«Du kannst mich nicht zwingen, von Zwingen nach Laufen zu laufen». Dieser Satz klingt leise in meinen Kindheitserinnerungen nach, als ich das Auto beim Bahnhof Zwingen parke. Laufen, der nächste Punkt an der Eisenbahnstrecke in Richtung Jura, ist fußläufig in vierzig Minuten zu erreichen, der Ausgangspunkt meines Vorhabens liegt aber in ähnlicher Distanz in südlicher Richtung in Brislach. Dort sind Parkplätze so häufig wie Protestanten in der Verwaltung des Vatikanstaats, weshalb von hier aus der Bus zu nehmen ist – wenn man auf die zusätzlichen Kilometer verzichten will.
Hohe Winde, der geographische Begriff war mir schon als kleiner Knirps bekannt, auf den gleichnamigen Bergmarathon hat mich der Chefredaktor aufmerksam gemacht, was ohne Gegenwehr gleichbedeutend ist mit einer Auflistung meines Namens im Starterfeld.
Obwohl ich nach der langen Laufpause einen guten Herbst hatte und ich das Jahr mit einem Marathon begonnen habe, betrete ich die Mehrzweckhalle der Schulanlage in Brislach mit gewissen Vorbehalten. Nach dem wettermäßigen Traumlauf Mitte Januar in Arosa, bei welchem mich schon Rückenschmerzen plagten, folgten leider mehrere Wochen Laufpause. Zwar vermag ich zu beißen, das ist nicht meine Befürchtung, doch es gibt ein Zeitlimit für das Bewältigen dieser 42,8 km mit 1800 eingebauten Höhenmetern.
Ich bin viel zu früh vor Ort, was die Equipe des Damenturnvereins nicht stört, die mich an ihrem Kaffeestand und Kuchenbuffet zu ihren ersten Kunden zählen können. Um 09.30 sollten dann alle Startenden für das obligatorische Briefing versammelt sein. Kurz und prägnant wird auf die wichtigen Punkte in Bezug auf Streckenmarkierung und Sicherheit hingewiesen und wenig später verschiebt sich das Teilnehmerfeld auf die andere Seite der Hauptstraße, wo auf einem Sträßchen am Rand des Dorfes der Start gestartet wird. In südlicher Richtung folgen nach Brislach die Orte Breitenbach und Büsserach, welche sich nahtlos aneinanderreihen und sich zu der Strecke hin teilweise mit riesigen Industriehallen abschotten. Als Kontrast dazu ist rechts von der Strecke eine idyllische Kapelle gelegen.
Was auf der Streckenkarte als kleine Schlaufe am südlichen Ende von Büsserach erscheint, ist bei genauem Hinsehen und Belaufen ein Gruß aus der Küche und gibt einen Hinweis, wie die verschiedenen Gänge des Laufmenus schmecken werden. Es geht hoch, um sich am Ende der Schlaufe wieder auf der Talsohle zu bewegen. Auf dem Spazierweg der Lüssel entlang sind in östlicher Richtung im Widerlicht die Umrisse der Burg Neu-Thierstein, auch als Schloss Thierstein bezeichnet, auszumachen, dem Wahrzeichen des Lüsseltals. Nach einem unerwarteten Teileinsturz vor 25 Jahren wurde der danach fehlende Teil ganz pragmatisch durch Beton ersetzt und steht dadurch weiterhin zur Nutzung zur Verfügung und kann auch von Privaten für Festlichkeiten gemietet werden.
Das nächste Dorf ist Erschwil, wo gleich die ersten Gebäude der Werkhof eines als Sponsor tätigen Bauunternehmens sind, bei welchen der erste Verpflegungsposten aufgebaut ist. Wasser, Iso, saftige Orangenschnitze und freundlicher Zuspruch sind im Angebot.
Weiter vorne im Dorf findet sich die Marathonweiche. Links, den gelben Markierungen folgend, geht es auf den Halbmarathon, geradeaus auf den Marathon. Allfällige, trotz der unmissverständlichen Ausschreibung bestehende Bedenken, ob es sich wirklich um einen Bergmarathon handelt, werden spätestens jetzt ausgeräumt. Auf den nun folgenden drei Kilometern werden bereits 400 Höhenmeter aufgebaut. Je weiter oben, umso steiler, und der zu Beginn noch asphaltierte Wirtschaftsweg mutiert zum steinigen Trail. Der nächste Kilometer weist nicht nur eine ähnliche Steigung auf, er führt sogar entlang der Kantons- und Sprachgrenze. Im Wechsel von Wald und Wiese, verbunden mit der Anstrengung, verliere ich mich in Raum und Zeit. Genau das, was ich brauche.
