Am 13. August 2021 jährt sich der Bau der Berliner Mauer zum 60. Mal. Bis zum Mauerfall 1989 kamen dort mindestens 140 Menschen ums Leben. Die meisten von uns kennen die Gegebenheiten nur aus Geschichtsbüchern, obwohl die Deutsche Teilung auch meine Jugend bestimmt hat.
Seit 2011 findet zum Gedenken der Toten an der ehemaligen deutsch - deutschen Grenze ein außergewöhnliches Laufevent statt: der Mauerweglauf. 100 Meilen auf dem ehemaligen Grenzkontrollweg, 26 Verpflegungsstellen, perfekte Organisation und eine liebevolle Siegerehrung. Wer 100 Meilen laufen möchte, kann keine bessere Veranstaltung finden.
Letztes Jahr wurde der Lauf leider wegen Corona abgesagt, die Anmeldungen konnten auf 2021 umgeschrieben werden. Dieses Jahr gibt es umfangreiche Coronavorgaben. Erschwerend kommt ein kurzfristig anberaumter Bahnstreik dazu.
Norbert und ich werden getrennt laufen und uns nachts von unseren Kindern auf dem Rad begleiten lassen. Mein Radler heißt Markus und ist unser ältester Sohn. Nora, unsere jüngste Tochter, wird mit Norbert fahren.
Die Startnummernausgabe im Konferenzzentrum nahe des Alexanderplatzes erfolgt in vorher angemeldeten Zeitfenstern. Man muss bereits am Eingang einen Test- oder Impfnachweis vorzeigen und mit der LUCA-App einchecken. Läufer und Radler bekommen einen originalen Mauerstein, die Radbegleiter noch ein T-Shirt. Das Läufershirt gibt es erst nach Zielankunft. Dann geht es zur Pasta Party. Es wird aufgetischt, leckere Nudeln mit 2 Soßen, Salat und Dessert. Nach jeder „Essensschicht“ muss alles desinfiziert werden. Der enorme zusätzliche Aufwand ist notwendig, um die Läufer zu schützen. Anwesenheitspflicht beim Briefing ist nur noch für Erstläufer und kann von den anderen im Internet verfolgt werden.
Am nächsten Morgen fahren die Shuttles vom Konferenzzentrum / Hotels H2 / H4 zwischen 4 Uhr und 5 Uhr zum Jahnstadion. Dort muss man sich wieder in die Luca App einwählen und Maske tragen. Bierbänke und Tische dienen als Läufertreff. Das normalerweise angebotene Frühstück ist auf die Ausgabe von Getränken reduziert. Hier können auch die 3 Dropbags für die großen Wechselpunkte abgegeben werden. Innenräume darf man nur zum Gang auf die Toilette betreten. Mit ca. 18 °C ist es angenehm warm.
Punkt 6 geht es ab auf die Stadionrunde und dann hinaus. Wie schön, wir dürfen die Maske abnehmen; hier steht Publikum, vermutlich Angehörige, die uns mit Applaus verabschieden. Das haben wir lange vermisst.
Die ersten Kilometer sind Sightseeing vom Feinsten: am Hauptbahnhof vorbei, an der Spree entlang durchs das morgendliche Regierungsviertel. Die Straßenverkehrsordnung ist unbedingt einzuhalten d.h. nur an Übergängen die Straßen überqueren und Ampeln beachten.
Es ist mal wieder rot. Ich nutze das um durchzuschnaufen und mich umzusehen. So ein Glück: wir stehen mit direktem Blick aufs Brandenburger Tor. Das hätte ich ja fast übersehen!
Trabimuseum, Mauer-Panometer von Asissi, Checkpoint Charlie, die erste VP. Wir kommen gut voran. East Side Galerie, VP 2. Das Feld ist bereits ziemlich auseinander gezogen, so dass ich selber auf die Pfeile achten muss. Das ist aber kein Problem. Die Strecke ist perfekt ausgeschildert.
Es geht über die pittoreske Oberbaumbrücke und kreuz und quer durch Friedrichshain und Neukölln. An der weithin sichtbaren Rösterei Jacobs gelangen wir ins Grüne. Der Radweg führt jetzt am Britzer Verbindungskanal entlang. Mittlerweile ist es 9 Uhr vorbei, die Sonne brennt vom Himmel.
Bei km 22 biegen wir an den Teltowkanal ab. Links läuft die A113 rechts hinter Bäumen der Kanal. Dazwischen der Radweg. Einzige Unterbrechung ist die VP 4 ungefähr in der Mitte. Bei km 28 dürfen wir über die Straße. An der roten Ampel sammeln sich Läufer. Bevor wir auf der anderen Straßenseite über eine Brücke gehen, werden wir von Streckenposten umgeleitet. Eine Pinwand zu Ehren des Maueropfers Gerhard Berger erwartet uns. Jeder kann hier seine Gedanken auf Kärtchen fest halten. Auch Kerzen können entzündet werden. Die Pinwand wird morgen bei der Siegerehrung stehen, die Kärtchen später archiviert und Gerhard Bergers Witwe übergeben. Wir überqueren nun den Teltowkanal.
