Vezza d`Oglio? Heinrich, mein Bergführer aus Südtirol, der mich von Sulden aus auf den Ortler begleitet hat, kennt das Städtchen nicht, obwohl es nur etwa 30 km südlich im Valle Camonica in der italienischen Provinz Brescia liegt. So ginge es wohl auch mir, wäre ich nicht schon zweimal in Sachen Trailrunning dort gewesen.
2010 war Vezza d`Oglio Endpunkt des damals zum ersten Mal ausgetragenen Adamello Super Trails. Damals gab es bei ca. 130 Gestarteten genau einen Finisher. Und ich erlebte mein erstes DNF. In 2012 versuchte ich mich erneut an der 160 km langen Distanz von Brescia nach Vezza d`Oglio. Diesmal wurde das Rennen nach 85 km wegen Gewittern abgebrochen.
Der Adamello Ultra Trail (AUT) hat allerdings mit seinem Vorgänger, außer dem namensgebenden „Adamello“, nicht gemein. Der Adamello ist ein großes, bis zu 3.500 m hohes Bergmassiv am Südrand der Ostalpen. Es liegt an der Grenze zwischen der italienischen Provinz Brescia und der Autonomen Provinz Trient, halbwegs zwischen Gardasee und Ortlergruppe, die jeweils 30 km entfernt sind.
Der Adamello Ultra Trail ist jetzt ein Rundkurs mit Start und Ziel in Vezza d`Oglio. Ursprünglich 175 km, in der letzten Planungsphase dann 180 km, werden bei einem positiven Höhenunterschied von etwa 11.000 m aufgerufen.
Die Strecke verläuft zum allergrößten Teil abseits der Zivilisation auf schmalen Gebirgswegen, teilweise auch nur auf Pfadspuren und vereinzelt auch weglos. Etwa 15 signifikante Anstiege führen auf Höhen zwischen 2.000 und knapp 2.600 m.
In der ersten Hälfte tangiert der Track immer wieder gut erhaltene oder auch restaurierte Befestigungsanlagen des „Guerra Bianca“. Während des 1. Weltkriegs waren die Region und die östlich angrenzenden Dolomiten zweieinhalb Jahre lang Schauplatz heftiger Kämpfe zwischen italienischen und österreichisch-deutschen Truppen. Guerra Bianca bedeutet Weißer Krieg, ein Hinweis auf die extremen Bedingungen mit Eis und Schnee bei den Kämpfen im Hochgebirge.
Dem Verlauf der ehemaligen Frontlinie folgt heute als Wanderweg der „Friedensweg“ (Sentiero della Pace). Er beginnt in den Sextener Dolomiten, nahe der heutigen Grenze zu Österreich (Osttirol) und zieht sich über knapp 500 Kilometer durch die Berge Südtirols nach Westen bis fast zur Schweizer Grenze am Stilfser Joch.
Der AUT tangiert die Regionen Lombardei und Südtirol sowie zwei Nationalparks (Stilfser Joch und Adamello). Acht Kommunen entlang der Strecke unterstützen das Organisationskomitee des AUT um Paolo Gregorini bei der Erstaustragung dieses großen Laufs.
Ich erfahre im späten Frühjahr 2014 vom vorgesehenen Termin des 1. Adamello Ultra Trails, dem letzten Wochenende im September. Der Termin ist gut gewählt, sind doch im Herbst am ehesten stabile Wetterbedingungen im Hochgebirge zu erwarten. Die Informationen auf der Website des Veranstalters werden im Laufe der Planungen immer konkreter. Die Ausschreibung verspricht alles, was einen großen Trail ausmacht, und ich melde mich an.
Der Start zum AUT ist am Freitag, 26.09.2014 um 11:00 h. Ich reise am Donnerstag an. Der Veranstalter stellt eine kostenlose Übernachtungsmöglichkeit in einem ehemaligen Ferienheim zur Verfügung. In einfachen, aber sauberen Mehrbettzimmern fänden etwa 80 Teilnehmer Platz. Bei 56 Gemeldeten ist der Andrang allerdings überschaubar.
Am Freitagabend findet ein Briefing statt. Ich bin der einzige Ausländer. Meine Italienischkenntnisse reichen gerade aus, um die wesentlichen Punkte zu verstehen. Die Organisatoren und Helfer haben die Strecke durchgehend markiert und dabei etwa 10.000 Fähnchen mit Reflektoren im Stile des Tor des Géants gesteckt. Die Mitnahme eines GPS-Geräts wird zwar empfohlen, erscheint mir aber nach dieser Information nicht zwingend.
Wegen der Verlängerung der Strecke von 175 auf 180 km werden das Zeitlimit um eine auf jetzt 51 Stunden verlängert und die Cut-Off-Zeiten ebenfalls angepasst. Bei einer Pace von 3,53 km/h sollte das auch für mich als langsamer Läufer eine lösbare Aufgabe sein.
