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16.08.15 - 100 Meilen Berlin (Mauerweglauf)

Abstimmung mit den Füßen

Autor: Joe Kelbel

Am 09. Mai 1989 rast ein Citroen mit 80 Sachen auf den Grenzübergang zu. Der Betonsockel des Schlagbaumes war stärker. Heute, auf den Tag genau vor 26 Jahren, war es ein Lastwagen der Marke „Moskau SIL 131“, ein Riesengeschoß. Aber auch hier war der Betonsockel stärker. Wie gesagt, von der Bundesrepublik finanzierte Wertarbeit.

Die Kontrollen an den Grenzübergängen waren hart. Vor allem die alten Leute klappten hier zusammen, erinnerten sich schmerzhaft an die braune Zeit. Ein Bekannter von mir pennte auf der schnurgeraden Transitstrecke ein. Ruhe seiner Seele. Wehe, du bist zu schnell gefahren, hattest keinen Gurt angelegt, oder hast die vorgegebene Zeitrahmen für den Transit überschritten. An den „Raststellen“ patrouillierte die Stasi mit westlichen Nummernschilder (an denen die TÜV-Plaketten fehlten). An den Abfahrten standen Beobachtungstürme.

Wir waren jung, hatten kein Geld für den Flug nach Berlin, aber ne große Klappe. Wir wussten, wo die „Strassenräuber“ die Geschwindigkeitsmessungen machten. 30 DM (West) abdrücken und du hattest ne Quittung für einen neuen Zeitrahmen. Ulrich und Heike gelang die Flucht im Kofferraum. 1000 Mark bezahlten sie dann, damit ein Fluchthelfer  auch Sohn Thomas rüberbringt. Der setzt den 16 jährigen aber an der falschen Seite der Transitstrecke ab, der Westler findet Thomas nicht. 6 Jahre saß Thomas wegen Republikflucht im Knast, dann wurde er freigekauft.  Vier Jahre war er  in Gießen in Behandlung, dann konnte er wieder einige Worte sprechen.

1962 zahlten (West) Eltern noch 1000 Mark an die DDR, um die Leichname ihrer Kinder zu bekommen, später war es das 10fache. Geflohene kamen zunächst im „Auffanglager“ unter, bevor sie dann auf die Länder verteilt wurden.

Ein Viertel meines Nonstop-Laufes habe ich bei km 42 absolviert, als es nach Westen durch das NSG Teufelsbruch und Rohrpfuhl geht. Ulrich Steinhauer war Grenzsoldat der DDR, wurde von einem Kameraden 1980 erschossen. Der Schütze war der 19jährige E.B., er war scharf auf eine Belobigung. Er zog den Stecker für das akustische Grenzmeldenetz, lud seine Dienstwaffe durch, den Rest erspar ich mir. Wir gedenken Dietmar Schwietzer (1977). Dietmars Vater reichte die Rechnung für die Bestattung bei Erich Honneker ein. Der zahlte und beschlagnahmte die Lebensversicherung des Ermordeten.

An den Verpflegungstationen werden die Abbrecherquoten unter der Hand durchgereicht. Vielleicht sind es Gerüchte, Märchen, oder ich weiss nicht was. Es seien Krankenwagen unterwegs. Immer wieder treffe ich Sigrid. Sie hat Bedenken durchzukommen. Laut Wetterbericht wird es bald kühler, ich sage ihr das. Sie trinkt mein Bier ex. Sie ist aus Ost Berlin, 1940 geboren. Eigentlich will sie nur noch ihren 1940 ten Marathon/Ultra finishen.

In Henningsdorf ist die erste größere Station ( km 34) mit meiner Drop-Off-Tasche, die mir gleich von einem aufmerksamen Helfer gereicht wird. Bier ist nicht, also stehe ich belämmert rum, kralle mir eine von den  Helferinnen und mache Fotos: „ Ich kenn dich, du bist doch der Joe, es war nachts, es war dunkel…..“  Ja, es war 2011, damals war der Ruderclub noch geöffnet, es gab reichlich Bier und die Tanzfläche gehörte mir. Heute nicht.

Peter Kreidlow hatte auch hier getanzt, das war am  23. Jan 1963, es gab reichlich Bier, aber im Gegensatz zu heute keine Freiheit. Im Suff sind sie zu fünft nach Westen gestiefelt. Zunächst über den zugefrorenen Kanal, dann durch den verschneiten Wald. Zwei sowjetische Soldaten schossen Peter direkt in den Kopf. 