Weiter geht es auf dem Radweg im Grünen. Streckenposten in Liegestühlen passen auf, dass wir bei km 34 den „Berg“ nicht verpassen. 86 Meter steigen wir steil auf eine der höchsten Erhebungen der Gegend, direkt an der Grenze zu Brandenburg. Hier wurden Kriegstrümmer und dann Hausmüll abgelagert. Davon ist heute nichts mehr zu sehen. Als Naturschutzgebiet dient es Mensch und Tier als Oase.
Von oben genießen wir einen tollen Blick auf Berlin und dem neuen Berliner Flughafen. Nicht umsonst heißt der Gipfel „Dörfer-Blick“, weil die Gemeinden Schönefeld, Waßmannsdorf und Großziethen, Bohnsdorf und das brandenburgische Kleinziethen im Blickfeld liegen.
Treppen bringen uns wieder nach unten. Es ist mittlerweile heiß geworden. Meine Gehpausen werden immer länger. Auch mein Magen macht Zicken. Ich hab Hunger! Gel ist ja gut und schön, aber mein Magen will arbeiten. Einen Früchteriegel verputze ich wie nichts.
Bei km 39 kommt eigentlich meine Lieblingsstrecke, ein kleiner feiner Singletrail. Heute will es aber gar nicht laufen. Ich muss sogar gehen, und das liegt nicht an den vielen Staffelläufern, die an mir vorbei flitzen. Viele nette Worte werden ausgetauscht.
Bei km 46 werde ich durch eine Eisenbahnschranke ausgebremst. Während ich warte, kommen weitere Läufer von hinten. Wie lange dauert das denn? Wir braten in der Sonne. Zwei Staffelläufer telefonieren aufgeregt und informieren ihre Staffelkollegen, dass sie aufgehalten werden. Irgendwann kommt dann tatsächlich der Zug, er fährt durch und die Schranke öffnet sich.
An der VP 7 „Ninas Eltern“ ist Stimmung. Ich versuche mit kohlensäurehaltigen Getränken und belegtem Brot meinen Magen zu beruhigen. Weiter geht es durch den Wald. Im Schatten ist es erträglich. Trotzdem quäle ich mich nur Kilometer um Kilometer vorwärts.
Ich sehne mich nach der ersten großen Wechselstation in der Turnhalle von Teltow. Die ist bei km 57. Bei km 56 sitzen Anwohner auf einer kleinen Mauer. Während ich näher komme, skandieren sie: „Wasser, Cola, Limo, Bier, Dusche“. Das alles gibt es hier, von privat. Ich nehme Bier und Dusche und bedauere es sofort, denn die große offizielle Verpflegungsstation muss ja gleich kommen. Ein Mitläufer klärt mich auf, dass die Station erst bei 59 km kommt. Gut, dass ich gerade getankt habe.
Dann erreiche ich den Wechselpunkt. So laute Musik bin ich nach den ruhigen Stunden nicht gewohnt. Zielgenau steuere ich durch die Leute. Zuerst muss man sich wieder mit der LUCA-App anmelden, damit man die Turnhalle betreten kann. Oh je, irgendetwas hängt. Ich kann die App nicht öffnen. Nachdem ich entnervt bestimmt schon 10 Minuten verloren habe, schickt mich der Helfer einfach hinein. Es sind ja kaum noch Läufer Vorort und eine eventuelle Nachverfolgung deshalb relativ einfach.
In der Halle bekomme ich meine Tasche, wechsle Schuhe und Shirt und mache mich frisch. Draußen gibt es Suppe und Kaffee. Außerdem fülle ich gefühlt zum hundertsten Mal meine Flaschen. Mein Magen macht mir Kummer. Aber es muss weiter gehen.
Da ich inzwischen zum vierten Mal beim Mauerweg dabei bin, kenne ich die Strecke relativ gut. Bis zur VP 11 Griebnitzsee bei km 72 geht es im Grünen entlang. Danach läuft man in Babelsberg auf Gehwegen mit Kopfsteinpflaster. Highlight ist die Glienicker Brücke bei km 77. Dort wurden im kalten Krieg die Agenten von Ost und West ausgetauscht. Von hier geht es in den Neuen Garten von Schloss Cecilienhof am Jungfernsee. Hier ist am Samstagabend einiges los. Ich werde angefeuert und motiviert.
Am Ende des Parks liegt die fast schon legendäre Meierei, eine nette kleine Brauerei; leckeres Bier für die Läufer inklusive. Leider bin ich etwas in Zeitdruck und kann mich nicht ausruhen. Die Sonne geht langsam unter und meine Stirnlampe liegt im Dropbag bei Schloss Sacrow. Also weiter.
