Lockerer Abgang zum VP4 bei Margineda. War von uns gedacht, aber die Aussicht auf dem Berggipfel war das einzige Schöne die nächste Zeit. Ein richtig fordernder Abstieg mit Kletterpassagen und sehr massiven Eisenketten, technisch sehr schwierige Downhill-Passagen setzen dem Körper zu. Wir sehen nach 37km schon zermürbte und schleichende Läufer/innen mit hängenden Köpfen. Das erste Drittel, des 112km-Laufes hat es wahrlich in sich und ist für viele schon der Genickbruch. Wir kommen auf Platz 215 in die Mehrfachhalle (VP4 und 1.Dropbag-Station) um 10:16 Uhr rein, und verlassen diese nach einer ausgiebigen 45min-Pause so auf Platz 170.
Über 40 Aufgaben also von Läufern, welche vor uns platziert waren. Unser Taktik geht bis hierhin auf, obwohl uns der letzte Downhill auch mehr Zeit gekostet hatte als wir gedacht hatten. Es folgt das zweite Drittel von KM43 zu KM75 über die nächsten Stunden und wir Laufen im Süden von Andorra. Die Belohnung für die erste Dropbag-Station bei Margineda (liegt auf ca. 900 Meter), ist der folgende Aufstieg auf den CollBou Mort, ca. 2600 Meter, oder ca. 1700 Höhenmeter auf ca. 9km verteilt.
Und es ist heiß geworden. Wir haben über 20°Grad, die Sonne brennt auf den Kopf, der eine oder andere Bachlauf wird zum Erfrischen genutzt oder auch nur zum Befeuchten der Mütze. Auf und ab, immer wieder, mühseliges Höhenmeter sammeln, aber das Landschaftsbild hat sich am Nachmittag geändert. Gegenüber der sehr schroffen Felslandschaft im Nordwesten von Andorra, haben wir nun sehr schöne Almwiesen und Bergseen um uns herum.
Die technischen Laufanforderungen sind aber keineswegs einfacher geworden. Nach einem kurzen Halt bei VP5 in der Berghütte Claror, kommen wir um 17:50 Uhr bei VP6 (KM65) an. Sehr idyllisch hier oben auf über 2.400 Meter, einige Jugendliche schlagen ihre Zelte für die Nacht auf, ein Stausee hinter der Berghütte und wieder freundliche Helfer die einem mit dem Notwendigsten helfen. 20 Laufstunden sind vorüber, ich hoffe nur stark, dass wir den VP7 (2.Dropbag-Station) bei KM76 noch vor der Dunkelheit erreichen, da ich mich hier für die Nacht einrichten wollte.
Das Höhenprofil verkündete nach dem Aufstieg zum ColladaPessons (ca 2900 Meter) einen Abstieg von 900 Höhenmetern auf 9 km. Doch dieser Downhill ist sehr schmerzhaft für Knochen, Bänder, Sehnen und Muskeln. Hier kann man zu Beginn des Abstieges doch das eine oder andere Problem mit der Höhenangst oder einer drohenden Sturzgefahr bekommen, ehe es nach der sehr steilen Partie nervenaufreibender ist, die riesigen Steinfelsen zu erklimmen bzw. zu passieren. Wenn man sich überlegt, dass größte Teile der Wettkampfstrecke auf einem Wanderweg stattfinden, kann man nur sagen: „ Repekt vor dem, der in den Pyrenäen wandern geht“.
KM76, Bordes d’Envalira, erreichen wir doch noch kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Bei mir steht der große Boxenstopp an, auf welchen ich mich schon richtig gefreut hatte. Mein Bruder ist zum dritten und letzten Male vor Ort und ist auch mittlerweile sehr aufgeregt vor seinem morgigen, 10km-Lauf.
