Heute bin ich endlich ein Mann! Die letzten beiden Tage war ich eine Frau - zumindest auf der Teilnehmerliste! Als die Zeitnehmer den Fehler bemerkten, amüsierten wir uns alle sehr. Inzwischen ist der blaue Himmel einer lückenlos geschlossenen Wolkendecke gewichen. Noch ist es wenigstens einigermaßen warm.
Vorbei am Leuchtturm laufen wir durch weichen, mit Lavageröll vermischten Vulkansand bergauf. Schnell gewinnen wir an Höhe. Diese Landschaft könnte auch auf dem Mond sein, wenn nicht im Hintergrund grüne Berge und das Meer zu sehen wären. Ein Abschnitt mit hohen Grasbüscheln bildet den Übergang zwischen Wüste und Wald. Dann steigen wir wieder mal durch üppig grüne Vegetation bergauf. Bald erreichen wir eine steile, sehr steile Treppe. Der erste Streckenabschnitt führt an zehn erloschenen Vulkanen vorbei.
Und weiter geht es wieder durch Wälder, die ganz anders aussehen, als ich es von zuhause gewohnt bin. Wir steigen über alte Vulkankegel, deren letzte Aktivitäten so lange her sind, dass nun eine üppige Vegetation die Berge bedeckt. Der Weg zu einem Aussichtspunkt etwas abseits unserer Strecke ist zwar mit Flatterband abgesperrt, aber ich nehme mir die Zeit, mir den Krater anzusehen.
Dann steigen wir in ein kleines Dorf ab. Es folgt ein Streckenabschnitt mit den schönsten aller Wälder, die wir an diesen drei Tagen durchqueren. Anstrengende, aber äußerst schöne Trails führen durch dieses Paradies bergauf, immer wieder auch über steile Treppen.
Oberhalb dieses Urwaldes folgt eine andere, ebenso faszinierende Vegetation. Kleine Bäumchen ragen über hohem, weißgrauen Moos auf. Eine Märchenwelt mit Blick auf das Meer! So schön kann Trailrunning sein!
Nachdem ich etwa zwei Stunden unterwegs bin, erreiche ich die erste Verpflegungsstelle. Wie überall an diesen drei Tagen begeistert mich die Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft der zahlreichen Helfer. Immer werde ich gefragt, wie mir die Strecke gefalle, wie es mir geht und was man für mich tun könne. Nach drei Tagen fühlt man sich wie ein Familienmitglied, das zu Besuch kommt. Man kennt sich inzwischen und trifft sich nicht nur auf der Strecke, sondern auch auf den Fähren, beim Abendessen und im Hotel. Auch unter den Läufern hat sich innerhalb kurzer Zeit ein wunderbarer Zusammenhalt entwickelt. Für mich stellt sich die Frage nicht, ob kurze, mittlere, lange oder mehrtägige Läufe - ich möchte auf nichts von all dem verzichten. Mindestens einen Etappenlauf im Jahr will ich einplanen.
Da ich weiß, dass es bis zur nächsten Verpflegung ein weiter Weg ist, esse und trinke ich hier genug und fülle auch beide Flaschen auf. Dass es aber 3,5 Stunden dauern wird, ahne ich nicht. Über eine Wiese steige ich den Hang hinauf. Wäre nicht das Meer hinter mir, würde ich mich fast wie zuhause fühlen. Aber das ist die einzige vertraute Landschaft des Tages. Der nächste Hang ist extrem rutschig. Die Füße versinken im Schlamm und Wasser läuft direkt in die Schuhe. Ich habe es schon erwähnt, mit solchen Trails macht man mir wieder eine Freude.
Jetzt folgt ein Streckenabschnitt, der ein Landschaftserlebnis bietet, wie man es ansonsten wohl nur noch auf Madeira haben kann. Neun faszinierende und abwechslungsreiche Kilometer weit laufen wir entlang der Levada, einem schmalen Bewässerungskanal, in den 60er Jahren gebaut, um Wasser aus den Bergen zu den Plantagen zu führen.
Ständig springt man von einer zur anderen Seite der Rinne, läuft auf rutschigen Steinplatten und steigt über Mäuerchen, die abzweigende Bewässerungssysteme begrenzen. Oft geht es auch durch tiefen Schlamm. Die herrliche Vegetation, kleine, in den Berg gegrabene Hohlwege, Brücken, Stege und sogar ein Tunnel bringen viel Abwechslung. An einer Stelle müssen wir die Levada verlassen und steil bergab steigen, denn hier rutschte beim Erdbeben ein Stück des Hanges in die Tiefe. Am anderen Ende dieser Abrutschstelle erreichen wir wieder die Levada und folgen ihr noch eine Weile.
Vor einem zweiten Tunnel beginnt dann unser Aufstieg zur Caldera, anfangs teilweise wieder auf sehr steilen, rutschigen Trails, auf denen Läufer mit Stöcken ganz klar im Vorteil sind. Der Rand der Caldera über mir wird inzwischen von Wolken verhüllt. Ein Sturm zieht auf und die bedrohlich dunklen Wolken, die vom Meer her kommen, verheißen nichts Gutes.
Bevor ich den Wald verlasse und hinaus in den Sturm marschiere, ziehe ich meine Jacke für extreme Wetterlagen an und stärke mich in halbwegs geschützter Position mit einem Riegel. Weiter geht‘s. Nebel zieht auf, der Sturm wird immer stärker. Als ich den Rand der Caldera erreiche, kann ich noch kurz den etwa 400 m tiefer liegenden Boden des Kraters sehen, dann umgibt mich eine Stunde lang nur noch grauer Nebel. Die Caldeira ist ein etwa 2 km durchmessender Einsturzkrater, der vor etwa 1000 Jahren entstand.
