Es ist Montagmittag und ich fahre bei schönstem Sommerwetter mit dem Zug von Brixen über den Brenner nach Innsbruck. Auch bei meiner Anreise war es sonnig bei 30 Grad. Dazwischen liegt aber eine Nacht, die ich in meinem Leben nie vergessen werde. Noch immer bin ich in der Erinnerung an den schwersten Lauf meines Lebens emotional so hin und her gerissen wie noch nie zuvor. Es gab unterwegs Stunden, in denen ich mir schwor: „Nie wieder“, doch rückblickend bin ich nun doch sehr froh, bei diesem Abenteuer dabei gewesen zu sein.
Normalerweise vermitteln die Fotos in meinen Reportagen einen guten Eindruck des Abenteuers. In diesem Fall solltet ihr aber auf jeden Fall auch meine Beschreibung der Nacht lesen, denn dieser Streckenabschnitt hatte einen technisch viel schwereren Charakter als die harmlosen Wege davor und danach. Nahezu jeder Teilnehmer brauchte hier doppelt so lange wie erwartet. Die Veranstalter wollten eine schwere Strecke für starke, erfahrene Trailrunner. Inzwischen sind sich wohl alle Teilnehmer darüber einig, dass dieser Anspruch mehr als nur erreicht wurde. Es war, als wollte man eine Katze kaufen und hat plötzlich einen Tiger am Hals. Aber wer sich bei einem Lauf anmeldet, der in der Ausschreibung mit dem Slogan "Laufen am Limit" beworben wird, darf sich nicht darüber wundern, wenn es dann für ihn sogar über das persönliche Limit geht. Jedem, dem der aktuelle "Immer härter, immer weiter"-Trend nicht gefällt, stehen zahlreiche einfachere Events zur Wahl. Der Rest kann beim Alpen X 100 seine eigenen Grenzen suchen, finden und vielleicht erweitern.
Zur Wahl stehen bei der Premiere 70 km ab Gossensass, 102 km ab Steinach am Brenner und 160 km ab Seefeld in Tirol, gemeinsames Ziel ist Brixen in Südtirol.
Das kleine Städtchen Steinach am Brenner erreicht man in einer halben Stunde vom 20 km entfernten Innsbruck. Außer einer barocken Pfarrkirche und dem interessanten Museum über den Bau des Brennertunnel, das direkt neben dem Gebäude unserer Pasta-Party liegt, gibt es hier nicht viel zu sehen. Als ich am Freitagabend von der durch eine äußerst vielseitige, reichhaltige Verpflegung überzeugenden Pasta-Party im Regen zum Hotel zurück spaziere, bin ich unglaublich froh darüber, dass ich mich dieses Mal nicht für die längste Distanz, sondern für die mittlere Strecke entschieden habe, die mit 6121 Höhenmetern Aufstieg und 6618 HM Abstieg nicht nur vom Profil sondern auch insgesamt schwerer ist als z.B. die 100 km bei Zugspitze, Eiger oder Mont Blanc. Die Wetterprognose für die Nacht ist hundsmiserabel. Mir tun die 160 km Läufer leid, die heute um 22 Uhr in Seefeld in Tirol starten und durch eine nasse, stürmische und kalte Nacht müssen.
Als ich Samstagmorgen um 8 Uhr unter einer großen Brücke der Brennerautobahn starte, hat der Regen endlich aufgehört. Leider verbergen aber noch immer dicke Wolken den Blick auf die Berge um uns herum. Schon seit über zwei Stunden laufen auf einer von unserem Startblock getrennten Gasse die schnellsten Teilnehmer der langen Distanz hier vorbei.