An der VP 13 Revierförsterei Krampnitz mache ich nur einen kleinen Zwischenstopp. Von dort geht es zunächst auf einer ruhigen Straße leicht bergauf, dann in den Wald. Hier treffe ich einen Staffelläufer mit Fahrradbegleitung. Ich hänge mich dran, denn das Fahrrad beleuchtet den Weg.
Ich erreiche Schloss Sacrow km 91, um Viertel nach neun. Der Cutoff ist um 21Uhr50. Zuerst muss ich Markus anrufen; er ist auf dem Weg. Schnell kurz frisch machen, etwas essen und trinken, Flaschen füllen, Lampe auf den Kopf, Warnweste an und weg. Ich sollte unbedingt etwas Zeit gutmachen, sonst wird der Rest echt eng.
Trotz der Dunkelheit treffen Markus und ich uns problemlos. Er hat mich letztes Mal schon begleitet und weiß, wie es geht. Gemeinsam läuft es gleich besser. Bei VP 15 Pagel and Friends km 99 versuche ich es mit Kaffee und belegtem Brot. Scheinbar sind meine Magenprobleme auf Hunger zurückzuführen. Nach den VPs geht es ca. 5 km besser, dann wird mir flau. Die Distanz zwischen den VPs ist aber meist um die 6 km. Ich hab noch Früchteriegel und stecke mir bei den Stationen Waffeln oder Brot ein. So fühle ich mich ganz wohl.
Es folgen schier endlose Wälder. Im Schein der Lampen laufen wir durch einen Tunnel aus Bäumen. Die Orte sind still, es ist schon spät. Irgendwann gibt es das erste „Guten Morgen“ an den VPs. Auf einmal wird es bitter kalt. Schnell ziehen wir unsere Jacken an. Für den Radler ist es schlimmer, denn ich kann meine klammen Hände wenigstens in die Ärmel ziehen.
Zwischen VP 18 und 19 liegen gewaltige 7 Kilometer. Ich bin schon ziemlich platt und kann kaum noch laufen. Wir brauchen mittlerweile knapp eine Stunde für 5 km. Erschöpft erreichen wir die VP 19 bei km 123. Dort lasse ich mir zuerst wieder Kaffee geben. „Du hast noch 3 Minuten bis zum Cutoff“ wird mir jetzt gesagt. Ich bin total geschockt, greife mir den Becher, noch etwas zu essen und gehe sofort weiter.
Eigentlich ist hier der Lauf für mich beendet. Das kann ich nicht schaffen. Noch 37 Kilometer und keine Zeit um auszuruhen. Ich spreche mit Markus und erkläre, dass wir an der nächste VP beim Ruderclub das Rennen verlassen werden.
Ich kann nicht mehr laufen, und gehe die 5 km bis zum Wechselpunkt. Dort werden wir mit Applaus begrüßt. Es sind noch 10 Minuten zum Cutoff, aber ich kann nicht mehr. Wir machen es uns mit einem Trostbier gemütlich, bis die Helfer die Station abbauen. Dann geht es mit der S-Bahn ins Hotel zurück. Die Sonne geht auf.
Nachdem ich geduscht und gefrühstückt habe, meldet sich Nora, Norberts Radbegleitung. Sie haben das Ziel erreicht und sie kommen ebenfalls zum Hotel. Müde, aber zufrieden berichten sie mir von der bestandenen Tortour. Auch Norbert hat arg gelitten, aber durchgezogen. Glückwunsch!!!!
Die Siegerehrung findet ohne Begleiter statt. Auch mehrere der prominenten Unterstützer mussten wegen Corona absagen. Sehr bewegend ist das Gedenken an unseren letztes Jahr überraschend verstorbenen Laufkollegen Jörg Stutzke, dessen Witwe anwesend ist.
Dann werden die Finisher nacheinander auf die Bühne gerufen und bekommen Medaille und Urkunde. Damit ist der Lauf beendet.
Fazit:
Der Mauerweglauf beweist, dass Laufevents ohne Läufermassen auch mit Corona ausgetragen werden können. Natürlich ist jeder für sich selbst verantwortlich und muss die Vorgaben auch einhalten. Unter den gegebenen Umständen ist der Lauf perfekt über die Bühne gegangen. Größtes Lob geht an die Helfer. Sie geben einem immer das Gefühl, willkommen zu sein und bestärken einen in jeder Situation. Das Angebot an den VPs ist phänomenal. Verhungern muss hier keiner.
Liebes Orgateam: macht weiter so. Das Konzept des Laufs ist stimmig, die Umsetzung perfekt. Das Leiden der Maueropfer und deren Angehörigen darf nicht vergessen werden!
Dieses Jahr war es mir wohl zu heiß, ich werde es nächstes Jahr auf jeden Fall noch einmal versuchen.