Bei km 5 kommen wir zu einem der effektivsten Tunnel. Er begann an einem Grab auf dem Pankauer Friedhof. Jahrelang verschwanden hier ganze „Trauergemeinden“ im Untergrund. „Unternehmen Reisebüro“ nannten sich die studentischen Tunnelbauer.
Viele kamen auch hier durch die Kanalisation. „Deckelmänner“ schlossen die Abwasserkanäle, sobald Patrouillen sich näherten. Auch im Westen gab es „Deckelmänner“, denn auch hier patrouillierte die Stasi. Wir gedenken der Erschossenen Gerhard Kayser, Dorit Schmel, Horst Frank und Dietmar Schulz.
Konnte man noch vor dem Mauerbau für 20 Pfenning mit der S-Bahn nach Westberlin flüchten, so wurde der Bahnhof Friedrichstrasse später zur Grenzübergangsstelle und vor allem zur Agentenschleusung genutzt. Über den Hoh-Chi-Minh-Pfad, wie der Übergang genannt wurde, sickerten nicht nur Agenten nach West Berlin ein, sondern flüchteten später auch RAF-Mitglieder in den Osten. Die S- Bahn wurde auf Westberliner Seite von der Reichsbahn, also der DDR betrieben. Willy Brandt polterte: „Unzumutbar, dass Westgeldeinnahmen für den Einkauf des Stacheldrahtes verwendet werden“. Ab 1964 gab es für „kapitalistische Bürger“ beim Besuch der DDR den Zwangsumtausch, der alle paar Jahre erhöht wurde.
Der ehemalige Grenzstreifen begleitet uns nun als durchgehender Grünstreifen. Wir kommen nach Lübars, einer wunderbaren, ländlichen Gegend mit Schilf und klaren Bächen über sandigem Untergrund. Hier flüchteten Steinis Kumpels. Steini erzählt nochmals die Geschichte, wie seine Kumpels im Tegeler Fließ im 10 cm tiefen Wasser lagen und auf Fluchtgelegenheit warteten. Der Trabbi stand dort hinten, wo jetzt das Feld ist, links wartete Steini im Westen mit seiner Karre. Steini selbst war in der Nacht vom 13. auf den 14. August 1961, als die Mauer errichtet wurde, im Osten bei seiner Großmutter, weil seine Eltern im Westen ins Kino gehen wollten. Unmöglich für seine Eltern, nach dem Mauerbau rüber in den Osten zu gehen, um Steini zu holen. Denn sie waren selbst „Republikflüchtlinge“ und wären sofort verhaftet worden. Einer Bekannten mit „sauberem Pass“ gelang es Tage später, den heutigen Souvenierverkäufer rüberzubringen.
Oranienburger Chaussee: „ Flüchtlinge kamen wie Maulwürfe durch Tunnels nach Westberlin - 14 Tage gebuddelt“, so die amerikanische UPI 1962. Die Becker Brüder buddelten mindestens zwei Tunnel. Bruno baute eine Alarmanlage, die seine Mutter Gerda bediente. Den Grabungssand verbauten sie im Keller. 28 Personen flüchteten. Dort, wo jetzt die Bänke stehen, stand das Haus.
Ältere Leute wollten die Beckers nicht mitnehmen. Also bauten die zwölf 55- bis 81Jährigen dort, wo jetzt der Discounter ist, den sogenannten Rentnertunnel. Er wurde erst zwei Wochen nach ihrer Flucht entdeckt.
Wir sind in Glienicke. Doch Vorsicht, es gibt viele „Glienickes“. Es ist ein slawisches Wort und bedeutet „Lehm“. Damit zu der Sanitärsituation beim 100Meilenlauf. Es gibt an jedem VP ein Dixiklo. Jemand sagte zu mir: „Joe, du musst auch von den unangenehmen Dingen bei einem Ultralaufes berichten.“ Also, ich bin Stammgast im Fastfoodrestaurant in Glienicke, seitdem ich 2011 die Gedenkstele für Friedhelm Ehrlich auf diesem Gelände entdeckte. Friedhelm wurde 1969 zur NVA eingezogen, am 02.August 1970 wegen irgendwas zum Reinigungsdienst (also Toilette) beordert. Also hat er sich an diesem Abend mächtig einen hinter die Binde gegossen und latschte um 22:15 Uhr gen Westen. Ein Schuss zerfetzte seine Hauptschlagader und beendete sein Leben.