Sofort nach dem Start steigen wir einige Minuten lang steil bergauf. Ich denke noch, die führen uns ja schnell in die Höhe, da verlieren wir bereits wieder bei einem Abstieg fast alle gewonnenen Höhenmeter. Schon da sollten eigentlich Zweifel an den offiziellen Streckenangaben kommen, denn laut Tabelle gibt es auf den ersten 8,4 km nur einen einzigen Meter Abstieg. Aber dass zwischen Planung und Realität gewaltige Unterschiede klaffen, werden wir auf unserer Strecke noch sehr deutlich spüren.
Nun kann ich einige Kilometer weit in für mich idealer Steigung auf breiten Forstwirtschaftswegen laufen. Da die Kilometerangaben hier rückwärts gezählt werden, komme ich bald an der 100 km Marke vorbei. Für einen kurzen Moment erscheint am Himmel ein kleiner blauer Fleck. Der Wetterbericht lässt zumindest ab und zu Sonne erwarten, doch leider bleibt dies vergebliche Hoffnung. Bald sehe ich statt schöner Alpenlandschaft wieder nur noch Grau.
Ab der Gerichtsherrenalm steige ich auf einem Trail bergauf. Viele Flechten an den Bäumen zeigen an, dass es hier oft neblig ist. Auch uns umgibt nun immer stärkerer Nebel. Die erste Verpflegungsstelle sehe ich erst wenige Meter, bevor ich sie erreiche.
Fast 1000 Höhenmeter Aufstieg liegen nun schon hinter mir. Aufgrund der sehr kühlen Witterung freue ich mich über die warme Suppe. Wie bei allen Ultratrails müssen wir Teilnehmer unser Handy eingeschaltet lassen, damit der Veranstalter uns bei Bedarf wichtige Infos senden kann. Als jetzt mein Handy eine SMS signalisiert, setze ich den Rucksack ab, krame das Handy heraus und lese: „Hallo Günter. Du hast soeben die Verpflegungsstelle Nösslachjochhütte in einer Zeit von 1:43 passiert.“ Toll! Das hätte ich nie selbst gemerkt! Diese überflüssigen Meldungen erreichen mich auch bei den restlichen VPs.
Der Nebel wird immer dichter. Oft kann ich gerade mal hundert Meter um mich herum erkennen. Schade, denn am 2132 m hohen Eggerjoch hat man bei gutem Wetter sicherlich einen wunderbaren Panoramablick zu den eisbedeckten Gipfeln der Zillertaler und Stubaier Alpen. Nun löst sich der Nebel zumindest stark auf und ich kann die Berghänge in unmittelbarer Umgebung und einen kleinen See erkennen. 700 Höhenmeter Abstieg bringen mich hinab zur nächsten Verpflegungsstelle bei einem Wanderparkplatz im Obernbergtal.
An den Verpflegungsstellen merkt man, dass der Veranstalter Plan B nach langjähriger Erfahrung weiß, was Ultraläufer wollen. Da ist wirklich für jeden Geschmack etwas dabei. Bei dem kühlen Wetter freue ich mich besonders über die warme Suppe. Plötzlich wird es etwas unruhig, denn ein Läufer vermisst seine Stöcke. Jemand muss versehentlich mit seinen weiter gelaufen sein. Einige Minuten später herrscht dann große Freude, denn der "Irrläufer" hat seinen Fehlgriff unterwegs bemerkt und bringt die Stöcke zurück.
Die nächsten 700 Höhenmeter Aufstieg gefallen mir recht gut. Die Trails sind sehr angenehm, die Gegend ist abwechslungsreich, vor allem das Landschaftsschutzgebiet Obernbergersee ist recht fotogen. Am 2165 m hohen Sandjoch überschreite ich die Grenze nach Italien. In Richtung Südtirol ist der Blick auf die Berge deutlich besser als zuvor. Vor mir kann ich nun die meisten Gipfel sehen, die Zillertaler Alpen im Norden bleiben aber nach wie vor verborgen.
