Legendär ist der Kampf des Verlegers Axel Springer gegen das SED-Regime, der nach einem ergebnislosen Treffen mit Chruschtschow im Janaur 1958 begann. Springer, der vehement für die Wiedervereinigung kämpfte und den Politikern mit seinen ausgeklügelten Wiedervereinigungsplänen um mindestens 30 Jahre voraus war, ergriffen schizophrene Schübe. Er begann, die Sowjetunion als „Reich des Bösen“ journalistisch zu bekämpfen. Vom Axel-Springer-Hochhaus, an dem wir nun vorbeilaufen, leuchteten einst 5 Meter hohe Westnachrichten hinüber nach Ost-Berlin.
Die SED-Führung entschloß sich daraufhin, das Springer Hochhaus mit einem ganzen Stadtviertel aus Hochhäusern abzuschirmen. 1969 waren die Spitell-Kolonaden vollendet.
Die Schillingsbrücke war wüst mit Stacheldraht verwebt, wie der Schuh mit Spinnweben, den ich im Elektrokeller fand. Die einfachen Grenzer patrollierten auf der Brücke, oben in den warmen Türmen saßen die Offiziere. Jeder Grenzer hatte 15 Leuchtspurgeschosse für die „Gefechtsfeldbeleuchtung“. Rotes signalisierte „Grenzdurchbruch von Ost nach West“, Grünes bedeutete „Grenzdurchbruch von West nach Ost“. Wer grün ballerte, war nicht richtig im Kopf oder musste dringend aufs Klo. An Toiletten hatte Walter Ulbricht bei seiner Mauerplanung nicht gedacht und der NVA-Tee brachte Durchfall. Die Grenzer warfen also vollgeschissene Tüten nach Westberlin. Die Westberliner schossen diese Tüten samt Farbbeutel per Gummischleudern zurück. Die NVA-Stuhlgangprobleme gingen soweit, daß Postenturm auf Postenturm schoss, nur weil ein Grenzsoldat, der sich im Schatten des Turmes hinhockte, als „Grenzverletzer“ identifiziert wurde. Ist der Soldat, der auf die 380 Volt Leitung pinkelte ein Maueropfer?
Die Bildzeitung brachte ein Foto eines kackenden DDR-Grenzers auf die Titelseite, als 1967 ein Fakalienauto der Westberliner Versorgungsbetriebe auf der Lohmühlenbrücke den Hahn öffnete und 4 Tonnen feinste Westprodukte auf den Postenturm pladdern ließ. Geiler Protest!
Die Ballerei mit den Leuchtpistolen wurde verstärkt durch die Stolperdrähte, die 100 Meter weit ins „Hinterland“ gespannt waren. Jede Ratte, jedes Karnickel löste ein Feuerwerk aus. Hunde flippten aus, Kradstreifen fetzten den Kolonnenweg entlang, Motoren drehten durch. Die Hysterie gegen den „westlichen Klassenfeind“ setzte in stetiger Regelmäßigkeit solche Grenzspektakel in Gang, wobei man im Westen dann nicht wußte, ob es wieder einen Fluchtversuch gab oder nicht.
Spektakel machen heute die Partyflöße, deren Bässe unsere Lungen vibrieren lassen. Die Flöße sind randvoll mit randvollen Gästen, unsere Laufstrecke übersäht mit zerbrochenen Bierflaschen, die sich knirschend in die Laufschule bohren. An der East-Side Gallery, dem langen Stück Mauer, die kein Original mehr ist, laufe ich schnell vorbei. Sie wird gerade renoviert, die Schmierereien haben Überhand genommen.
An der Oberbaumbrücke gab es damals einen Fußgänger-Grenzübergang. Friedrichshain war sowjetischer Sektor, Kreuzberg amerikanischer. Hier ereignete sich der erste tödliche Grenzzwischenfall, als ein Ostpolizist von einem Schmuggler aus Friedrichshain überfahren wurde.
Vom Balkon des Panometers „The Wall“ gibt es den Situationsblick auf die Oberbaumbrücke, als hier die Kinder starben, die nur mal spielen wollten. Die Sektorengrenze war am Westufer, die Mauer aber erst am Ostufer. Wer also kann wissen, bis wohin geschossen wird? Da hier schon zwei Männer erschossen wurden, wagte sich niemand ins Wasser, um die Kinder zu retten, die vor den Augen zahlreicher Schaulustiger starben. Andreas war 6 Jahre alt, als ein Spielkamerad ihn ins Wasser schubste. Niemand wagte es, ihn zu retten. Siegfried war 5, als er aus Versehen in die Spree fiel. Niemand wagte es, ihn zu retten. Guiseppe wurde 6. Niemand wagte es, ihn zu retten. Cetin wurde 5. Niemand wagte es, ihn zu retten. Cengaver wurde 9, er wollte nur die Enten füttern. Niemand wagte es, ihn zu retten.
