Zur Abwechslung folgen einige sehr schnelle Kilometer auf einem breiten Fahrweg hinab, zuerst vorbei an alten Lavaströmen, dann durch den Wald. Schließlich zweigen wir zur Levada ab, einem weiteren, sehr sehenswerten Streckenabschnitt. Lange Zeit laufe ich nun entlang dieses schmalen, gemauerten Wasserkanals. Immer wieder muss ich von einer Seite zur anderen springen oder auf mit Schlamm bedeckten Steinplatten balancieren. Auch hier umgibt mich wieder eine traumhafte Pflanzenwelt.
Da dieser Streckenabschnitt kaum Höhenunterschiede aufweist, ist es eine gute Gelegenheit, um „die Seele baumeln lassen“. Eine äußerst fotogene Brücke führt über ein Urwaldtal.
Bei einem Wasserbecken verlassen wir die Levada. Nun folgt der krasseste Teil des Tages. Fast in direkter Linie steigen oder rutschen wir auf sehr glitschigem Schlamm den Hang hinab oder hangeln uns von Baum zu Baum. Steil und rutschig, wie ich es liebe. Egal, dass ich mich mehrmals ungeplant auf den Hosenboden setze! Hauptsache, die Kamera überlebt‘s. Vermutlich dauert diese geile Sause nur fünf bis zehn Minuten, kommt mir aber länger vor.
Jetzt liegen die sanft geschwungenen Bergrücken vieler alter Vulkane vor mir. Die Vegetation um mich herum wechselt oft, das bringt Abwechslung. Wieder ein Anstieg auf einen Vulkan. Anfangs duftet es sehr intensiv nach würzigen Kräutern, dann zieren graue Flechten und winzig kleine Bäumchen den Boden. In der Ferne ist wie ein gewaltiger Klotz im Ozean der Vulkanschlot Morro de Castelo Branco zu sehen.
Mit dieser Veranstaltung soll auch überregional Interesse an der bei uns wenig bekannten Schönheit der Azoren geweckt und ein naturnaher Tourismus gefördert werden. Bei mir hat das schon funktioniert. Nachdem ich die Kanaren, Madeira und Mallorca vom Wandern her sehr gut kenne, will ich zukünftig auch alle Azoreninseln erkunden.
Nach der dritten Verpflegungsstelle laufe ich eine Weile sehr schnell bergab. Ich komme an einem großen Picknick- und Freizeitgelände vorbei, wo die Einheimischen sich an Wochenenden treffen. Die großen, aus Lava gemauerten Grillhäuschen gefallen mir. An einem kleinen Dorf vorbei geht es nun an den Fuß des Vulkans Cabeco Verde. Da auf diesem große Sendeanlagen stehen, muss ich nicht ganz zum Gipfel aufsteigen sondern marschiere nur bis etwa zwei Drittel der Höhe bequem hinauf. Dann folgt der nächste tolle Downhill-Trail, gefolgt von einem weiteren, nicht ganz so hohen Vulkanaufstieg. Inzwischen sehe ich weit vor mir den erst durch den Vulkanausbruch 1957/58 entstandenen neuen Teil der Insel, wo unser Ziel liegt.
Zuletzt geht es noch einmal über sehr steile Treppen hinab. Nach Überquerung einer Straße ändert sich innerhalb von wenigen hundert Metern die Szenerie um mich herum zu hundert Prozent. Nach all dem üppigen Grün umgibt mich nun eine Landschaft, die auch auf dem Mond sein könnte, wenn nicht der Ausblick auf das blaue Meer wäre. Nichts als karge, schwarze und graue Lava, Geröll und Sand.
Dieser Teil der Insel wurde durch eine Reihe von Vulkanausbrüchen 1957 und 58 dick mit Asche bedeckt. Dabei entstanden auch die Berge. Ich bewege mich also auf Gelände, das kaum älter ist als ich. In mehreren Eruptionsphasen entstand damals etwa 1 km von der Küste entfernt zuerst eine kleine Insel. Bis zu 1400 m hoch stiegen gewaltige Mengen Dampf und Schlamm in den Himmel. Bald bedeckte bis zu 1,5 m tiefe Asche die Felder im Landesinnern. Mehr als 30 Millionen Tonnen Asche und Lava gingen nieder. Schließlich wuchs der im Meer gelegene Vulkan mit der Hauptinsel zusammen, die sich dadurch um 2,4 Quadratkilometer vergrößerte. Inzwischen wurde der größte Teil davon aber schon wieder durch die Erosion weggespült. Kommen und Gehen - die Erde ändert ihr Aussehen stets. Es ist ein erhebendes Gefühl, der Schöpfung so nahe zu sein.