Vor ein paar Tagen las ich auf der Website von SWR3: „War euer Hirn schon mal verstopft? Das kann passieren, wenn wir zu viele Informationen aufnehmen, ohne ein Ventil für den Ausgleich zu haben. Nixen, also absolut gar nichts zu tun, oder ein Spaziergang um den Block kann bei Gehirnverstopfung helfen.“ Wenn schon ein Spaziergang um den Block hilft, dann ziehe ich mir gerade eine Überdosis an Nixen rein.
Trotzdem bemerke ich, dass der Untergrund nach und nach feuchter wird, teilweise auch gefroren ist. Die ersten letzten Schneereste breiten sich vor mir aus. Auch die Uhr, die ich entgegen meinen Gewohnheiten heute am Handgelenk habe, halte ich im Blick, denn ich mache mir keine Illusionen. Es ist nicht die Distanz, welche zu weit sein würde, es ist Zeit, welche mir zu deren Bewältigung zur Verfügung steht, die mich ausbremsen könnte. Kommt dazu, dass heute nicht nur die Beinmuskulatur gefragt ist. Mir wird in Form eines stechenden Schmerzes in der linken Schulter bewusst, dass ich seit Urzeiten nicht mehr mit Stöcken unterwegs war und auch dies geübt sein will.
Nach ziemlich genau einem Drittel der Strecke trete ich aus dem Wald und sehe 60 Höhenmeter weiter oben den markanten Triangulationspunkt der Hohen Winde. Der höchste Punkt der Strecke ist erreicht, und auf der anderen Seite des Bergkamms geht es -endlich geschützt vor der heftigen Bise -hinunter zum Restaurant Vorder Erzberg, wo der zweite Verpflegungsposten aufgebaut ist. Wasser, Iso, Cola, Bouillon; Gel, Salznüsse und Biberli sind im Angebot, der ganze Querschnitt der kulinarischen Begehrlichkeiten von Trailläufern.
Historisches wird ebenfalls geboten. Wer es weiß und sich Zeit nimmt, kann im Gelände eine Linie von Vertiefungen feststellen, Zeugen des Abbaus von Bohnerz im Mittelalter. Die nächsten drei Kilometer mit Gefälle bieten etwas Erholung für die Beine, dann folgen vier Kilometer mit leichtem Anstieg und unterschiedlichem Geläuf. Irgendwo unter uns führt der Tunnel der Passwangstraße durch, einem der Übergänge zum Mittelland.
Der Wechsel auf die asphaltierte Strecke bedeutet einen stark ansteigenden Kilometer bis zum nächsten Verpflegungsposten beim Oberen Passwang, wo wieder eine aufgestellte Crew das bewährte Sortiment anbietet, inklusive motivierenden Worten. „Nur noch bis zu dem Antennenspitz hoch, dann geht es praktisch nur noch abwärts!“
Der Antennenspitz ist nach 24 Kilometern der zweithöchste Punkt der Strecke und führt hinunter ins Bogental, um gleich wieder über den nächsten Karstkamm langsam, aber sicher zum letzten Drittel des Marathons zu gelangen. Mittlerweile hat auch schon wieder ein Kantonswechsel stattgefunden. Für eine Weile gehört der Boden unter den Füßen zum Kanton Basel-Land. Man könnte sich in diesem Wechsel von Kantonen, Hügeln und Tälern wirklich verirren. Dass dies nicht geschieht, dafür sorgt die perfekte Streckenmarkierung. Die Schilder und Flatterbänder lassen keinen Zweifel aufkommen, wohin die Reise führt. Also im geografischen Sinne, der Rest liegt nicht im Einflussbereich der Organisatoren und habe ich mir selbst zuzuschreiben.
Es ist ein schönes Wanderrevier mit unzählbaren Wegvarianten hier oben. Angenehm zu belaufen, Höhenmeter werden sanft und von leichten Gegensteigungen durchsetzt abgebaut. Das Ende dieses Programms wird mit einer Warntafel angezeigt. Steil geht es nun hinunter zum ersten besiedelten Ort seit über 25 Kilometern. Der herbeigesehnte Verpflegungsposten ist aber am Ausgang von Meltingen und der Weg durchs Dorf bedeutet die in solchen Fällen für mich übliche mentale Tortur. Ich bin aber zuversichtlich, dass ich nach erhaltenem Nachschub wieder fit genug sein werde für den letzten Gang des Marathonmenus.