Tausend Höhenmeter kann ich nun auf angenehmen Genusstrails hinab laufen oder marschieren, oft durch schönen Wald. Gegen 14.30 Uhr erreiche ich Gossensass, wo heute morgen um 7 Uhr die Läufer der 70 km Distanz gestartet sind. Hier stehen genügend Tische und Bänke für eine längere Rast, doch mir geht es gut und ich halte mich trotz zwei Stunden Vorsprung vor dem Zeitlimit nicht allzu lange auf. Das Dorf mit etwa 2000 Einwohnern liegt etwa 10 km südlich des Brenners im Wipptal. Im 15. und 16. Jahrhundert wurde in der Gegend Eisen und Silber abgebaut, Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte sich hier dank warmer Thermalquellen vorübergehend Nobeltourismus, der aber nach dem ersten Weltkrieg der Teilung Tirols zum Opfer fiel.
Nun steige ich sehr lange durch dichten Wald mit nur sehr wenig Aussicht bergauf. Erst kurz vor der Verpflegungsstelle Rosskopfbahn komme ich aus dem Wald heraus und kann wieder ein weites Panorama genießen.
Hier oben treffe ich Einwanderer aus Südamerika, gewissermaßen eine Folge der Globalisierung: auf einer Weide stehen Alpakas. Beim Wander- und Skigebiet Rosskopf beginnt ein schöner Abstieg nach Obertelfes, von dort geht es auf Asphalt weiter nach Untertelfes. Dann steige ich auf einem Pfad sehr steil über eine Wiese ins Ridnauntal. Bei Regen wäre diese Stelle sicher extrem rutschig. Nach einer Weile mündet der Abstieg in harmlose Serpentinen. Unten geht es dann eine Weile auf einem asphaltierten Weg am Ridnauer Bach entlang. Schon von weitem höre ich Blasmusik und glaube, dass diese für Stimmung an der nächsten Verpflegungsstelle sorgt. Doch das Konzert ist in Gasteig, die VP dagegen bei einer Brücke vor dem Ort.
Hier esse und trinke ich genügend, denn nun liegen 1400 Höhenmeter Aufstieg vor mir. Ein Kaffee gibt mir zusätzlich Schwung. Ich habe inzwischen die halbe Strecke geschafft und schon 2,5 Stunden Vorsprung vor dem Zeitlimit, für mich ungewohnt komfortabel.
Die nächsten Kilometer geht es auf Asphalt immer leicht bergauf. Ausnahmsweise stört mich dieser Untergrund nicht, denn auf diese Weise kann ich schnell noch Kilometer sammeln, bevor es dunkel wird. An einer Stelle verzweigt sich die Straße. Hier haben die Streckenmarkierer zuerst Pfeile und Punkte in die falsche Richtung gesprüht, diese dann durchgestrichen und die passende Route markiert. Es würde mich aber nicht wundern, wenn hier jemand in der Nacht doch in die falsche Richtung läuft.
Bald verschwindet die Sonne hinter den Bergen. Noch immer laufe ich auf Asphalt. Allmählich wundere ich mich darüber, denn eigentlich hatte ich ja ein anspruchsvolles Trail-Rennen erwartet. Ich wünsche mir nun doch, dass ich endlich wieder auf Trails komme. Dies ist zu dem Zeitpunkt genau so, als würde jemand eine Stunde, bevor er seinen überfluteten Keller auspumpen muss, sagen: „Es wird Zeit, dass es endlich mal wieder regnet.“
Bei einem Weiler wird mir "Bier, Schnaps oder sonst etwas" angeboten, doch im Augenblick ist mir das Wasser in meinen Flaschen lieber. Hier endet die Straße und ich plage mich nun auf einem sehr steilen Wanderweg bergauf. Oberhalb der Waldgrenze mündet der Weg in einen schmalen Pfad, dann hört auch dieser auf.