Am Morgen des Starttages hat es in Vezza d`Oglio 5° C. Ein wolkenloser Himmel verspricht einen traumhaften Herbsttag. Die Wetteraussichten sind für die kommenden zwei Lauftage bestens. Ich bin allerdings nicht der einzige, der mit einem gut gefüllten Olmo 20 am Start erscheint. Die meisten haben wohl in der Erwartung sehr kühler Nächte durchaus etwas mehr als die vorgeschriebene Pflichtausrüstung eingepackt.
Der kleine Markplatz füllt sich mit Läufern und einer doch erstaunlich großen Zahl von Zuschauern. Kindergarten- und Grundschulkinder freuen sich sichtlich über die Abwechslung.
Um 11:00 h werden wir in östlicher Richtung auf die Strecke geschickt. Das Ortsende ist schnell erreicht und das Abenteuer beginnt. Der erste Anstieg führt auf die Cima Rovaia. 1.470 Höhenmeter auf knapp 9 km entsprechen einer Steigung von mehr als 16 Prozent. Zuerst geht es auf einem alten Karrenweg zu einem aufgelassenen Gehöft, später auf Singletrails durch Wald bis über die Baumgrenze. Die Trasse ist perfekt markiert.
Kurz vor dem höchsten Punkt treffen wir zum ersten Mal auf Befestigungsanlagen aus dem Guerra Bianca. Wir folgen den Trockenmauern mit Schießscharten und laufen durch die ehemaligen Schützengräben. Die Aussicht auf die sonnenbeschienene Adamellogruppe ist fantastisch. Trotzdem schaudert mich bei der Vorstellung, dass hier vor nicht einmal 100 Jahren Soldaten unter widrigsten Bedingungen um ihr Überleben bangen mussten.
Wenig später erreiche ich eine erste Kontrollstelle. Etwa 2:20 h sind seit dem Start vergangen. Ich liege auf Platz 33 und bin mehr als zufrieden.
Es geht zuerst noch etwas bergauf, danach ist ohne großen Höhenverlust ein Kessel zu queren. Blockgelände und gut laufbare Singletrails wechseln sich ab. Bald erreiche ich den Übergang ins nächste Tal, die Porta Muralta (2.600 m). Das Panorama ist großartig, der ältere Herr an der Kontrollstelle bestens gelaunt.
Eine schmale, teilweise kaum sichtbare, Pfadspur führt zunächst steil, dann flacher zum ersten Ristoro (Plasa Gerù, 2.230 m). Es gibt Wasser, Cola, Bananen, Trockenfrüchte, Kuchen, Schokolade und anderen Süßkram.
Jetzt geht es tendenziell erstmal bergab, allerdings immer wieder mit ordentlichen Gegenanstiegen, bis das nächste Ristoro (Cortebona, 1.770 m) bei km 17,50 erreicht ist. Die Wege sind traumhaft und recht gut laufbar. Je nach Höhenlage verlaufen die Singletrails entweder im Wald oder über freies Gelände. Nach technisch anspruchsvolleren Passagen sitzen immer wieder freundliche Helfer, die zu Kontrollzwecken die Durchgangszeiten aufnehmen.
Dann ist erstmal Schluss mit lustig. Ein Kontrollposten weißt unmissverständlich nach oben. Einen Weg kann ich dort beim besten Willen nicht erkennen. Über steile Grashänge leiten mich eine Vielzahl von gelben Fähnchen in Richtung eines Jochs. Ich finde schnell einen Rhythmus und bewältige den Anstieg zu den Kriegsbefestigungen des Val Massa auf 2.500 m recht flott. Je höher ich komme, desto stärker bläst ein unangenehm kalter Nordwestwind. Trotz der schnell übergezogenen Windstopper-Jacke ist es mir in kurzer Hose nicht mehr wirklich warm.
Die Befestigungsanlagen sind beeindruckend. Sie überziehen das Joch auf mehrere 100 Meter Länge mit einem Wirrwarr von Mauern und Schützengräben. Die Markierungen führen durch die Gräben bis zum höchsten Punkt, folgen dann noch ein Stück weit dem Gratverlauf und treffen auf eine alte Militärstraße. Auf dieser geht es wieder bergab.
An einer Alm (Prisigai, 2.160 m) befindet sich die nächste Kontroll- und Verpflegungsstelle. Zwei nette und gutgelaunte Damen kümmern sich um mich als einzigen „Klienten“. Langweilig wird es ihnen aber auch nicht als ich aufbreche, zeitgleich treffen zwei weitere Läufer ein.
Im ständigen Auf und Ab führen Singletrails zur Alm Somalbosca (1.954 m) mit einer weiteren Kontrollstelle. Danach beginnt ein steiler und teilweise auch technischer Anstieg zum Laghetto Monticelli auf 2.306 m. Die beiden freundlichen Helfer dort haben einen Gaskocher dabei und bieten warmen Tee an. Sie erklären mir das Panorama. Nordöstlich ist die Straße des Gavia Passes zu sehen, über den ich angereist bin; südlich leuchten die Schneegipfel der Presanella in der Abendsonne.
