Ich bin an der Grenze. An der ehemaligen und an der körperlichen.
Auch wenn die Grenzsoldaten auf die Beine der Flüchteten zielten, so hatte die AK47 der Grenzer eine ziemliche Streueigenschaft und traf oft genug tödlich. Dies ist wahrscheinlich auch ein Grund, weswegen von zwei Flüchtenden oft einer die rettende Seite erreichte. Nein, Grenzsoldat war kein guter Job. Wäre ich geflohen?
Von nun an befinden wir uns auf der östlichen Seite West-Berlins. Beate schiebt ihr Fahrrad, wir gehen nun Richtung Süden. Es ist dunkel, unheimlich dunkel. Ihr ist nicht wohl und mir ist schlecht. Es ist kalt.
Bei der Orianienburger Chaussee 13 flüchteten am 24. Jan 1962 28 DDR-Bewohner durch einen Tunnel. Vier Häuser weiter flüchteten im Mai 1962 11 DDR-Bürger durch einen Tunnel. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es schon 10 Mauertote.
Der „Entenschnabel“ ist eine DDR Exklave auf West-Berliner Gebiet. Wie ein Fersensporn ragt der DDR-Schnabel auf einer Breite von 100 Metern nach West-Berlin hinein. Die Straße „Am Sandkrug“ ist auch noch heute eine Sackgasse und etwa 500 Meter lang. In Hermsdorf biegt der Mauerweg nach Westen ab, wir wechseln mehrfach auf ehemalige DDR Seite und zurück. Ich habe hier ein paar Probleme mit der Wegmarkierung, es geht ja durch Wohngebiete, wo war hier die Mauer? Beate fährt vor.
Andreas Deak hat die Markierung des Laufes gemacht. 4000 rote „Tagespfeile“ 1500 reflektierende „Nachtpfeile“ dazu unzählige „Knickleuchten“ und Sprühkreidemarkierungen.. Eine Sisyphosarbeit, die von unzähligen Randalierern, Souvenierjägern und Revierchaoten torpediert wurde. Nur wer schon einmal so einen Lauf mitgemacht hat, die ganze Nacht im Läufertran durch die Gassen geirrt ist, der weiß, wie überlebenswichtig die Markierungen sind. Danke!
Beate muss nach Hause, ich bin wieder allein.
Bei km 131 starb am 25.12.52, also vor dem Mauerbau, ein West-Berliner Polizist durch die Kugel eines sowjetischen Soldaten. Michael Bittner starb bei seinem Fluchtversuch, als er den Signalzaun berührte, durch mehrere Schüsse der DDR-Grenzsoldaten.
Die Gedenktafel an Michael Bittner steht auf dem Grundstück von McDonalds. Hier bleibe ich stehen, diese Kombination macht mich verdammt nachdenklich. Klar bin ich ein knallharter Lebemensch. Aber heimlich, das sollte niemand wissen, auch ein Gefühlsmensch. Aber was in diesem Moment in dieser körperlichen Grenzsituation in mir vorgeht, kann ich hier nicht wiedergeben.
Nur so viel zur Geschichte: Am 23. Nov. 1986 überwand Michael Bittner mit einer Leiter um 1:20 Uhr die Hinterlandmauer an der Nohlstraße. Durch Berührung des Signalzaunes löste er Alarm aus. Die Grenzer waren 200 Meter entfernt, liefen heran. Bittner stand oben auf der Leiter, hier vor McDonalds, drei Schüsse aus unmittelbarer Nähe. Herzruptur. Der Leichnam gilt als verschollen. Die Behörden der DDR und des MfS vertuschten den Tod von Bittner. Sie erfanden eine kriminelle Menschenhändlerbande, sie leiteten ein Ermittlungsverfahren gegen den Toten ein, in dessen Verlauf Haftbefehl durch das Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte erlassen wurde.
In diesem Augenblick kommt ein Typ vorbei, zersticht sämtliche Luftballons, die hier für einen Kindergeburtstag angebracht waren. „UUUps“ sagte er und ich kotze in den Grünstreifen.
Ein Läufer sagt zu mir, als er die Bilder der Maueropfer auf den Gedenkstehlen sieht: „Mensch, das sind ja alles Kinder!“ Tatsächlich ist es so, dass die meisten sehr jung waren, aktuelle Fotos gab es nicht in der DDR, so haben die Initiatoren u.a. Rainer Eppelmann und Michael Cramer auf alte Fotos zurückgreifen müssen. Michael Cramer hat einen sehr guten Führer über den Mauerweg geschrieben, für diejenigen, die 160,9 km mit dem Fahrrad fahren können. Er wird morgen bei der Siegerehrung anwesend sein.