Wo geht es nun weiter? Ein Stück links von mir sehe ich eines der Flatterbänder der Streckenmarkierung gut versteckt im Gras liegen. Kühe haben eine Delikatesse vermutet und es abgerissen. Ich bringe es wieder gut sichtbar an und habe beide Hände voll mit glitschigem Kuhglibber! Pfui!
Nun gibt es keinen Pfad mehr, nur noch vereinzelte Spuren, die sich kreuz und quer durch das Gelände bergauf schlängeln. Manchmal dränge ich mich durch dichtes Gestrüpp, ab und zu stehe ich in kleinen Pfützen, aber irgendwie ist dies zu dem Zeitpunkt durchaus noch lustig. Orientierungslauf statt Rennstrecke, bevor es richtig dunkel ist, macht mir das tatsächlich Spaß. Wie die Leute in einer Stunde hier den Weg finden sollen, ist mir aber schleierhaft.
Dann kommt auch für mich der Moment, ab dem ohne Stirnlampe kein Weiterkommen möglich ist. Nun erkenne ich auch die Positionen der Läufer weit vor und hinter mir. Dies sollte eigentlich den Vorteil bieten, dass ich nun anhand der Lichter über mir erkennen kann, in welche Richtung die Strecke grundsätzlich führt. Doch als ich mich gemeinsam mit zwei anderen Läufern, die gerade zusammen mit mir unterwegs sind, darüber wundere, dass einige Leute weit rechts über uns aufsteigen, andere aber links von uns, beginnen die Zweifel. Beides kann unmöglich richtig zu sein. Wir sehen weit und breit keine Markierungen mehr. Rechts oder links? Mist! Wer von den Läufern über uns folgt dem Trail und wer irrt auf der Suche danach in die falsche Richtung?
Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich hinzusetzen, mein GPS-Gerät aus dem Rucksack zu kramen und zwei, drei Minuten zu warten, bis es mir endlich meine Position auf dem Track anzeigt. Eindeutig zeigt die grundsätzliche Richtung der Strecke rechts hinauf. Obwohl hier gerade nur loses Geröll und grobe Steinplatten liegen, steige ich geradeaus in Richtung der Stirnlampen über mir auf, die beiden anderen Läufer dagegen orientieren sich nach links. Nach einigen Minuten Aufstieg höre ich unten einen Ruf: "Da ist eine Markierung!" Ok, dann muss ich wieder hinab steigen. Über mir scheinen dies auch drei andere Läufer zu hören und kommen zu uns runter.
Endlich erreiche ich das 2303 m hohe Gospeneider Joch. Hier oben ist es wegen starkem Wind noch viel kälter. In der Ferne sehe ich Lichter, die ich für die Verpflegungsstelle am Penser Joch halte, noch etwa zwei Kilometer entfernt und etwas tiefer gelegen. Das sieht nicht sehr weit aus. Doch dann stutze ich. Hoch über mir sehe ich weitere Lichter. Im ersten Augenblick schwappt eine Welle der Frustration über mich hinweg, weil ich glaube, das wären die Stirnlampen von Läufern vor mir. Muss ich noch so weit hinauf? Erst nach zwei, drei Minuten wird mir klar, dass dies keine Stirnlampen sondern Sterne sind. Hurra!
Einige Zeit später erreiche endlich die Verpflegungsstelle. Zumindest per Luftlinie ist das 2211 m hohe Penser Joch die direktere Verbindung zwischen Innsbruck und Bozen. Vor allem Rennradfahrer nutzen gerne diese kaum befahrene Verbindung, auch wenn sie viel mehr Höhenmeter als der nur 1370 m hohe, aber vom Verkehr völlig überlastete Brennerpass hat. Für mich zählt jetzt nur, trockene Sachen anziehen, etwas aufwärmen und genügend essen und trinken.