Meine Wasserflaschen fülle ich bei MC mit Eiswürfel, bei der Cola gibt es free refill. Die Verkäuferin ist auch schon mal auf dem Mauerweg gelaufen, sagt sie stolz. Leise fügt sie hinzu: „Mach einem km war Schluß“. Hier in Glienicke gab es eine Strasse, die gehörte zu West Berlin, lag aber auf Ost Berliner Gebiet, genannt Entenschnabel. Drei Tunnel gab es, 52 Flüchtlinge.
Es gibt auf dem Mauerweg nicht nur Gedenkstelen, es gibt Luftbildaufnahmen, die die perverse Grenzziehung zeigen. Es gibt Originalfotos, wo dir die Klappe runterfällt, wenn du den fetten Todesstreifen siehst. Bei km 23 ist noch so ein fieser Wachturm, einst Führungsstelle „Bergfelde“. Jetzt ist der Turm Museum, in der Ecke ein wenig Mauer, Stacheldraht und „Stalinrasen“. Das sind 10 cm hohe Stachelmatten, die auf dem Todesstreifen lagen. Selbst mit harten Sohlen gab es keine Überquerung, man fiel einfach auf die Fresse und rammte sich die Stacheln in den Körper. Auch am Ufer der Havel lag die Schweinerei, unterhalb der Wasseroberfläche. Dort starben Peter Kreitlow( 20) und Franciszek Piesik (25) .
Joachim Mehr wurde am 03. Dez 1964 angeschossen, lag auf dem Boden, bewegte sich noch und bekam einen Kopfschuss. Willi Born erledigte das selbst mit seiner Dienstwaffe, als am 07. Juli 1970 um 10:45 Uhr seine Kameraden von der NVA den Wald durchkämmten und ihn in die Mangel nahmen.
Es geht hier Zack auf Zack: Der Weg ist gepflastert mit Toten. Die Hitze macht mich fertig. Ich kann nicht an jeder Stele stoppen, ich muss ans eigene Überleben denken.
In dieser Straße lebte Familie Aagard. Als sie aus dem Urlaub zurück kamen, fanden sie plötzlich diese 4 Meter-Mauer im Garten vor und einen Wachtturm, der genau ins Wohnzimmer glotzte. Also Schrank vors Wohnzimmerfenster und mit bloßen Händen durch den Wohnzimmerboden gebuddelt. Das hat gedauert, denn der Sand musste in Kissen und Fahrradschläuchen in den Wald gebracht werden. Jeden zweiten Tag kontrollierten Grenzer Keller und Wohnräume. Klasse Leistung der Familie Aagrad. Als letzte Person wurde die Oma auf der Luftmatraze liegend durch denTunnel gezogen.
Km 24 Gedenkstele Marienetta (Micki) Jirkowsky. Die Erinnerung an Marienetta ist deshalb tragisch, weil ihre Eltern gegen die Verbindung zu Peter, ihrem späteren Fluchthelfer, waren und sie bei der Polizei verpetzten. Die Eltern, bzw. jetzt die Angehörigen, haben verständlicherweise kein Interesse, die Sache wieder aufzukochen. Deshalb wird auch niemand der Familie bei den Siegerehrungen der Läufer anwesend sein.
Ich erlaube mir kein Urteil, ich war nicht in dieser Dreckssituation, Die Flucht fand einen Tag vor der geplanten Verhaftung von Peter statt. Ich erinnere mich daran, wie über Fluchten in der Tageschau berichtet wurde. Tangiert hat´s mich nicht, solche Nachrichten gab´s ja wöchentlich und die Mauer war weit weg. Die Beerdigung von Micki wurde von der Stasi streng reglementiert. Es gab keine Öffentlichkeit, nur engste Verwandte durften erscheinen.
Aber immerhin es gab eine Beerdigung. Die meisten Leichen der Maueropfer verschwanden einfach. Die Großeltern von Micki verteilten auf dem Friedhof kleine Kärtchen, eine Art Visitenkarten mit einem letzten traurigen Gruß. Wir haben mit den Startunterlagen ein solches Visitenkärtchen erhalten, mit ihrem einzigen, verbliebenen Foto. Jeder Läufer schreibt ihr etwas. „Ich hätte es auch gemacht. Gruß Joe.“
Ich war damals zwei Jahre jünger als Micki, die olympischen Spiele in Moskau wurden boykottiert, Jürgen Hingsen durfte nicht antreten, Daley Thompson gewann. Das waren meine Sorgen damals. Waldemar Cierpiski gewann den Marathon. Aber ehrlich gesagt, die Kluft zwischen dem Osten und mir war zu groß, um sagen zu können, dass jemand „von uns“ gewonnen hätte.