Jetzt ist August, scheiss Klima. Warum musste die Schwachköppe die Mauer im August bauen?  „Joe, du alter Haudegen, ich muss jetzt aussteigen, aber bitte erzähl den Leuten, wie beschissen so ein Ultralauf ist.“ Die Pampa hier wird eindeutig von den alten Halterungen des Stacheldrahtes dominiert. Der Todesstreifen ist noch rudimentär erkennbar. Ich sehe Igel, es waren viele Igel. „Wann fangen eigentlich die Halluzinationen bei einem 100 Meilen Lauf an?“ fragte jemand auf FB.

Ganz im Westen von Berlin liegt Eiskeller, so genannt weil man dort Eis fürs Bier lagerte. Natürlich gibt es das an diesem VP nicht, dafür eine Armada von Bremsen. Die Viecher gibt es immer in Sumpfgebieten, die Weibchen brauchen Eiweiss für die Nachkommen. Ich will mich nicht beklagen, die Helfer an den Stationen kämpfen mehr als 24 Stunden gegen die Monster, um unser Überleben zu sichern. Es gibt hier Eiweiss, gekochte Eier. Das tut gut, genau wie die Pellkartoffeln. Man braucht basische Lebensmittel, der Magen rebelliert sonst.

Irgendwann gegen 15 Uhr gibt es einen „Temperatursturz“ von etwa 5 Grad. Für die meisten von uns leider zu spät. Eine Stunde weiter kommt die Hitze zurück, allerdings mit leichtem Regen. Ganze Kriege sind wegen ungünstigem Wetter verlorengegangen, oder auch gewonnen worden. Heute gibt es auch Läufer, die trumpfen mit super Zeiten auf. Zum Beispiel Patricia, sie wird heute die Rolle machen. Jens wird den fünften Platz einnehmen, wie letzte Woche seine heutige Supporterin, die Ricarda, die beim Badwater auch den fünften
Platz einnahm.

Wenn ich gerade von Bekloppten reden: David Ross läuft auch die 100 Meilen, obwohl vor zwei Wochen noch Badwater. Noch bekloppter sind Karl Rohwedder und  Conny, die seit km 35 auch Rohwedder heisst.  Früher hatte man nach der Hochzeitsnacht ein blutiges Bettlaken ins Fenster gehängt, heute tut es auch mal ein verschwitzes Finishershirt.

Zurück auf die brütende Laufstrecke und zum Eiskeller. Das war eine Exklave Westberlins innerhalb der DDR. 20 Einwohner lebten hier auf drei Bauernhöfen. Verbunden war Eiskeller mit einer vier Meter breiten und 800 Meter langen Strasse. Innerhalb der Exklave gab es Enklaven von Brandenburg, also DDR Gebiet. Man orientierte sich an der Grenzvorgabe von 1920, dem damals geschaffenen „Groß Berlin“, so entstand das bescheuerte Gebietswirrwar. 

Hier von der Exklave Eiskeller gibt es ausser Fluchtgeschichten auch eine witzige Geschichte: Ein Junge  behauptete, Vopos hätten ihn auf dem 800 Meter langen Weg zur Schule aufgehalten. Die Briten brachten daraufhin das Kind jeden Morgen mit dem Panzerwagen zur Schule.  1994 gestand er,  dass er die Story erfunden hatte, weil die Schule scheisse war. Was hier am Rande Berlins noch witzig war, war in der Innenstadt verdammt brenzlig. Dort, am Checkpoint Charly standen sich die Panzer schussbereit gegenüber.

Wir gedenken Adolf  Philipp (21), Klaus Schulze (19) und Helmut Kliem (31), alle hier erschossen. Es war 1970, Helmut wollte seinen einjährigen Sohn Heiko abholen. Im Motoradbeiwagen sitzt sein Bruder, sie schwätzen, Helmut verfährt sich. Erst nach der Wende erfährt der inzwischen 27 Jahre alte Heiko, warum er seinen Vater nie kennenlernte.

Bei km 52 ist der VP 9, Falkenseer Chaussee. Links alte Westhäuser, kasernenartig, rechts die schucken Dinger, die auf dem ehemaligen Todesstreifen gebaut wurden, und ich, zum dritten Mal auf dem Weg zur Kneipe „Grenzeck“. Die Kneipe direkt an der Mauer, in der Kneipe Fotos. Willi Block starb hier 1966.