Schnell die DropBag mit meinen trockenen Klamotten holen, bevor ich noch stärker auskühle! Doch da liegt ein großes, chaotisches Durcheinander mit vielen Dutzend identischen Taschen, nur durch ein winzig kleinen Zettelchen mit der Startnummer zu unterscheiden. Eine Weile wühle ich mich immer nervöser ergebnislos durch die Stapel. Nichts! Stinksauer und schimpfend gehe ich zur Verpflegungsstelle. Dort kommt eine sehr sympathische Helferin dann mit mir und findet nach einer Weile auch meine Tasche. Doch jetzt friere ich zu sehr, um hier noch lange sitzen zu bleiben. Daher trinke ich viel zu wenig und esse kaum etwas. Einige Läufer geben auf, weil sie keinen Bock mehr auf orientierungsloses nächtliches Herumirren haben.
Gegen 23 Uhr verlasse ich die VP mit zwei Stunden Vorsprung auf den Cut Off. Da ich jetzt schon eine so komfortable Zeitreserve habe, glaube ich fest, die nächste VP in weniger als den im Zeitplan für den langsamsten Läufer angegebenen maximal 4:45 Stunden erreiche. Welch ein Irrtum!
Kaum bin ich etwa zweihundert Meter von der VP entfernt, erwischt mich ein brutal kalter Sturm. Ein Hammer! Innerhalb von zwei, drei Minuten klappere ich nur so mit den Zähnen. Leichter Schneegraupel kommt dann auch noch dazu. Hätte ich doch nur am VP meine für genau diese Situation mitgeführte Jacke angezogen. Jetzt muss ich das eben im Sturm machen. Froh bin ich auch über meine auch für extreme Kälte geeigneten SealSkinz Handschuhe.
Die nächsten Kilometer führen mal bergauf, mal bergab. Vorläufig habe ich nun keine Probleme, den Trail zu finden. Die Route ist nun aber technisch deutlich schwerer als die Strecke, die ich bei Tageslicht gelaufen bin. Bei ein paar etwas ausgesetzten Passagen ist es vielleicht ganz gut, dass ich in der stockfinsteren Nacht nicht in den Abgrund blicken kann. Über loses Geröll, leichtes Blocksteingelände, mal steil aufwärts, mal steil hinab, komme ich nur langsam voran. An einer Stelle muss ich mich mit Drahtseilsicherung entlang der Felsen hangeln. Gut, dass es nicht regnet, sonst wäre dieser Streckenabschnitt noch gefährlicher.
Etwa 3,5 Stunden nach meinem Aufbruch vom Penser Joch sehe ich vor mir in der Dunkelheit ein rotes Licht blinken. Zuerst vermute ich einen verletzten Läufer, der seine Stirnlampe auf Notsignal geschaltet hat. Als ich näher komme, erkenne ich die Konturen der Marburger Hütte, vor der dieses Licht die Richtung weist. Erleichterung!
Vor dem Eingang wartet ein junger Mann in der Kälte auf mich und fragt, ob ich eine Suppe will. Wollen ist absolut untertrieben. Nachdem ich seit über drei Stunden kaum noch etwas getrunken habe, da das Wasser in meinen Flaschen knapp über dem Gefrierpunkt kalt ist, kann ich die Suppe dringend brauchen. Die Marburger Hütte ist keine Verpflegungsstelle des Veranstalters. Die Hüttenwirtin unterstützt die Läufer auf eigene Kosten. Und das ist heute dringend notwendig.
Eine Weile kann ich mich drinnen im Warmen erholen. Der Mann versteht ebenso wenig wie ich, dass es hier auf 18 km ausgesetzter Strecke in unübersichtlichen Gelände keinen einzigen Bergretter oder Streckenposten gibt. Aber er motiviert mich: „Noch etwa 200 Höhenmeter bergauf, dann wird es einfacher.“
In der Ausschreibung steht, dass der Alpen X nur für erfahrene, starke Trailrunner in Frage kommt, mit hoher Trittsicherheit, Schwindelfreiheit, Erfahrung im alpinen Gelände und mit autonomer Eigenversorgung auf langen Distanzen zwischen den Verpflegungsstellen und Orientierungsvermögen, auch wenn die Streckenmarkierungen vom Regen abgewaschen oder abgerissen sind. Wahre Worte! Sehr wahre!
