Die Landschaft um mich herum wird mit zunehmender Höhe immer karger. Unter mir sehe ich im weichen Abendlicht einige kleine Vulkankegel, dahinter die Küste von Faial. Auf schweren Geläuf kommt man zwar nur langsam voran, aber es macht unendlich viel Spaß. Aber es kommt sogar noch wilder, als es auf einen Streckenabschnitt geht, wo wir weglos nur der an allen Tagen hervorragenden Streckenmarkierung folgen. Hier funktioniert einfaches Marschieren endgültig nicht mehr. Jeder muss sehen, wie er hier über kleine Inseln aus Grasbüscheln am besten vorwärts kommt, ohne seine Schuhe komplett im nassen Schlamm zu versenken.
Jetzt wird mir klar, dass ich das Ziel auf keinen Fall bei Tageslicht erreichen kann, aber das ist völlig egal. Hauptsache Spaß! Erst die letzten Kilometer führen wieder auf einfachen Untergrund bergauf. Höchste Zeit, die Stirnlampe aus dem Rucksack zu holen. Gegen 18.50 Uhr erreiche ich dann ohne Problem das Casa da Montanha. Drinnen gibt es gutes Essen, vor allem liegen aber unsere Taschen mit der trockenen Kleidung bereit. Die schnellen Läufer sind bereits mit einem Bus zum Hotel gefahren. Als die letzten Finisher ankommen, fahren auch wir.
Kurz Einchecken im Hotel, dann bringt uns der Bus zum Abendessen in ein Restaurant. Inzwischen ist es 22.30 Uhr. Erst gegen Mitternacht sind wir zurück im Hotel und schon wenige Stunden später klingelt der Wecker. Frühstück gibt es um 7, danach gehen wir auf die Fähre nach São Jorge. Bei der Abfahrt schwankt das Schiff sogar noch stärker als gestern. Wir johlen und albern herum, wie ein betrunkener Kegelverein. Aber je länger die Fahrt dauert, desto schweigsamer werden die Passagiere.
Der Gipfel des Pico leuchtet heute wolkenfrei im Sonnenschein.Vom Hafen in dem kleinen Städtchen Velas fahren wir zuerst viele Kilometer über die Insel, bis wir unseren Startort São Tomé erreichen, wo es ein zweites Frühstück mit einheimischen Spezialitäten gibt. Dann können wir um 11.30 Uhr starten und zunächst ein paar hundert Höhenmeter auf relativ einfachen Trails bergablaufen.
São Jorge ist eine sehr schmale Insel. Mit 56 km Länge, aber nur 8 km Breite, sieht sie auf der Karte fast wie ein Wurm aus. Geprägt wird das Landschaftsbild der Insel vor allem von steil zum Meer hinab reichenden Bergflanken und den sogenannten Faiãs, kleinen und fruchtbaren Ebenen an der Küste, die durch abrutschendes Geröll aufgeschüttet wurden. Viele dieser Fajãs waren lange Zeit nur mühsam über mit hohem Aufwand gebaute Treppenwege zu Fuß erreichbar. Das Erdbeben 1980 zerstörte auch hier einige Häuser. In den folgenden Jahrzehnten wanderte ein großer Teil der Bevölkerung aus. Heute werden einige Häuser in den Faijãs als Ferienwohnungen renoviert.
Nach unseren ersten Abstieg erreichen wir eine dieser Fajitas, ein verschlafen wirkender Fleck, der für Urlauber geeignet ist, die an dieser schönen Küste nichts als nur ihre Ruhe suchen. Die meisten Urlauber kommen zum Wandern auf die Azoren. Wegen des besonders günstigen Mikroklimas können hier viele exotische Produkte wie Yamswurzel oder Bananen geerntet werden. Und es ist die einzige Gegend in Europa, wo Kaffee angebaut wird.