Bei VP 19, km 133 verlassen mich die Kräfte. Ich bin gefährlich unterzuckert, mir ist saukalt und der ganze Körper zittert. Gäbe es von hier einen Transport zurück, dann .... So liege ich 90 Minuten auf einer schmalen Bank und lasse mich von unzähligen Mücken aussaugen. Um 3 Uhr wird das nette Verpflegungspersonal ausgetauscht und Kaffee gebracht. Das erste Mal in meinem Läuferleben registriere ich, dass 27 Kilometer, die ich noch ins Ziel brauchen werde, verdammt weit sind. Um 3:30 mache ich mich auf.
Natur und kleine Dörfer charakterisieren nun den Mauerweg. Rechts der kleine Tegeler Fließ, Brutstätte dieser lästigen Viecher, die meinen Körper in eine Quaddellandschaft verwandelt haben. Der Weg ist schmal, Goldähren reichen weit hinein. Die Kälte bringt mich um, der Körper will loswerden, was keine Miete zahlt.
Bei km 139 sind wir beim VP 20, Lübars, genannt Checkpoint Qualitz, nach dem Bauern Qualitz, der mit seinem Trecker hier die Mauer durchbrach. Er wollte 7 Monate nach dem eigentlichen Fall der Mauer endlich eine freie Blankenfelder Chaussee haben. Zwei Tafeln aus zwei Grenzmauerblöcken markieren diese Stelle. Ich verstehe, warum kaum noch etwas von der Mauer erhalten ist. Die wollten diesen Rotzdreck, diese Ausgeburt politischer Perversität, einfach nicht mehr haben.
Lübars ist ein kleines landwirtschaftliches geprägtes Dorf, das einzige auf Berliner Stadtgebiet. Pferdehaltung und zahlreiche Dreiseithöfe mit klassizistischen Stuckfronten prägen diesen Touristenort.
Bei km 140 starb der 20jährige Horst Frank. Er durchschnitt in der Kleingartenkolonie „Schönholz“ zusammen mit einem Freund am 28.April 1962 den letzten Sperrzaun. Horst Frank starb unter dem Dauerbeschuss, sein Freund gelangte unbemerkt nach West-Berlin.
Bis zum Bahnhof Wollkanstraße, bei km 145 ist es ein Scheißweg.
Sperrmüllhaufen links und rechts der Bahndamm. Hinter dem zerrissenen Zaun links, zwischen all dem Müll, höre ich unheimliche Stimmen von irgendwelchen Aldi-Karton-Bewohnern. Ich wage nicht meinen Kopf zu wenden, um mit meiner Stirnlampe die stinkende Brache zu durchleuchten. Oh Berlin, du kannst so schön hässlich sein....! Ob es Hundekot war, kann ich nicht mehr beurteilen.
Der Bahnhof Wollkanstraße lag auf DDR-Gebiet, durfte aber von West-Berlinern benutzt werden. Für Ostberliner war er gesperrt. Kirschbäume markieren den ehemaligen Kolonnenweg, der direkt am nördlichen Ausgang des Bahnhofs entlang führte. Ich stehe vor dem Verpflegungstisch und versuche Nahrung zu orten. Petra ist es, glaube ich, die sagt: „Joe, lass es sein!“ Sie hat recht, irgendwann geht im Verdauungstrakt nichts mehr. Ein paar Gurkenstücke und ich laufe weiter.
Über die Mauer flogen nicht nur Ziegel und Flaschen, auch Zigaretten, Erdnusspäckchen und Schokolade fanden den Weg nach Osten. Links ein Stück „Hinterlandmauer“ beim ehemaligen Übergang Bornholmer Straße. Die Bilder vom 09.Nov.1989 gingen um die Welt, als hier unter dem Druck der Ost-Berliner der Grenzübergang geöffnet wurde. Die DDR-Regierung ließ am Abend eine neue Reiseregelung verkünden und die Menschen aus Pankow und Prenzlauer Berg machten sich noch in diesem Augenblick auf den Weg nach West-Berlin.
Es ist schon sehr bewegend hier vorbei zu laufen und sich an diese Fernsehbilder zu erinnern. Ich war damals in Darwin, Nordaustralien. Ich war in der Jugendherberge, um mich rum etwa 50, 60 Jugendliche aus der ganzen Welt, die staunend diese Bilder betrachteten. Für mich war die Öffnung der Grenzen eine zwingend vorgegebene Angelegenheit, eigentlich normal, für die Australier, Briten und Japaner ein unfassbares Ereignis. Die ganze Nacht lief der Fernseher und unter den unglaublichen Rufen der Anwesenden bin ich im Time-lag eingeschlafen.