Der nächste Aufstieg raubt mir die letzte Kraft. Ich will nicht mehr! Mir reicht es für heute! Wenn ich wenigstens ein kleines bisschen von der Landschaft um mich herum erkennen würde! Aber so beschränkt sich meine Sicht auf den Lichtkreis meiner Stirnlampe. Nun geht es wieder bergab, dann wieder ein paar Meter hinauf, ein paar Meter hinab, schier endlos immer so weiter. Flache Abschnitte oder Passagen, wo ich laufen kann, statt nur über Steine zu steigen oder zu balancieren, fehlen fast völlig. Das wäre mir aber trotzdem alles egal, wenn wenigstens die Wegmarkierung etwas taugen würde. Vielleicht bin ich von vielen anderen nächtlichen Läufen mit regelmäßigen Reflektoren verwöhnt. Bei manchen Läufen gibt es ja überhaupt keine Streckenmarkierung auf den Trails, das muss dort auch so klappen. Doch hier passt die fehlende Markierung nicht zu der geforderten Durchgangszeiten. Abwechselnd finde ich die rot-weißen Wanderweg-Markierungen, winzig kleine orange Kreidepunkt der seltenen AlpenX100 Markierungen und die zum Glück sehr viel zahlreicheren grünen Pfeile der Streckenmarkierung des Südtirol Ultra Skyrace, das im Juli hier in entgegengesetzter Richtung zum Penser Joch führte.
Oft muss ich ein Stück zur letzten Markierung zurück marschieren und erneut suchen, manchmal rechts und links kreuz und quer durch das unwegsame Geröll stapfen, um irgendwo ein Zeichen zu entdecken. Das kostet nicht nur viel Zeit sondern auch sehr viel Kraft und Nerven. Mein GPS-Track nützt in solch einem Gelände absolut nichts, denn dieser zeigt zwar die grobe Richtung, aber nicht, ob die nächste Markierung nun fünf Meter steil über mir oder zehn Meter durch Geröll unterhalb von mir ist. Ich glaube, es gibt hier Streckenabschnitte, wo ich nur einen Kilometer in der Stunde vorwärts komme.
Unter mir sehe ich Lichter, die möglicherweise endlich die nächste Verpflegungsstelle sein könnten. Doch mein Trail führt in ermüdendem Auf und Ab oberhalb dieser Lichter vorbei in die Ferne. Weiter, immer weiter! Wieder ein längerer Aufstieg, wieder ein Abstieg. Manchmal sehe ich weit vor oder hinter mir Stirnlampen anderer Läufer, aber seit Stunden laufe ich alleine durch die Gegend. Drei Mal muss ich mich zwischendurch hinsetzen, um Akkus der Lampe oder der Kamera zu wechseln. Gegen 5.30 Uhr erkenne ich endlich wieder die Konturen der Berge um mich herum. Ein erstes Foto in der frühen Morgendämmerung. Ein anderer Läufer holt mich ein. Beide sind wir enttäuscht, weil nun fest steht, dass wir die nächste Verpflegungsstelle nicht mehr innerhalb des offiziellen Zeitlimits erreichen können.
Kurz nach 6 Uhr erreiche ich die Schalderer Scharte. Es ist hell genug, um die Stirnlampe einzupacken. Ich sehe endlich die Berge, die mir in der Nacht verborgen blieben, vor allem aber blicke ich auf der anderen Seite der Scharte in der Morgendämmerung zu den fernen Dolomiten.