Aber es geht noch schlimmer: Die Eltern mussten die Leichen ihrer Kinder der DDR gegen Westmark abkaufen. Wer ist stolz ein Deutscher zu sein? „Es war alles nicht so schlimm“, sagte der Typ in der Bahn.
Bis zum Mauerbau fand auf der Oberbaumbrücke ein reger Handel mit Zeitungen, Südfrüchten, Nylonartikeln und Sonstigem statt. Jetzt setzt man Alkohol und Drogen um. Unter den roten Bögen der Brücke stinkt es streng nach Urin und Erbrochenem. Vorsicht mit der Kamera, hier versteht man keinen Spaß! Ich laufe den Mauerweg lieber im Uhrzeigersinn, so wie dieses Jahr, dann ist das Läuferfeld in diesem Bereich noch dicht beisammen.
Sofern sich die verschwiemelten Gestalten noch bewegen können, machen sie uns torkelnd Platz. Einer versucht, vor mir eine Verbeugung zu mache und fällt dabei wortlos auf die Nase. Ich muss lachen. „Berlin, du kannst so schön häßlich sein“.
An den Kurven muss man aufpassen, daß man nicht über die biergefüllten „Frühstücktische“ stolpert. Kneipen, Kioske und Frühstückscafés sind rund um die Uhr geöffnet. Müll türmt sich, auf brachliegenden Grundstücken pennen Obdachlose. Ich habe nie erwartet, daß dieser Lauf einmal schön sein wird.
Einmal flog ein Pole vom nahen Flughafen Schönefeld Richtung Westen, verfolgt von zwei DDR-Abfangjägern. Aber sie haben ihn nicht erwischt, direkt über der Mauer zogen sie in einer steilen Kurve nach oben und der Pole landete auf der Kiefholzstraße.
Links waren die DDR-Kleingartenanlagen, rechts die von Westberlin. Als ich jemanden auf der Ostseite in der Kleingartenanlage „Sorgenfrei“ nach einem Bier frage, um damit meinen Magen zu beruhigen, mault er mich an. Man wünscht sich offensichtlich auf beiden Seiten die Mauer zurück: „Damals gab es keine Einbrüche, jetzt ziehen hier professionelle Banden aus Osteuropa durch“. Ich ziehe weiter und gelange zu einer Bronzewand, aus der die Silouette eines Kindes geschnitten ist, drumherum Einschußlöcher. Hier starben 1966 Jörg (10 Jahre) und Lothar (13 Jahre ) im Maschinengewehrfeuer, als sie von der Ost-Kleingartenanlage „Sorgenfrei“ durch ein Rohr unter der Mauer zu Jörgs Vater nach West-Berlin flüchten wollten.Die Leichen der Kinder wurden eingeäschert, den Eltern erzählte man Märchen, damit sie nicht weiter nachfragen. Das Denkmal trägt die Inschrift: „ In Treptow starben fünfzehn Menschen an der Berliner Mauer. Unter den Opfern waren 2 Kinder…erschossen am 14.3.1966.“
Rechts, im Westen ist die Kleingartenanlage „Freiheit“ im Osten die Kleingartenanlagen „Einsamkeit“ und „Kuckucksheim“. Nach einer gelungenen Flucht rief ein Westberliner den DDRlern zu, sie sollten die Jacke von dem Flüchtling rüberwerfen, da sei noch Geld drin.
Erich Kühn wurde direkt in den Bauch geschossen.
Keigo aus Japan hat richtig einen an der Wachtel: Er läuft im Spidermankostüm mit Gesichtsmaske. Als ich ihn überhole, zweifel ich, ob er körperlich oder geistig diesen Lauf schaffen wird, zumal sein Laufstil kein Laufstil und er nicht ansprechbar ist. Respekt! Er wird es schaffen und so einer der Läufer aus 33 Nationen sein, der ein Stück beschissene Geschichte in die Welt tragen wird.