Vom Start auf etwa 800 Millionen Jahre alten Boden bis zu vor ein paar Jahrzehnten entstandenes Land führt der Lauf durch die geologische Erdgeschichte. Auf dem weichen Boden läuft man wie auf Schnee. Es ist die wahre Freude, volle Kanne hinab zu sausen, dem Meer und dem Ziel entgegen. Ich laufe an dem einstmals größten Leuchtturm Portugals vorbei, der bis 1958 an der Küste stand, nach dem Vulkanausbruch aber nun weit im Landesinneren steht. Das Erdgeschoss ist komplett unter Asche begraben. Unter dem Turm befindet sich das sehr sehenswerte, unterirdisch angelegte Vulkan-Museum, das schon einige Preise gewann. Von der Spitze des Turms kann man einen beeindruckenden Rundblick genießen.
Das Finale ist ein bejubelter Sturmlauf. Nach 8 Stunden und 11 Minuten erreiche ich das Ziel. Platz 184 von 248 ist eine für mich überraschend gute Platzierung. Wenn ich an die vielen Auf- und Abstiege zurück denke, kann ich kaum glauben, dass es insgesamt nur 2000 Höhenmeter sein sollen. Gefühlt sind es mehr und jeden Meter habe ich genossen.
Schnellste Frau ist Sónia Tubal in 5:56 vor Sónia Mendes und Isabel Moleiro, schnellster Mann Tofol Castanier in 3:55 vor Luis Fernandes und Miguel Silva.
Mário und Joao begrüßen mich und geben mir die außergewöhnlich schöne Medaille - eine runde Holzscheibe, auf die u.a. eine Karte der Insel mit unserer Route eingebrannt ist. Als ein sehr sympathisches junges Paar aus Italien, das ich bereits gestern kennenlernte, an der Ziellinie erzählt, dass sie hier gerade in den Flitterwochen sind, bekommen sie zusätzlichen Applaus. Kurz darauf treffe ich zwei weitere Teilnehmer aus Deutschland, Birgit Nötzel und Uwe Bohnhoff. Zu meiner großen Freude erreicht auch Edda das Ziel, trotz ihrer Verletzung.Von einigen Finishern höre ich, dass dies heute ihr erster Trail-Lauf war. Klasse! Wer diese 48 km finisht, muss sich vor den bekannten Trails in den Alpen keine Sorgen machen.
Neben dem Ziel liegen die Taschen mit unserer trockenen Bekleidung. Es gibt kostenlos Bier und Fisch. Nachdem ich eine Weile am Ziel sitze, gehe ich die paar Meter hinab zur Naturbadebucht. Wer noch Zeit und Kraft hat, kann auch auf einem Pfad auf einen der jungen Berge steigen oder zu einer Bucht mit bizarren Lavafelsen spazieren. Es ist so schön, dass ich es kaum in Worte fassen kann. Ich will eigentlich gar nicht von hier weg und fahre daher erst mit dem letzten Shuttle-Bus zurück nach Horta.
Als ich gegen 21 Uhr zur Finisherparty am Hafen gehe, taucht auch endlich der wunderschöne Vulkan Pico aus seinem Wolkenversteck auf. Die Feier in dem großen Zelt beginnt mit einer längeren Aufführung von einheimischer Volksmusik und Folkloretänzen, dann gibt es ein sehr reichhaltiges, leckeres Buffet, dazu kostenlos Wasser und Wein. Es folgt die Siegerehrung, zum Abschluss singt gegen Mitternacht ein guter Chor einige Lieder.
Vom 30.10.-1.11. findet in diesem Jahr erstmals ein dreitägiger Trail-Lauf statt, bei dem Mário die Läufer insgesamt 130 km und 7000 Höhenmeter über die Inseln Pico, Sao Jorge und zuletzt auch wieder Faial schicken wird.
Am Montagmorgen schaue ich vom Flugzeug mit einer Träne im Auge zum letzten Mal auf Horta und auf den Gipfel des Pico, der im Oktober überquert werden soll. Dann sehe auch noch Sao Jorge und weiß, dass ich unbedingt hier her zurück kehren will.