Km 30, Frohnau: Michael Bittner ist seit seinem Wehrdienst innerlich auf der Flucht. Seit Jahren stellt er Ausreiseanträge. Am 24. Nov wird er auf der Mauerkrone liegend erschossen. 32 Schuss in den Rücken, die Leiche landet im Osten. Eine „kriminelle westdeutsche Menschenhändlerbande hat Michael Bittner entführt“, so stand es in der DDR Presse. Und dann wurde ein Haftbefehl gegen den Toten erlassen, obwohl er „entführt“ wurde.
Was habt Ihr 1986 gemacht? Ich habe auf der Hardthöhe einen Marathon mit voller Kampfausrüstung (20 kg) gewonnen. 4 Tage Sonderurlaub. Dann gab es den Anschlag auf die Berliner Disko „La Belle“. Die Amis bombardierten Tripolis und Bengasi, ich hatte Alarmbereitschaft. Ich habe mit den Füssen abgestimmt, bekam zunächst wie Friedhelm Ehrlich die Klo-Reinigung auferlegt, dann Ausgangssperre, dann „Café Viereck“.
In den folgenden politisch angespannten Tagen wurden ausser Michael Bittner auch noch René Groß und Manfred Mäder an der Mauer erschossen. Wolfgang Schäuble war damals Kanzleramtsminister, sprach von „einer Belastung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR.“ Manfred Wörner besuchte mich in der Zelle, schenkte mir ein Buch, das ich verbrannt habe.
Genau auf diesem welligen Stück riss bei mir 2013 der erste Teil meiner Achillessehne. Schuld waren die fiesen Betonplatten der NVA, nun mit Asphalt überdeckt. Durch die Temperaturunterschiede blähen sich die Nahtstellen auf, Wurzeln machen die übrige Arbeit. Ich passe heute genau auf, doch es passiert wieder. An den Verpflegungsstellen bekommt man mit, welche Läufer dieses Jahr hingebretzelt sind.
Bei km 34 ist der westlichste Punkt erreicht, von nun an geht es Richtung Süden am Oder–Havel- Kanal entlang, der 1951 gebaut wurde, um den „Schikanen der Westmächte“ Paroli zu bieten. Die SBZ war mit westlichem Embargo belegt. Mein Großvater war vom Westen beauftragt zu überwachen, welche Maschinen die DDR auf Umwegen über die UDSSR bestellt, um das Embargo zu umgehen. Geliefert wurde trotzdem. Geld regiert die Welt.
Wir sind an der Havel, in deren Mitte die Grenze verlief. Lothar Lehmann zog sich am 26.Nov 1961 eine Schwimmweste an, schwamm nach Westberlin, unterkühlte sich, starb. Peter Böhme und Jürgen Schmidtchen wurden erschossen, Erna Kelm ertrank.
Km 39. Der Grenzturm Nieder Neuendorf war einer der 302 Wachtürme und Führungszentrum. Wachbunker, Reste der Mauer, Panzersperren, Zäune, Stalinrasen, Dornenmatten. Hinter dem Grenzturm zwei ehemalige West Berliner Exklaven: die Kleingartenanlagen Fichtewiese und Erlengrund. Exklaven entstanden nach dem Mauerbau aus dem Besitz von Berliner Bürgern und Unternehmen in Brandenburg. Schon vor dem Mauerbau gab es Zutrittbeschränkungen. Nur wer einen Passierschein hatte, durfte nach Voranmeldung zu festgelegten Zeiten und unter Überwachung nach Betätigung der Klingel die Gartenanlagen betreten.
Die Hitze macht mich dämmerig. Ich glaube, nein, es ist so, wir überqueren den damaligen Grenzübergang Stolpe, finanziert von der Bundesrepublik. Westdeutsche Finanzierungen liefen immer unter der Überschrift „humanitäre Hilfe“. Mit 4,5 Millionen Mark finanzierte die DDR die Installation der 60.000 Selbstschußanlagen an der innerdeutschen Grenze .
„Humanitäre Hilfe“ nennt man es auch, wenn man Grenzäune von Marokko, über Tunesien bis nach Ungarn bauen lässt. „Beitrag zum Internationalen Klimaschutz“ nennt man den Bau des größten Solarkraftwerk der Welt, welches die gewaltigen Mengen Strom produziert, um den 6 Meter hohen Grenzzaun quer durch die Sahara beleuchten zu können.