Es folgen ordentliche Auf- und Abstiege durch schöne Wälder, mit viel Aussicht, vorbei an Wasserfällen und über einige Bäche. Und schon sind wir an der nächsten Fajã. An der Verpflegungsstelle werde ich gut versorgt, dann geht es ein kurzes Stück entlang der Küste weiter. Ein breiter Weg führt schließlich bergauf, kurz entlang einer Straße hinab, dann endlich trailig viele hundert Höhenmeter durch urigen Wald steil bergauf, oft über steinige Treppenstufen. Es ist einer der erwähnten alten Wege zu den Häusern in den Fajãs. Nur selten öffnet sich das dichte Grün für einen Blick hinab zum Meer. Ein Stück oberhalb der Baumgrenze steht das Zelt mit der zweiten Verpflegungsstelle, wo ich sehr leckere Gemüsesuppe bekomme.
Nun folgen nur noch wenige Minuten Aufstieg, dann öffnet sich vor mir die Aussicht in eine völlig andere Landschaft. Dicht bewaldete Berge umrahmen ein tiefes Tal, weit unter mir liegt das Meer. Aber vor allem die Bäume sind es, die mich begeistern.
Viele Kilometer führt nun ein wunderbarer Trail bergab, auf dem trittsichere Läufer richtig Vollgas geben können. Aber wer hat es in so einer Märchenwelt schon eilig? Bis zum Ziel begleite ich Valter, der bisher noch kaum Trail-Erfahrung hat und froh ist, als Team-Läufer nur eine Etappe laufen zu müssen und jemand gefunden zu haben, der ihn motiviert. Ich verspreche ihm, eine Stunde vor Schluss im Ziel zu sein, was wir trotz einiger Gehpausen auch schaffen.
Wir erreichen bei der Fajã da Caldeira de Santo Cristo das Meer. Eine kleine Lagune liegt vor dem flachen Land unterhalb der steilen Bergwände. Diese Gegend ist bei Surfern international bekannt und beliebt, da es hier recht zuverlässig hohe Wellen gibt.
Wir folgen der Küste, mal ein paar Meter hoch, dann wieder hinab, ohne technische Schwierigkeiten. Um 17:27 Uhr erreichen wir Fajã dos Cubres, wo vor der Kirche das Ziel ist. Schnell ziehe ich mir warme und trockene Sachen an, genieße die herrliche Fischsuppe, die hier zur Verpflegung gehört, trinke zwei Bier und schaue zu, wie nach und nach in der Abenddämmerung die letzten Finisher ankommen. Die meisten Läufer sind schon längst mit Minibussen zum Duschen und dann in ein Restaurant gebracht worden. Als eine Stunde später alle komplett sind, fahren auch die Letzten los. Die Stimmung im Bus ist klasse, die Portugiesen singen laut ihre Lieder.
Im Restaurant werden zuerst leckere regionale Vorspeisen an den schön gedeckten Tischen serviert. Dann wird in der Mitte des Saales ein äußerst vielseitiges Buffet eröffnet. Als wir dann das Hotel bzw. die einige Kilometer entfernten Appartements erreichen, ist es bereits wieder Mitternacht.
Schon um 6.30 Uhr werde ich mit dem Bus vom Appartement abgeholt und zum Hafen gebracht. Als wir die Fähre betreten, ist es noch fast dunkel, aber kurz nach Abfahrt färbt ein schöner Sonnenaufgang den Himmel. Nicht weit entfernt ragt der Pico in den fast wolkenlosen Himmel. Wir glauben alle an einen schönen Spätsommertag und freuen uns auf die Faial-Etappe.
Nachdem wir in Horta die Fähre verlassen, bringt uns ein Bus zum anderen Ende der Insel. Dort, wo im Mai das Ziel des Azores Trailrun war, ist heute am Parkplatz vor dem Leuchtturm unser Start. Dadurch entgeht uns leider auch der faszinierendste Blick auf diesen erst vor 58 Jahren durch Ausbrüche des Vulkans Capelinhos entstandenen Teil der Insel.
Der einstmals größte Leuchtturm Portugals stand bis 1958 an der Küste. Bei den Vulkanausbrüchen wurde die Insel weit nach Westen vergrößert, so dass der Turm jetzt im Landesinneren steht, teilweise von Asche begraben. In dem einem Vulkanschlot nachempfundenen Eingangssaal des Vulkanmuseums bekommen wir ein zweites Frühstück. Dann starten wir pünktlich um 10.30 Uhr.