Ich habe dieses tolle Panorama zum Glück schon bei besserem Wetter erlebt und bin nach einer Weile fast schon froh über diesen krassen Wetterwechsel, denn dadurch sind die Kilometer am Kraterrand für mich keine Wiederholung, sondern ein neues, krasses Abenteuer. Der Sturm tobt inzwischen so stark, dass mich einzelne Böen fast vom Pfad drängen. Es ist spannend und spektakulär. Zwischendurch kann man auch einigermaßen ganz gut laufen, dann kommen aber wieder technisch nicht ganz so einfache Abschnitte. Ich denke noch, zum Glück regnet es nicht, schon wird die Dusche eingeschaltet. Ich wollte ja unbedingt ein Abenteuer, jetzt bekomme ich es. Es macht Spaß.
Schließlich habe ich es geschafft. Unterhalb vom Parkplatz an der Straße zur Caldera ist in einem winzigen Häuschen die zweite Verpflegungsstelle. Endlich ein paar Minuten trocken und windgeschützt! Die Suppe und der warme Tee tun gut.
Obwohl ich breite, monotone Pisten nicht so mag, bin ich jetzt froh, flott und entspannt bergab laufen zu können, heraus aus dem stärksten Sturm und Nebel. Nach 20 Minuten verlässt unsere heutige Strecke die Route, die wir im Mai gelaufen sind. Die letzten gut zwei Stunden bis zum Ziel lerne ich noch einmal unbekannte Wege kennen. Einige Kilometer weit folge ich Nebenstraßen und sandigen Wirtschaftswegen, meist leicht bergab. Bei gutem Wetter wäre dies sicher eine noch schönere Strecke mit Blick auf das blaue Meer, vielleicht sogar auf den wolkenfreien Pico.
Zwischendurch sind für kurze Zeit ein paar blaue Flecken in der dunklen Wolkendecke zu sehen sind und der Regen lässt nach. Ich will noch möglichst viele Kilometer der restlichen Strecke bei Tageslicht schaffen, zumal ich weiß, dass noch ein technisch anspruchsvolles Stück Weg zu bewältigen ist.
Unser Trail führt nun durch ein Naturschutzgebiet mit kleinen Wasserflächen. Wunderschön! Zum gefühlt hundertsten Mal an diesen drei Tagen stehen hier drei Fotografen am Streckenrand und warten jeden Läufer ab. Dann steigen wir ein paar Meter steil in ein Bachbett ab. Regen und Kälte nehmen kurz vor der Abenddämmerung wieder zu. Nach der letzten Verpflegungsstelle liegen nur noch sieben Kilometer vor mir. Allerdings kann ich davon wieder ein Stück weit nur marschieren.
Zuerst geht noch leicht bergauf, vorbei an meterhohen Baumfarnen. Ein ungewohnter Anblick. Fotografieren kann ich in der zunehmenden Dunkelheit leider nicht mehr. Ein ziemlich unwegsamer Hohlweg führt durch einen wahren Stück Urwald, dann geht es wieder bergab. Konzentration und Trittsicherheit sind noch einmal gefordert. Jetzt ist bereits so dunkel, dass ich die Stirnlampe aus dem Rucksack hole. Jeder, der schon einmal nachts und bei Nebel oder feinem Sprühregen gelaufen ist weiß, dass diese bei solcher Witterung keine große Hilfe sind. Abwechselnd mit und ohne Licht laufe ich so schnell es geht. Bald wird der Weg einfacher und ich sehe in stockdunkler Nacht die Lichter an der Küste weit unter mir. Schneller! Ich friere, ich bin klatschnass und verliere allmählich die Lust. Auf Nebenstraßen könnte ich nun schnell rennen, doch meine Kraft schwindet. Nur die Hoffnung, bald unter der warmen Dusche zu stehen, hält mich am Laufen. Meine Beine hätten es lieber gemütlicher. Also halte ich an einem Aussichtspunkt kurz an, um die Lichter von Horta zu fotografieren.
Der Schlusssprint wird durch steiles, glattes Kopfsteinpflaster gebremst. Bloß jetzt nicht so kurz vor dem Ziel auch noch stürzen! Immer der Markierung folgen, dann weisen Polizisten den Weg. Hunde bellen. Endlich erreiche ich den zentral im Ort gelegenen Platz mit dem Zielbogen. Geschafft! Das war heute ein hartes Stück Arbeit, aber ein tolles Erlebnis.
Das Bier ist eiskalt. Zähneklappernd gehe ich hinauf zum Hotel. Später geht es mit dem Bus zu dem Restaurant, wo die Siegerehrung und Finisherparty stattfinden. Tolle Stimmung, sehr viel und sehr leckeres Essen und guter Wein - ein perfekter Abschluss! Ein Foto mit den einzigen beiden anderen Deutschen, Uwe Bohnhoff und Birgit Nötzel, die auch schon im Mai dabei waren. Mario bekommt als Dank für seine hervorragende Arbeit mehr Applaus als die Siegerinnen und Sieger. Keiner zweifelt daran, dass er sich der Mammut-Aufgabe, an drei Tagen auf drei Inseln anspruchsvolles Trailrunning zu organisieren, wieder stellen wird. Es werden immer mehr Läufer die faszinierenden Inseln auf spannenden Trails kennenlernen. Da bin ich mir sicher. Der Trailrun im Mai 2016 steht schon fest.
Schon als ich in Frankfurt lande, würde ich am liebsten wieder umkehren, um zurück in dieses Paradies fliegen.
Und hier sind die Gewinner der Dreitageswertung:
Männer: 1. Armando Teixeira, 2. Kamil Lesniak, 3. Miguel Silva
Frauen: 1. Lucinda Sousa, 2. Tuxa Negri, 3. Ana Duarte