Der Sonnenaufgang taucht die Landschaft in warme Farben. Nachdem nun fest steht, dass ich auf jeden Fall zu spät zur VP komme, gibt es für mich keinen Grund mehr zur Eile. Ich setze mich einige Zeit zum Aufwärmen in die Sonne. Das fühlt sich sehr gut an! Ohne Hast laufe ich nun langsam auf gutem Weg durch das Schalderer Tal hinab. Jetzt macht es mir nach einigen eher frustrierten Stunden wieder Spaß. Neben mir rauscht mit vielen kleinen Wasserfällen der Schalderer Bach, der als einer der schönsten Bäche Südtirols gilt, da er auch heute noch auf kompletter Länge unverbaut ist.
Dann erreiche ich 7:45 Stunden nach meinem Aufbruch beim Penser Joch die nächste Verpflegungsstelle. Für diese 18 km wurden vom Veranstalter für die langsamsten 102 km Läufer maximal 4:45 kalkuliert und für die letzten 160 km Läufer 5:15 Stunden. Doch selbst der spätere 160 km Sieger Iker Karrera, ein Weltklasse-Trailrunner, brauchte dafür fast fünf Stunden, mach andere Teilnehmer neun bis zehn Stunden.
Das mitgeführte Wassers ist mir viel zu kalt und so habe in den letzten Stunden viel zu wenig getrunken. Entsprechend dehydriert komme ich an der Verpflegungsstelle an. Über die Suppe freue ich mich nun ganz besonders. Und als ich höre, dass alle anderen Teilnehmer für diesen Abschnitt viel länger als erwartet unterwegs waren, kann ich erleichtert meine Selbstzweifel ablegen. Natürlich gehe ich weiter! Daran gibt es nicht den geringsten Zweifel. Ich werde das Ziel erreichen, wenn auch viel später als geplant.
Es folgt ein schöner Steig, auf dem ich völlig alleine unterwegs bin. In den folgenden drei Stunden treffe ich einen einzigen Läufer. Am Ende dieser etwa 750 Höhenmeter Aufstieg verschlägt mir auf der 2190 m hohen Lorenzischarte ein unglaubliches Dolomiten-Panorama schier den Atem. Vor mir liegen im schönsten Sonnenlicht Langkofel, Geißlerspitzen, Marmolata, Rosengarten und Schlern. Weit in der Ferne sehe ich auch den Ortler. In diesem Paradies löst sich meine Müdigkeit schnell auf.
Nach knapp hundert Höhenmetern Abstieg folgt ein sehr langer, mal ebener, mal flach aufsteigender Weg bis zur Radlseehütte. Dieser Streckenabschnitt zieht sich zäh dahin, denn eigentlich müsste ich hier schnell laufen können, aber die Beine haben keine Kraft mehr. Der grandiose Dolomitenblick entschädigt mich.
Mancher Läufer wird es nicht verstehen, aber ich „verschwende“ auch auf diesen 102 km wieder einige Zeit, weil ich mit den Helfern, mit Wanderern, mit Bauern und anderen Menschen an der Strecke rede. Das ist für mich das Salz in der Suppe und ebenso wichtig wie das Laufen und das Fotografieren.
Bei der Radlseehütte halte ich mich aber nicht auf, da ich erwarte, dass ich nun bald die nächste Verpflegungsstelle erreiche. Ich weiß nicht, dass sie um einige Kilometer und sehr viele Höhenmeter nach unten verlegt wurde. Noch ein paar Meter Aufstieg, dann sehe ich vor mir auch eisbedeckte Gipfel der Zillertaler Alpen, die mir gestern im Nebel verborgen blieben. Ein schöner Abschluss! Nein, der Abschluss ist das noch lange nicht! Einesteils freue ich mich natürlich darüber, dass ich nun nur noch bergab laufen muss, aber der Blick auf das mehr als 1700 Höhenmeter weit unter mir liegende Brixen erschreckt mich doch ein wenig. Das wird noch ein hartes Finale.