Es folgt ein steiler und schwer laufbarer Abstieg ins Tal. Gute 720 Höhenmeter geht es bergab. Als ich die Baumgrenze erreiche, wird es dunkel. Die Stirnlampe ist griffbereit in der Außentasche meines Rucksacks. Die reflektierenden Markierungen leiten sicher und unmissverständlich in Serpentinen hinunter.
Ich erreiche das Tal und treffe zum ersten Mal seit dem Start wieder auf einen befestigten Fahrweg. Er führt eben in Richtung San Appollonia zu einer weiteren Kontrollstelle. Auf dem Weg dorthin beginnt meine Lunge zu schmerzen. Die feuchte und zunehmend kalte Luft die sich im Talgrund sammelt lässt mich immer öfter husten. Eine Zeit lang versuche ich das zu ignorieren, die Beschwerden werden aber immer heftiger. Ich suche nach Ursachen. Wahrscheinlich habe ich meine Bronchien schon bei der als Akklimatisierungstour vor dem AUT erfolgten Besteigung des Ortlers verkühlt. Der starke Wind beim Aufstieg im Val Massa war vermutlich auch nicht hilfreich. Solange es im Laufe des Tages dann trocken und relativ warm war, gab es keine Probleme. Jetzt in der Nacht scheint sich das zu ändern.
Zunächst laufe ich weiter in Richtung San Appollonia. Von dort sind es noch ca. 5 km bis zur nächsten Kontroll- und Versorgungsstelle Case di Viso. Auf dem Weg dorthin hadere ich mit meinem Schicksal. Ich liege gut in der Zeit und werde die Case di Viso mehr als 3 h vor der dortigen Cut-Off-Zeit erreichen. Damit läge ich sogar vor meinem Zeitplan und hätte einen für mich recht komfortablen Zeitpuffer herausgelaufen. Abgesehen von den Atembeschwerden geht es mir bestens. Auf der anderen Seite kenne ich meine Anfälligkeit für Bronchialerkrankungen bei Kälte. Nach meinem Finish beim Tor des Géants in 2010 musste ich fast 3 Wochen Kortison einnehmen.
Ich fasse die Augen-zu-und-durch-Option ins Auge. Allerdings ist es sehr wahrscheinlich, dass ich nach einer überstandenen ersten Nacht dann spätestens im Lauf der zweiten aussteigen muss. Das wäre dann immer noch ein DNF, zwar nicht schon bei km 40, dafür aber mit einer heftigen Bronchitis. Ich habe noch fast eine Stunde Zeit für eine Entscheidung. Als ich an der Kontroll- und Versorgungsstelle Case di Viso eintreffe, hat die Vernunft gesiegt.
Mit jetzt drei Tagen Abstand stehe ich zu dieser Entscheidung. Ich habe mir auch so eine ausgewachsene Erkältung eingefangen.
Freundliche Helfer bringen mich nach kurzer Wartezeit mit einem Land Rover zum Base Vita in Ponte di Legno. Dort wartet mein Drop-Bag. Ich kann duschen und mich umziehen. Es gibt Minestrone, Käse, Wurst und Brot. Das angebotene Bier lehne ich ab. Das habe ich mir in diesem Jahr nicht verdient. Gegen Mitternacht werde ich nach Vezza d`Oglio zurückgebracht. Die Gemeinschaftsunterkunft dort gehört mir alleine.
Auch wenn ich nur 40 km der Strecke erleben konnte, bin ich absolut begeistert. Landschaft, Wegführung, Organisation könnten nicht schöner und besser sein.
Etwa 200 Helfer haben sich bei dieser ersten Austragung des Adamello Ultra Trails mit unglaublicher Freundlichkeit und riesigem Engagement um gerade mal etwas mehr als 50 Läufer gekümmert. Die erfahrene Gastfreundschaft war überwältigend. Der AUT hat eine wesentlich höhere Teilnehmerzahl verdient.
Allerdings ist der Adamello Ultra Trail schon auch eine harte Nummer. Von 51 Startern konnten in 2014 gerade mal 20 innerhalb des Zeitlimits finishen (Finisherquote 39 %).
Die technischen Anforderungen setze ich im Vergleich zum UTMB deutlich höher an. Für 57,00 € weniger als beim UTMB gibt es 12 km an Distanz und 1.400 Höhenmeter mehr. Was aber viel wichtiger ist: Man meldet sich an, überweist das Startgeld und darf sicher laufen. Vezza d`Oglio ist über den Brenner via Trento recht gut zu erreichen. Von Frankfurt/Main sind es zum UTMB etwa 600 km, zum AUT nur ca. 100 km mehr. Wer also bei der Startplatzvergabe zum UTMB 2015 wieder mal durchs Raster fällt, wäre in Vezza d`Oglio bestens aufgehoben.
Paolo Gregorini, sein Organisationskomitee und die vielen freiwilligen Helfer haben schon bei der ersten Austragung des Adamello Ultra Trails alles richtig gemacht. Grazie mille!