Für die Nacht habe ich mich auf die Couch ausquartiert. Kurz nach 3.00 Uhr in der Früh schleiche ich mich davon. Die Familie weiß Bescheid und die Hunde freuen sich, dass sie quasi mitten in der Nacht ein paar Streicheleinheiten erhalten, nur der Chefredakteur weiß von alldem nichts.
Mich zieht es mit Haut und Haaren raus auf die Trails. Es geht mir wie unserer Terrier-Podenco-Mischlinshündin: Wenn man sie nicht an die Leine nimmt, gibt es kein Zurück.
Zum Belfortrail kann man sich noch kurzfristig, bis vier Tage vorher anmelden, Nachmeldungen vor Ort sind nicht möglich. Online kann ich mich nicht anmelden, irgendwie trauen die Franzosen den Schweizer Banken und ihren Kreditkarten nicht. Oder haben sie Angst, dass der Steinbrück seine Kavallerie losschicken könnte? Egal, es geht auch per Mail, mein Französisch wird verstanden und einen Termin beim Hausarzt bekomme ich auch noch, denn ohne Arztzeugnis wird in Frankreich niemand an den Start gelassen.
Eigentlich will ich wieder einmal ganz für mich und meine Bedürfnisse laufen, doch die Kamera muss mit. Na ja, wenn die Kamera schon dabei ist, dann kann ich auch noch ein paar Sätze zu den Bildern schreiben. Es ist nicht wegen Klaus, obwohl es ohne ihn unser Portal nicht gäbe, es ist wegen unserer treuen Leserschaft, ohne die es das Portal auch nicht gäbe und welche uns in der Umfrage so viel Goodwill entgegengebracht hat.
850 Startende werden auf dem Girotrail (22km) und als Dreierstaffeln und Einzelstarter auf dem langen Belfort Trail gezählt, Einzelmasken fürs ganze Programm sind es etwa 270.
Ab 6.00 Uhr werden im «Maison de l’Environnement du Malsaucy » in Sermamagny die Starnummern und das Funktions-T-Shirt ausgegeben, ebenso Kaffee. Vor fünfzig Jahren hätte sicher noch eine Gitane oder Gauloise dazugehört. Weil der Start in der Morgendämmerung angesetzt ist, erachte ich das Mitführen einer Stirnlampe als nicht nötig. Dabei habe ich die Rechnung ohne die beiden Klokabinchen (richtig gelesen: nur zwei!) gemacht, die auf der grünen Wiese stehen und in welchen es zappenduster ist.
Auf dem breiten Weg des ersten Kilometers kann sich das Feld auseinanderziehen, dann kommt ein kurzer Abschnitt geteerte Straße, das einzige namhafte Stück, von den 500Metern des Zieleinlaufs abgesehen. Bis hier sind auf beiden Seite des Weges brennende Fackeln eingesteckt; ein stimmungsvoller Beginn.
In meiner rechten Wade spüre ich nur noch ein leichtes Ziehen – das kommt gut, denke ich. Ein unbedachter Überholversuch reicht und ich weiß, dass das französische Wort für Vernunft definitiv nicht „Belfortrail“ ist. Die Wade schmerzt ein paar Stufen mehr als vor einer Woche. Ich stelle mir nur kurz die Frage: „Was soll ich tun?“ Ich lege mir die Strategie zurecht, dass ich diesen Lauf heute zweigleisig bestreiten will. Einerseits will ich bei den vorhergesagten Wetterbedingungen die Schönheit der Natur bis in die letzte Faser aufsaugen, andererseits kann ich mich auf andere Ultra-Abenteuer vorbereiten, indem ich mich mental in die Lage versetze, dass ich mit dem Schmerz der Verletzung umgehen kann. Mit diesem Entschluss nehme ich die erste Prüfung in Angriff. Sie heißt “La Grande Côte“, zu Deutsch große Steigung, und ihr Name ist Programm. Der Weg ist wild und vorsichtshalber habe ich mir das Roadbook ausgedruckt und die Lesebrille eingepackt, denn der Lauf findet in großer Autonomie statt.
Umgehend geht es abwärts in die Talmulde der Combe Hélienne, entlang eines Baches, dann wieder ansteigend auf schönen Wegen durch den Wald. Nach einem Wiesenstück wird eine Straße gequert, dann der kleine Fluss, um danach den langen Anstieg zu der „Planche des Belles Filles“ zu beginnen. Wie so häufig ist auch im Fall der „Planke der schönen Mädchen“ nicht eindeutig, woher die Namensgebung stammt. Von den Frauen, die sich, um den mordenden Schweden im Dreißigjährigen Krieg nicht in Hände zu fallen, in einen Teich geworfen haben oder ganz schlicht von ehemals für Fichten gebräuchliche Namen (fies, fées, woraus dann filles geworden ist)? Auch wenn es der Dramaturgie Abbruch tut, es ist eine Tatsache, dass links und rechts des Trails mehr Fichten als Filles auf dem Trail sind.
