reddevitz beginnen. Von dort würde ich die anderen Dörfer bedienen und mich zurück nach Putbus durcharbeiten. Auf der steilen bewaldeten Höhe vor Neu Reddevitz hielt ich am Straßenrand an, um meine Blase vom Morgenkaffee zu erleichtern. Ob der windig klammen Kälte schauderte es mir, aber ich würde gleich Bewegung und damit Wärme genug haben. Aber ich erschauerte noch mehr, denn plötzlich hörte ich den Motor meines Postsprinters aufheulen. Im hochtourigen Rückwärtsgang schoss der Sprinter zurück. Am Lenkrad machte ich die dunkle verhüllte Gestalt eines Vollverschleierten aus. An den hastig kräftigen Bewegungen beim Rückwärtseinparken erkannte ich aber deutlich, dass sich hinter dem Nikab ein Mann verbarg. Ich hetzte dem Postsprinter hinterher. Umsonst. Der Fahrer hatte vorwärts eingeschlagen und fuhr seelenruhig nach Gobbin hinab, gefolgt von dem weißen Sprinter, der vor zwei Wochen beim Einbruch in unsere Wohnung benutzt wurde.
Unglaublich, die Räuber waren mir gefolgt und ich hatte es nicht mitbekommen. Zu blöd, wenn man schon vor der eigentlichen Arbeit mit den Gedanken beim Feierabend ist. Natürlich hatte ich im Wagen nicht nur den Schlüssel stecken sondern auch mein Smartphone liegen lassen. So rannte ich, so schnell ich konnte, nach Gobbin hinunter, um vom ersten möglichen Gehöft aus die Polizei zu alarmieren. Es gab eine theoretische Chance, die Räuber noch vor der abzweigenden Kreuzung in Lancken Granitz zu stellen. Vielleicht fuhren die Räuber aber auch durch den Busch, um sich in Richtung Putbus oder Zirkow abzusetzen. Wahrscheinlich würden sie den mit Geschenkpaketen voll beladenen Postsprinter irgendwo im Wald umladen und sich wie sonst auch unbemerkt flüchtig absetzen. Mist, oh Mann, hatte ich einen Mist gebaut. Das war’s mit meiner Bewährung und ich konnte froh sein - wenn ich überhaupt im Dienst blieb – diese Überlandtour bis zu meiner noch fernen Rente zu fahren.
Als ich nach Gobbin kam, sah ich sie wieder: Den weißen Sprinter, meinen Postsprinter und meinen privaten PKW. Auf der Straße war zwischen vier männlichen Flüchtlingen und zwei verhüllten Nikabträgern ein Handgemenge im Gange. Unterdessen telefonierte ein Rentner vor seiner Haustür nach der Polizei. Ich stürzte mich mitten hinein ins Gemenge und nach einigen Schlägen und Kniffen hatten wir die beiden Räuber im Griff.
Wie zu erwarten verbargen sich keine Flüchtlinge hinter den Tätern. Die beiden Räuber gehörten einem deutsch-polnischen Diebes- und Hehlerring an, der in ganz Norddeutschland tätig war. Die Flüchtlinge übergaben die beiden an die bald eintreffende Polizei und fuhren nach Putbus, um mein Auto zu Hause abzugeben. Ich hoffte nur, dass Ines nicht doch noch auf den Trichter kam, zu ihren Eltern zu fahren. Aber ich würde spät Feierabend haben und sicher noch der Presse oder gar dem Fernsehen Rede und Antwort stehen.
Das Fernsehen wartete nicht bis zu meinem Feierabend. Ich hatte in Neu Reddevitz die Post zugestellt und war zurück in Gobbin, als mich die Moderatorin, deren Namen mir schon wieder nicht einfällt, mit ihrem Kameramann quasi halblive am Ort des Geschehens stellte. Mit meiner Medienerfahrung setzte ich die Sache schnell ins richtige Licht: „Ja, es war unser Plan, die Räuber auf frischer Tat zu ertappen. Ich hatte den weißen Sprinter hinter mir gesehen und ließ es darauf ankommen. Und tatsächlich, die Diebe raubten das Postauto. Der Flüchtlingsinitiative Hilfe durch Selbsthilfe ist es zu verdanken, dass die Täter erwischt wurden, die Einbruchsserie aufgeklärt und ein groß aufgezogener Hehlerring, der seine Diebesware im Darknet veräußerte, zerschlagen werden konnte.“