Ich wechsele Socken, Schuhe und T-Shirt – welch Wohltat- und bereite mich für die zweite Nacht vor. Mein persönliches Zwischen-Resümee fällt für mich und meinen Körper positiv aus. Ich fühle mich ausreichend ernährt, hatte aber auch meine Strategie im Vorfeld genau beleuchtet und wollte autark vom Veranstalter sein. Über den Lauf hinweg, hatte ich 3x 0,5 Liter Vitargo Elektrolyte eingenommen, 6 Müsliriegel, und jede 1 bis 1,5 Std zwei Salztabletten eingenommen. An den VP’s habe ich trotz reichhaltigem Angebot nur Rosinen, Nudelsuppe, leckeren Schinken und Schokolade zu mir genommen. An Getränken nahm ich nur Wasser mit meinen High5-Tabletten und Cola an den VP’s zu mir. In Summe waren das 2 Liter Flüssigkeit alle 4 Std. Ich fühlte mich somit ausreichend ernährt, hatte nie einen Hungerast oder fühlte mich durstig.
An dieser Verpflegungsstelle werden wir wiederholt um ca. 40 Positionsplätze nach vorne gespült, da auch hier viele Läufer entnervt bzw. entkräftet aufgeben.
Und nun, auf in die zweite magische Nacht. Was liest man alles über die zweite Laufnacht. In meinem Läuferleben ist es nach dem UTMB 2011 die zweite konstante Laufnacht und ich war sehr gespannt, was kommt. Der nächste Aufstieg nach VP7 ist nochmals sehr schwer. Kerzengerade die Wiesen nach oben, die reflektierende kleinen roten Fahnen sind nur spärlich gesetzt, so dass ich als Führender meine liebe Mühe habe, einen konstanten Laufrhythmus für die Gruppe zu finden und mit suchendem Rundumblick mit der Leuchtkraft meiner Lampe den Weg zu finden. Gegen 23 Uhr setzt auch noch leichter Regen ein. Kurzer Stopp und Wechsel zur Regenjacke und weiter auf den 800 Höhenmeter Aufstieg innerhalb 4km.
In der Nacht haben wir noch 3 Bergpässe über 2700 Meter zu bewältigen, keine leichte Aufgabe mit den feuchten Downhills. Der Wechsel der Socken und Schuhe war für meine Füße hervorragend, doch der zweite Schuh zeigt nicht den Grip, wie das erste Schuhpaar. Also ist hier noch erhöhte Vorsicht geboten. Unsere Gruppe funktioniert bisweilen geschlossen stark und ausgewogen. Doch die zweite Nacht fordert allerhand an mentaler Arbeit, physischer Stärke, regelmäßige
Erholungspausen und Teamgeist von unserer deutschen 3er Gruppe. Unser Hauptziel sieht nach wie vor: gemeinsam gestartet, gemeinsam ins Ziel kommen, wenn es das Zeitlimit zulässt. Die Cut-off-Zeit-Schwelle ist weit hinter uns, so können wir bequem durch die Nacht marschieren.
Marschieren ist für uns schon seit Stunden angesagt, obwohl noch Kraft für die Laufeinheiten wäre, doch die technisch anspruchsvollen Trails zwingen uns mehr zum Gehen. Die VP8 bei Incles und VP9 bei Com de Jan liegen zwar nur 8km auseinander, doch das sind für uns 4 Std. VP9 liegt bei KM92, noch 20km bis zum Ziel. Wir kommen kurz vor 5 Uhr in der Nacht zu dieser Verpflegungsstelle. Nur noch ein Anstieg, nur einmal hoch und einmal runter, gleich ist die Nacht vorbei. Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, gleich haben wir es geschafft und die Morgendämmerung kommt.
Aber jetzt erwischt es auch mich. Halluzinationen und die Müdigkeit nach 30 Stunden ununterbrochen Laufen machen mir zu schaffen. Ich denke, dass ich noch klar denken kann, selbst gestellte Rechenaufgaben kann ich noch lösen (stimmen die Lösungen auch, denke ich weiter, ich glaube aber schon, sie klingen vernünftig), aber wer in Gottes Namen beschriftet hier alle Steine auf dem Weg, wo kommen die ganzen Bergdörfer denn plötzlich in der herrenlosen Gegend her. Wann kommt endlich der Pass, das Tor zum Abstieg? Der ganze Weg ist voll von beschrifteten Steinen, die schönsten kyrillischen Schriften, Graffitizeichnungen auf der Oberfläche der Steine. Ich kann mich nicht wehren gegen diese Anblicke, weiß aber, dass sie nicht existent sind und will sie loswerden. Oh Mann bin ich müde.