Der erste Teil steigt stufig an und bietet immer kleine Verschnaufpausen. Bei Kilometer 11 geht es wieder ans Eingemachte. Der Mont Ménard muss zuerst bezwungen werden. Die Jungfrau von Auxelles genießt bei klarer Sicht einen traumhaften Ausblick auf die Schweizer Alpen. Der Dunst verwehrt mir diesen weiten Ausblick, da muss ich vermutlich noch an meinem Heiligenschein schmieden. Aber beklagen können wir uns auch so nicht. Als Wiedergutmachung für die Wetterunbill bei so manchen Trails in der zu Ende gehenden Saison kommen wir Läufer heute in den Genuss eines sonnigen, prächtigen Tages.
Als nächster Brocken stellt sich uns einer vor die Beine, der wenige Meter höher ist als „der“ Brocken mit seinen Hexen. Belles Filles, ich komme! Das Wissen, dass diese schon längst auf dem Grunde des Sees liegen oder eben nichts als harzige, harte Fichten sind, gibt mir keinen besonderen Zusatzschub. Es ist viel mehr der Wanderweg mit seinen zwischenzeitlichen Gefälleinlagen.
Vor dem technischen Abstieg gilt es die Rundsicht auf die Vogesen und die Ebene der Haute-Saône einzufangen. Im Winter wäre ich schnell beim Verpflegungsposten bei Kilometer 17 unten, dem Parkplatz der „Hohen Planke“, dann allerdings auf der Piste mit den Latten an den Füßen.
Vom Herzen des Nationalen Naturreservats der „Ballons Comtois“ geht es auf einem schönen aber anspruchsvollen Weg hinab zum „Étang des Belles Filles“. Da am Grund liegen sie also und zum Glück ich nicht bei ihnen und bin ich auch sonst noch nicht auf Grund gelaufen, obwohl die Verbindung von rechter Wade und Vernunft mir eher zu einer Laufpause geraten hätte. Es ist halt wie im Bahnverkehr: Nicht immer sind alle Verbindungen garantiert…
Manchmal tut es gut, den Kopf auszuschalten, nicht so allerdings bei der Wegverzweigung. Wenn ich die ganze Strecke laufen will, muss ich aufpassen, dass ich nicht auf den hier abbiegenden Girotrail gerate.
Mit Quadratköpfen schlage ich mich nicht gerne herum, ihr Beitrag zu meiner Lebensqualität ist meist nicht höher als der von Fußpilz. Wenn ich einen solchen laufend überwinden kann, ist er hingegen eine Bereicherung meines Daseins.
Ein solcher ist die „Tête carrée“, der kantige, eckige, vierschrötige Kopf, wie die folgende Zwischenerhebung genannt wird. Auf kurzer Strecke stehen wieder 150 Höhenmeter an. Waren es vor einer Woche die Abwärtspassagen, sind es heute die Anstiege, die ich am schmerzlosesten überwinden kann. Anschließend kann man es auf 3km rollen lassen, dann kommt ein steiler Weg hinauf zur „Refuge de la Grande Goutte“. Wie das Wort „goutte“ hier zu übersetzen ist? Ist damit wirklich ein Tropfen gemeint oder doch ein Zipperlein? Oder ist es wieder eine der Doppeldeutigkeiten, in dem Sinn, dass am Brunnen ein allfälliges Zipperlein mit einem großen Tropfen Wasser gepflegt werden könnte?
Es geht auf den höchsten Punkt und gleichzeitig die Streckenhälfte zu, zum „Ballon d’Alsace“. Der Weg verläuft auf den Loipen und abwechslungsweise auf beiden Seiten der Krete. Nach dem Verlassen des Waldes wird eine Departementsstraße überquert, dann muss ich mich mit einer zähen Dame herumschlagen: „La Jeanne d’Arc“ ist der steile Aufstieg zum Kulminationspunkt benannt, wo eine Reiterstatue der Jungfrau ihr ehernes Banner in den Wind hält. Nach der phänomenalen Rundsicht folgt ein ebensolcher Abstieg auf der Elsässer Seite. 400m werden auf herausfordernden felsigen Wegen vernichtet. Im unteren Waldstück sehe ich nicht Geister, es ist auch keine Geiß, sondern eine veritable Gämse, die sich von mir nicht beeindrucken lässt und gemütlich zum Bach schlendert um ihren Durst zu stillen.
Von den eben vernichteten Höhenmetern wird umgehend ein Dreiviertel davon wieder hinzugefügt. Nicht irgendwie, sondern mitten im Skigebiet auf der schwarzen Piste auf einer Strecke von nur gerade einem Kilometer! Bis zum „Tête des Redoutes“ flacht der Anstieg ab, danach geht es auf einer neu erstellten Skipiste hinunter zum zweiten Verpflegungsposten. Auch hier gibt es Wasser, Tee, verschiedene Sirupe, Käse, Wurst, gedörrte Aprikosen und Pflaumen, Pain d’épice, Bananen, Orangen- und Apfelschnitze.