Es geht steil bergab. Sehr, sehr steil! An Laufen ist hier nicht zu denken. Keine Ahnung, wie hier Leute ohne Stöcke runter kommen. Hoffentlich ist nicht der gesamte Abstieg bis Brixen so heftig. Ich weiß nicht, ob ich das schaffen würde. Ein paar hundert Höhenmeter tiefer bei der Baumgrenze wird es aber moderat. .
Auf den schönen Wurzeltrails könnte ich ganz gut laufen, wenn ich noch Kraft in den Beinen hätte. Aber so muss schnelles Marschieren reichen. Ich hole einen 160 km Läufer ein, der nur sehr langsam bergab geht. In seinen Schuhen könne er nicht mehr laufen, sagt er mir. Dabei hat er die vielleicht teuersten und meistbeworbenen Trailschuhe an den Füßen. Jetzt wählt er die Notrufnummer und lässt sich von der Medical Crew andere Schuhe bringen. Ich kann nicht klagen und bin mit meinen Lieblingsschuhen wiedeer sehr zufrieden. Es muss halt nicht immer elitäre Markenware sein.
Der letzte Streckenabschnitt macht noch einmal richtig Spaß. Schöne, nicht allzu schwere Trails über Wiesen und durch Wald, dann ohne Probleme mit etwas Autoverkehr kurz durch die Stadt zum traumhaft schönen Zieleinlauf direkt vor dem Dom in Brixen.
Der Domplatz in Brixen ist einer der schönsten Zielbereiche meines Läuferlebens. Hier endet in diesem Jahr auch der Transalpine Run und jedes Jahr startet hier der Dolomiten Brixen Marathon. Geschafft! Ich bin schon längere Strecken und mehr Höhenmeter gelaufen, aber diese 102 km in 29:58 Stunden empfinde ich als den schwersten Lauf meines Lebens. Daher bewundere ich alle, die hier sogar stark genug für die 160 km sind. Nach der Eiseskälte der Nacht sind die 30 Grad hier unten ein krasser Kontrast, aber ich bin froh darüber.
Am nächsten Morgen fühle ich mich wieder pudelwohl und schlendere gut gelaunt durch die sympathische Altstadt. Brixen war ehemals eine bedeutende Bischofstadt. Die Altstadt steht überwiegend unter Denkmalschutz. Vor allem der Kreuzgang beim Dom ist äußerst sehenswert. Aber so richtig kann ich diese Idylle noch nicht in mir aufnehmen. Mein Kopf ist voll mit Erinnerungen an das zurückliegende Abenteuer. Ich bin froh, dass ich diesen Lauf erleben durfte.
Und für jeden von Euch, der Lust auf diese Strecke bekommt, kann ich als gute Nachricht vermelden, dass die Veranstalter bereits alle Teilnehmer per Mail nach Verbesserungsvorschlägen gefragt haben, damit die Probleme, die bei Premieren schon mal auftauchen, in der zweiten Ausgabe behoben werden können.
Bei den 160 km kamen 59 Männer und 2 Frauen ins Ziel.
1. Karrera Iker, 25:29
2. Rabensteiner Alexander, 26:45
3. Fuchs Sebastian 27:08
1. Gross Annemarie, 31:38
2. Melzer Ines, 46:29
Bei den 70 km kamen 47 Männer und 11 Frauen ins Ziel.
1. Farbmacher Thomas, 8:30
2. Auf der Heide Moritz, 8:37
3. Moser Christian, 8:41
1. Dorfschmid Maja, 12:04
2. Plaikner Tanja, 12:08
3. Doore Anouk, 12:39
Bei den 102 km kamen 41 Männer und 11 Frauen ins Ziel.
1. Brennwald Adrian, 14:23
2. Psenner Alfred, 15:18
3. Gangl Christian, 16:27
1. Morbelli Simona, 16:57
2. Lieb Stephanie, 19:29
3. Fauser Biggi, 22:08
3. Steffens Marjolijn, 22:08 .