Nach der Halbmarathonmarke geht’s entlang des Britzer Zweigkanals, hier ist die Gedenkstele für Chris Gueffroy, genau gegenüber des imposanten Fabrikgebäudes von Mondelez International, dem drittgrößten Nahrungsmittelhersteller der Welt (nach Nestlé und PepsiCo). 1981 wurde das Fabrikgebäude erbaut. Hier wurde der Jacobs Kaffee geröstet, den wir mit Carepaketen zu den Verwandten in die DDR schickten. Ich habe die Pakete zur Post bringen müssen, daher sind mir meine Verwandten zumindest namentlich bekannt gewesen. Chris Gueffroy ist das letzte Maueropfer (1989). Er dachte, wegen der kurz bevorstehenden Wiedervereinigung würde nicht mehr geschossen. Seine Mutter Karin ist jedes Jahr bei der Siegerehrung dabei.
Auf den nächsten 10 Kilometer entlang des Britzer Kanals und des Teltowkanals lasse ich meiner Laufbegeisterung freien Lauf. Es stimmt alles, bis auf Magen/Darm. Es liegt nicht an der NVA-Plörre und nicht an den Getränken an den Verpflegungsstellen, dort gibt es basische Sachen, wie Käse, der hilft einige Kilomter lang.
„Bier für Joe“ steht in großen Lettern auf dem Mauerweg, damit ist nicht der 10 Jahre jüngere Ire gemeint, sondern ich. Solche Spitzfindigkeiten sind normalerweise nicht mein Ding, ich erwähne es, weil Medien-Allüren der Demut und dem Respekt vor diesem Lauf Platz machen.
Hans-Joachim Wolf wurde hier erschoßen.
Am Teltowkanal gelang Hartmut Richter auf der Höhe des jetzigen Holzheitzwerkes die Flucht. Er schmuggelte in den folgenden Jahren 33 Freunde und Verwandte im Kofferraum aus der DDR. Ausgerechnet, als er seine Schwester im Kofferraum hatte, wurde er verhaftet.
Die Möglichkeit, Menschen im Kofferraum zur Flucht zu verhelfen, ergab sich erst nach Unterzeichnung des Moskauer Vertrages (Verpflichtung zur Entspannung, 1970 ). Die Bundesregierung wollte den Vertrag nur ratifizieren, wenn es Erleichterungen beim Transitverkehr gibt. Man vereinbarte, daß die DDR weitgehend auf ihre Hoheitsrechte auf den Transitstrecken verzichtete, den Kofferraum durften sie ab da nur bei begründeten Zweifeln kontrollieren. Bonn überwies für diese Vereinbarung jährlich 235 Mio Mark, später eine halbe Milliarde. Peanuts im Vergleich zu den Millarden, die FJS der DDR 83-84 als Kredit überwies, gerade als wieder Bundesbürger an der Grenze erschossen wurden. Das Geld kam über Schalck-Golodkowski aus der Schweiz. Bürge war die Bundesrepublik.
Lutz, der DDR-Jugendmeister im Radfahren starb am Grenzübergang Waltersdorfer Chaussee im Kugelhagel. Die Gedenktafel mit ausgefräster Inschrift wurde 2008 aufgestellt. Hier war der Übergang für Flugpassagiere zum Flughafens Schönefeld. Wer ein Flugticket hatte, der durfte rüber, die Billigflüge von Ostberliner Gebiet mussten in West-DM bezahlt werden. Wiederum eine Millioneneinnahme für die bankrotte Ostberliner Regierung. Es drängen sich Vergleiche auf. Die Flucht per Flugzeugentführung endete mit Selbstmord der Flüchtenden.
Beim VP Rudow treffe ich Moni wieder. Sie hat mich mit ihrer Fröhlichkeit und ihrem Dirndl 2013 aufgebaut, als mir zwei Stunden vorher die Achillessehne gerissen war. Wer nun zum ersten Mal einen Bericht von mir liest: Ja, man kann mit gerissener Sehne 100 Meilen finishen. Und ja, man muss dafür ein bißchen härter sein, als ein Normalläufer. Und nein, es ergeben sich dadurch garantiert keine besseren OP-Ergebnisse.
Der erste Dönershop in Rudow verkauft kein Bier, er sei stolz darauf, daß er keinen Alkohol verkauft, sagt mir der Wirt. Der zweite Wirt hat ein großes Halal-Schild, aber er hat Bier: „Was machen?“ – Mauerweglauf!“ – „ ???“ – Na, wir laufen dort lang, wo vor 55 Jahren die Mauer zwischen West- und Ost-Berlin gebaut wurde!“ – „???“ – Hier war die Mauer, 3,6 Meter hoch, genau vor diesem Laden!“ „-???“