Die Stunde bis zum Pass wird zur Ewigkeit. Ich weiß, dass alle Schriften und Bilder in Wahrheit nur Moose und Flechten auf der Steinoberfläche sind, aber wirklich in Ruhe lassen sie mich nicht. 6:15 Uhr, die ersten Sonnenstrahlen treffen mich am letzten, am finalen Pass auf über 2700 Meter. Ich muß einen Powernap machen, nur 2-3 Minuten. Dann geht’s weiter. Während die beiden Kollegen ihre Jacken verstauen, schlafe ich wirklich im Sitzen und danach geht’s mir wieder sagenhaft. Keine Illusionen mehr, die Kraft für den Downhill ist da, es kann weiter gehen. ColladaMeners liegt hinter uns und nur noch 15km und ca. 1500 Abstiegs-Höhenmeter zum Ziel nach Ordino. Das klappt, das wird was, wir finishen zu Dritt. Wahnsinn.
Die Uhr zeigt 10:33 Uhr am Sonntagmorgen, wir sind nun 2 Nächte und einen vollen Tag durchgelaufen, das entspricht eine Laufzeit von 36:33 Std. Es springt der Platz 119 von 298 Teilnehmern raus, was nebensächlich ist, aber die 50% Ausfallquote ist schon enorm, da beste Wetterbedingungen vorlagen. Wir sind stolz auf uns, auf unsere 3er Gruppe, und dieses gemeinschaftliches Erlebnis in dieser wilden Bergwelt. Was für ein Privileg!
Die Ausfallquote ist mit 50% sehr hoch, was ein Hinweis ist auf die extremen Anforderungen an Körper und Geist, auf die außergewöhnlich technisch schwierigen Trails und auf die Belastung aufgrund der Höhenverhältnisse. Nach Andorra sollte man wirklich nur mit ausreichender Berglauferfahrung fahren, um einen der großen Läufe anzugehen.
Eines darf in diesem Bericht auch nicht fehlen: Wir sind Weltmeister!
Wann hat man schon mal das Glück, mit Freunden und seinem Bruder so einen beeindruckenden, fordernden Lauf absolvieren zu dürfen und am Abend in einer gottverlassenen Ecke in Andorra die Fussball-Weltmeisterschaft unter 6 einsamen Deutschen feiern zu dürfen? Herrlich!
Andorra bietet ein tolles Paket an Läufen, sehr gut organisierte und zeitlich abgestimmte Wettkämpfe. Bei der Rondo del Cims (170km und 13.000 Höhenmeter) kann man sich total verausgaben, der Mitic (112km und 9700 Höhenmeter) ist das High-End der 100km-Läufe in Europa, der Celestrail (83km und 5000 Höhenmeter) bietet einen harten Lauf mit Startzeit um Mitternacht, und selbst der Marathon (42,5km und 3000 Höhenmeter) ist eine harte Nuss.
Der Solidaritätslauf rundet das Laufangebot mit einem 10km-Lauf mit 750 Höhenmetern eindrucksvoll ab. Alle Altersklassen messen sich hier, eine Zeitmessung existiert zwar, aber es werden keine Ergebnislisten ausgedruckt. Gut so. Dieser 10km-Lauf wird dominiert von seiner Lockerheit und der Verbundenheit zu behinderten Personen, welche Hand-in-Hand oder auf Tragen befördert werden. Diese 10km werden so zu einem sehr besonderen Erlebnis. Eine wunderbare Sache und sehr Nachahmens wert.
Infos zu allen Läufen findet ihr unter
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Bildquellen: Alexander und Oliver Binz
16.07.16 | Hola món, avui sóc el Casamanya (42,5km) |
Anton Reiter |
16.08.17 | Andorra = unbarmherzig, aber wunderschön |