Zwei Stunden bis zum Zeitlimit und noch acht Kilometer ist das zufriedenstellende Fazit nach der Konsultation meiner Uhr. Bevor es ich der Zivilisation wieder entfleuche, kreuze ich ein von Verkehrskadetten bestens gesicherte Hauptstraße und auf dem kurzen Abschnitt entlang einer Nebenstraße werden die Läufer mit Warnbaken vor potenziellen rasanten Helden ihres lokalen Straßennetzes geschützt.
Und dann gibt es die Nachspeise. Mit dem Eintritt ins Chaltbrunnental beginnt das Eintauchen in eine urige, ursprüngliche Welt. Entlang des Ibachs erwartet mich eine Märchenwelt und das andere Ende des Frühlingsspektrums. Waren es auf der Hohen Winde Schneereste, so sind es hier Märzenbecher, Schlüsselblumen und der würzige Duft von Bärlauch. Ich sauge die Eindrücke auf und lenke mich damit von den brennenden Oberschenkeln ab. Die Haxen glühen wie auf dem Grill. Bevor ich sie heute Abend der Matratze auftische, werden sie noch eine Marinade in Form von Latschenkieferlotion nachgereicht erhalten. So viel ist sicher.
Hier im Chaltbrunnental könnte man mich mit meinem schlurfenden, nach vorne gebeugten Laufstil und den beiden Stöcken in den Händen – wäre ich nicht in leuchtende Funktionskleidung gehüllt – als Inkarnation eines seines frühesten Bewohners wahrnehmen. Ich erinnere mich gut, wie ich in diesem Tal vor etwa 55 Jahren mit Ehrfurcht den geschichtlichen Erläuterungen meines Vaters über die Höhlenbewohner lauschte und gehofft habe, selbst noch steinzeitliche Überreste aus dem Boden kratzen zu können. Und wäre es nur ein Knochen gewesen.
An meinem konditionellen Knochen ist nicht mehr viel Fleisch, allerdings genug, um die verbleibenden dreieinhalb Kilometer nach einer zusätzlich eingerichteten Wasserstelle bis ins Ziel gut zu schaffen. Daran können auch die zwei Anstiege auf dem Weg dorthin nichts ändern. Der letzte Kilometer hinunter zur Schulanlage in der wärmenden spätnachmittäglichen Frühlingssonne ist die Zugabe und dann laufe auch ich, als einer der letzten Klassierten, aber mit beruhigendem Zeitpolster, über die Ziellinie.
In einer hübschen kleinen Tüte werden mir ein Duschmittel, eine kleines Erste-Hilfe-Set, ein Stirnband und die aus Holz gefertigte Medaille überreicht. Letztere war bereits für die kurzfristig annullierte Ausgabe vor zwei Jahren gefertigt worden und trägt deshalb die «falsche» Jahreszahl. Wen stört das? Mich keineswegs.
In der anderen freien Hand halte ich umgehend eine Flasche mit nicht drehendem Hopfeniso und werde von Ivo vom Muttenzer Marathon begrüßt, der hier mit seinem Verein für die Zeitnahme verantwortlich ist.
Als bekennender Heißduscher unternehme ich gar keinen Versuch, mich äußerlich zu erfrischen, da im Briefing darauf hingewiesen wurde, dass die Temperatur des Wassers der Duschen umgekehrt proportional zur Zielzeit sein wird.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle bedanke ich mich bei den sich im Aufbruch befindlichen Verkehrskadetten für ihren Dienst für unsere Sicherheit und versichere, dass es nichts mit ihrem Einsatz zu tun habe, dass ich mich wie von einem Lastwagen überfahren fühle.
Ich bin froh, dass wieder Laufveranstaltungen stattfinden und meine Kondition noch ausreichend ist, um auch einen fordernden Bergmarathon wie diesen erfolgreich beenden zu können. Der Bergmarathon Hohe Winde gehört für mich in die Kategorie der familiären, mit Herzblut organisierten Anlässe, bei welchem die Wünsche und Bedürfnisse der Läuferinnen und Läufer im Vordergrund stehen und diesen perfekt entsprochen wird. Obwohl die Pandemie verunmöglicht hat, dass dieser Anlass in den Veranstaltungskalendern und bei der Läufergemeinschaft gleich Fuß fassen konnte, bin ich von einer blühenden Zukunft überzeugt, zumal um diese Jahreszeit ein solches Angebot gerne angenommen wird – auch wenn es die Wahrscheinlichkeit beinhaltet, dass wir im kommenden Jahr durch den Schnee stapfen…