 
© trailrunning.de 41 Bilder

Willis Schicksal ist besonders tragisch. Er baute an der Mauer mit, kannte hier jeden Winkel. Niemand weiß genau,  wie oft er über die Mauer ist. Es könnte fast jede Nacht gewesen sein. Als er mal wieder im Osten war, um seine Frau nachzuholen, wurde er verhaftet, als IM verpflichtet, kam frei, flüchtete wieder. Er ging wieder nach Osten, weil seine Frau die Scheidung wollte. Erwischt, JVA Bautzen. Dann 07. Februar 1966 Kneipe „Grenzeck“ 15:45 Uhr. Genau die Zeit, wie ich jetzt auch. Willi war sternhagelvoll, rennt Richtung Westen und bleibt zwischen drei Rollen Stacheldraht hängen, robbt sich blutig. Er ruft nach Westen, wo die Westpolizei glotzt: „Helft mir!“ – „Erst wenn du im Westen bist!“ Vom Osten rufen die Grenzer: „ Komm zurück du Arsch!“ Darauf Willi: „ Erschießt mich doch, ihr Hunde!“  Der Regimentskommandeur feuerte das ganze Magazin seiner Pistole leer, Willi windet sich im Stacheldraht, da nimmt sich der Kommandeur die Kalaschnikow von seinem Untergebenen und richtete Willi mit 72 Schuß hin.

Am Abend lag die Leiche von Willi hier vor dem „Grenzeck“ auf der Ladefläche eines LKW´s. Zwei Grenzsoldaten war der Anblick der Leiche zu viel. Sie nehmen Anlauf  und schaffen es über die Mauer.

Eine alte Frau schiebt ihren Rollator über schmerzhaftes Kopfsteinpflaster, auf Westseite, der hässlichen, der ungepflegten Seite mit den Kasernenhäusern aus den 50ern. „Wohnen Sie schon lange hier?“ frage ich. „Hau ab, lass mich in Ruhe mit dem Scheiss!“

Km 57. Der Hahneberg in Berlin Staaken entstand durch den Abbau einer Kiesgrube. Hier werden auf der lieblichen Wiese, wo Heidschnucken grasen, Reste der Mauer gestapelt. Aus Naturschutzgründen: der Steinschmätzer lebt hier, zumindest zeitweise, wenn er nicht in Afrika ist. Sudan und Kenia, 30.000 Kilometer macht er pro Jahr, 450 km in einer Nacht. Der ist voll bekloppt, legt 6 Eier in die Mauerreste und wartet dann 14 Tage. Na gut, der Piepmatz ist cool. Soll ich Euch was sagen? Ich habe noch 103 Kilometer vor mir.

Potsdamer Chaussee km 63, dort hat Herr Pagel seit der ersten Austragung des Mauerweglaufes seinen Verpflegungsstand, lädt jedes Jahr Freunde und Nachbarn ein, um uns zu feiern. Der Bauunternehmer trägt damit seinen Teil gegen das Vergessen bei.Wir gedenken Lothar Henning, Rainer Liebeke, Erna Kelm und Lothar Lahmann, die hier erschossen wurden.

Der DDR gelang es doch glatt, dem Westen die Hälfte vom Groß Glienicker See zu verkaufen. Im Winter ärgerten Spandauer auf dem zugefrorenen See die DDR-Grenzer, indem sie auf die „Ost-Seite“ wechselten. Für DDR Bürger war der Blick auf den See durch die Mauer verwehrt, der Strassenname „Seepromenade“ klingt da höhnisch.

Wir laufen durch das Potdamer Tor des  im Krieg stark zerstörten Rittergutes Groß Glienicke, das durch die DDR-Grenze geteilt wurde. Fontane schrieb einst über die Familie von Ribbek, die hier in der Gruft liegt. Wir laufen am Herrenhaus, der Mühle, der Brennerei und der Ziegelei vorbei. An der Straße stehen drei gelbe Backsteinhäuser, einst die Gutskindergärten. Im Wald liegt die „ Burg“ eine kleine verspielte Ruine mit einem kleinen Brunnen davor, irgendwie märchenhaft. Dann ein Stück der Mauer mit Blumenkränzen.

 

Informationen: 100 Meilen Berlin (Mauerweglauf)
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