32km sind auf dem Zähler und bis zum nächsten Highlight im wahrsten Sinn des Wortes sind es knapp acht Kilometer. Fast entschuldigend wird auf Website von Belfortrail in der Wegbeschreibung darauf hingewiesen, dass da noch ungefähr 200m auf der Straße zu laufen sind, bevor man dafür wieder ganz in den Wald eintaucht. Obwohl ich in der Bewegung des rechten Beins ziemlich eingeschränkt bin, kann ich mich auch an diesem Abschnitt freuen, besonders an dem Stück Weide mit Ginsterbüschen vor dem Gasthaus „Großer Langenberg“. Nein, ich möchte nicht mit den Gästen auf der Terrasse tauschen, auch wenn es vermutlich in unseren Breitengraden der letzte Sonntagnachmittag für mehrere Monate ist, an welchem man kurzärmlig draußen ein Bierchen zischen kann.
Der nächste Wald ist ein Märchenwald. Wir folgen dem Bach, der mit Wasserfällen und Kaskaden über Augen und Ohren mit sanften Bewegungen und lauschigem Rauschen eine beruhigende Wirkung ausübt. Wo es Wasserfälle gibt, sind für den Läufer einige negative Höhenmeter eingebaut. Die letzten der seit dem VP abgebauten wiederum 400 Höhenmeter sind auf einem flach auslaufenden Stück. Für wenige Augenblicke kann die Muskulatur entspannen, denn sie muss umgehend wieder auf das Gegenteil umschalten. Im Zick-Zack geht es wieder 400m hoch. Die Anstrengung wird nach dem Verlassen des Waldes mit der wunderschönen Traversierung einer Hügelflanke belohnt.
Weil ich schon länger unterwegs bin, ist der Schatten im warmen Licht schon wieder länger, dafür leuchten die Farben des Indian Summers umso kräftiger. Gelb-, Rot und Brauntöne, zusammen mit einem noch satten Grün der Weiden brennen sich in einer optischen Symphonie auf meine Netzhaut und bleiben hoffentlich bis im Frühjahr dort gespeichert. Blau kommt als Assoziation beim Erreichen des höchsten Punktes auf, denn der trägt in der Tat den Namen Schlumpf. Ein wahrer Riese im Vergleich zu seinen Namensvettern: 1035m über dem Meeresspiegel.
Von geht es ein wenig abwärts zur Fennematt, einem weiteren Bauern- und Gasthof. Wenig später tauchen wir schon wieder in den Wald ein. Dieses letzte Fünftel erscheint mir länger als es ist. Beim Col du Hirtzelach gibt es noch eine Wasserstation, gefolgt von einem weiteren Anstieg zum Tremontkopf. Das Haus mit eingefallenem Dach sieht so aus wie ich mich fühle. Dass es gleich wieder ordentlich steil runtergeht, macht es für mich auch nicht einfacher.
In einer Hinsicht bin ich ganz entspannt: In Sachen Streckenmarkierung ist meinerseits keinerlei Aufwand nötig. Von Beginn weg gibt es keinerlei Zweifel, wo Abzweigungen sind und ob man immer noch auf dem richtigen Weg läuft. Rosa Punkte und Pfeile, Flatterbänder und Wegweiser sind nicht nur ein Gesellenstück, die Markierung ist ein Meisterwerk, welches als Vorzeigebeispiel dienen kann.
Wie relativ aber auch das ist, beweist die Person vor mir an einer gegebenen Stelle. Die Bänder flattern so dicht von den Ästen, dass ich sogar mit meiner Kurzhaarfrisur Gefahr laufe, mich darin zu verheddern. Trotzdem schafft es diese Person, zwischen zusätzlich noch gesteckten Wimpeln und zwei postierten Sanis hindurch geradeaus zu brettern statt abzubiegen. Auf die Zurufe hin biegt sie dann doch noch ab, will aber den Weg ganz rechts einschlagen, obwohl in der Mitte mit einem weiteren Flatterband, einem Pfeil und einem rosa Punkt die Richtung angegeben ist…
Die letzten Kilometer spule ich zwar ziemlich mechanisch ab. Doch trotz meines ziemlichen eckigen Gangs kann ich auch dieses Stück Natur genießen. Ich bin froh, dass ich mich durchgekämpft habe. Zu schön war es an diesem Tag in der Natur draußen, als dass es sich nicht gelohnt hätte.
Fürstlich war es – so wie sich das Schloss Léguillon beim Erreichen von Giromagny in der Spätnachmittagssonne präsentiert. Von hier ist es kein Kilometer mehr bis ins Ziel, wo wieder die bekannte Verpflegungsauswahl bereit steht.
Auch wenn die Duschen nur gemittelt mit dem Wert der ungewöhnlich hohen Tagestemperatur als warm bezeichnet werden können, steht für mich fest, dass ich den Belfortrail einmal noch auf zwei gesunden Beinen laufen will, um den Genuss nochmals steigern zu können.
Das französische Wort für Vernunft habe ich noch nicht nachgeschlagen. Aber ich verspreche, dass ich bis nächsten Sonntag nie wieder Marathon oder länger laufen werde…