Kleinalmerode ist ein verschlafenes Dörfchen, 5 km westlich von seiner Kernstadt Witzenhausen gelegen. Seit wenigen Jahren erst erwacht es regelmäßig im April zum Leben, wenn Scharen von naturverliebten Wanderern, Walkern und Läufern den kleinen Ort heimsuchen und seine sonntägliche Ruhe stören. Dann ist wieder „BiMa“-Zeit, und das halbe Dorf ist auf den Beinen, um den zahlreichen Gästen aus nah und fern ein unvergessliches Ereignis zu bieten.
Am Sonntag, dem 6. April 2014 war es wieder soweit. Sport4you e.V., ein aus Laufenthusiasten bestehender Verein, eigens gegründet zur Organisation des Bilstein-Marathons, konnte sich über voll ausgeschöpfte Kapazitäten bei den Anmeldezahlen freuen. In der Starterliste fanden sich über 470 Frauen und Männer wieder, die sich für die drei verschiedenen Laufstrecken – BiMa 21, BiMa 42 und BiMa Ultra – oder als Freunde des Wanderns angemeldet hatten, die gleichsam die Marathondistanz zurückzulegen hatten.
Als um 8:00 Uhr die Wanderer, von denen viele mit Walkingstöcken ausgestattet waren, auf die lange Tour geschickt wurden, waren das Dorf und die Landschaft noch in Nebel gehüllt. Der hatte sich auch eine halbe Stunde später noch nicht verzogen, als die Ultraläufer sich neben dem Bürgerhaus des Dorfes versammelten. Die frische Morgenkühle ließ nur Temperaturen im einstelligen Bereich zu. Geduldig warteten fast 130 Frauen und Männer auf das Startsignal. Wenn schon, denn schon! So dachten wohl die meisten Ultrastarter, die sich mit 1.400 Höhenmetern und 54 Kilometern Wegstrecke die härteste Herausforderung herausgepickt hatten.
Völlig unspektakulär und wie aus dem Nichts zählte der Sprecher die letzten fünf Sekunden herunter und ließ den Startschuss ertönen. Das vielfüßige Feld trippelte die abschüssige Dorfstraße hinunter und verließ den Ort ostwärts, um ihn nach einer kleinen Schleife wieder zu durchlaufen. Nach Überquerung der Landstraße am Ortsausgang führte der weitere Weg auf Witzenhausen zu, ganz entgegengesetzt zum Bilstein. Dieser höchstgelegene Streckenpunkt und Namensgeber der Veranstaltung sollte erst viel später zum Etappenziel werden.
Schon kämpften sich erste Sonnenstrahlen durch den milchigen Nebel. Nach einem Kilometer freier Fläche erreichten die Läufer den bewaldeten Rodeberg, der einmal zu umrunden war. An seinen östlichen Ausläufern ließen sich zwischen den Bäumen vereinzelte Blicke auf Witzenhausen erspähen, das sich zu seinen Füßen erstreckte. Viele BiMa Wanderer hatten inzwischen einzeln oder in Grüppchen den Rodeberg erreicht. Nun wurden sie von den Ultraläufern schweigend oder freundlich grüßend hinter sich gelassen. Als die Läufer sich nach der Waldrunde wieder Kleinalmerode näherten, hatte die Sonne schon merklich die Oberhand gewonnen. Der Nebel war auf dem Rückzug.
Nach einer Verpflegungsstelle zwischen KM 9 und 10 folgte ein kleiner Abstecher nordwärts zum „Buchholz“. Der fing ganz harmlos an. Am Rande von Weideflächen entlang führte der grasbewachsene Weg hinunter zu einem Wäldchen, durch das ein Bächlein floss. Parallel zu dessen Verlauf schlängelte sich die Laufstrecke. Unweit seines jenseitigen Ufers lag ein winziges Nest namens Hubenrode.
Urplötzlich zeigte die Markierung einen scharfen Schwenk nach links an. Steil, sehr steil, ging es bergauf. Der verwinkelte Pfad war eigentlich nur mühsam bergauf stapfend zu bewältigen. Eine Felsformation geriet ins Blickfeld, an der sich Treppenstufen mit Holzgeländern entlang wanden. Zuerst leicht abwärts und dann umso höher aufwärts. Oben angekommen, betrat man einen Acker, über dessen Randfurche der nächste befestigte Feldweg zu erreichen war. Dieser führte geradewegs nach Kleinalmerode zurück. Mehr als 12 Kilometer waren geschafft, an die sich lediglich noch die schlappe Marathondistanz anschloss!
Nach Durchquerung des Dorfes bewegten sich die Läufer auf den Sportplatz zu, an der es die letzte Verpflegungsstelle vor dem Betreten des weitläufigen Kaufunger Waldes gab, der sich in südlicher Richtung erstreckte. Nach einer kurzen Phase mit ebenem Verlauf führte der Waldweg bergan, und so blieb es für die nächsten 10 Kilometer. Zwischendurch wurde am Umschwang nach einem neuerlichen Verpflegungspunkt die von Kleinalmerode nach Nieste führende Landstraße überquert.
An einer Wegekreuzung bei KM 24, am nächsten Verpflegungspunkt, teilte sich die Strecke. Linker Hand ging es für Wanderer, Halbmarathon- und Marathonläufer weiter, rechter Hand für die Ultras. Nach einem kurzen Stück auf dem breiten Waldweg zeigte ein Pfeil nach rechts ins Unterholz. Ein bei Geländeläufern beliebter Singletrail führte über Stock und Stein, hervorstehende Wurzeln und querliegende Bäume. Der unwegsame Pfad leitete die Läufer dorthin, „wo Fuchs und Hase sich Gute Nacht sagen“, wie es im Volksmund heißt.
Irgendwann tauchte die „Rote Niestequelle“ auf, deren Färbung auf einen hohen Eisengehalt im Gestein hinweist. Nach einer Treppe kam der „Kleine Steinbergsee“ in Sicht, dem der unebene Fußweg gefährlich nahe kam. Ein falscher Tritt hätte fatale Folgen haben und mit einem Sturz in dem trüben Gewässer enden können. Die Steinbergseen sind mit Grundwasser gefüllte Tagebaurestlöcher aus einer längst vergangenen Zeit, als aus der Grube Steinberg noch Braunkohle gefördert wurde, zuletzt vor fast 150 Jahren.
Neben der Steinberghütte, einer unweit des Sees befindlichen Grillhütte, befand sich der Steinberg, ein aus Basaltsäulen bestehendes Naturdenkmal und ein bis ins späte 19. Jahrhundert betriebener Steinbruch. Diese stille, idyllische Ecke inmitten des Waldes lud geradezu zum Verweilen und Innehalten ein, aber dafür dürften sich die Wenigsten Zeit gelassen haben. Über einige Stufen und gewundene Steige wurde dieser malerische Winkel wieder verlassen.
Als dieser abwechslungsreiche und abenteuerliche Schlenker durch das Dickicht beendet war, dem später noch weitere folgten, ging es auf breiten „Waldautobahnen“ weiter auf Großalmerode zu, wo der Wald sich zunächst lichtete. Nach dem Parkplatz „Kohlenstraße“ führte der Weg in Richtung Westen abermals tiefer in den Wald hinein. Mehre Kilometer abschüssigen Weges, auf dem der Zusammenfluss von Roter Nieste und Schwarzbach flankiert wurde, lagen vor den Läufern, auf denen sie sich für die bevorstehenden Anstrengungen schonen konnten.
Denn ab KM 33 war Schluss mit lustig! Dort, wo die „Dürre Nieste“ sich mit der Nieste vereinigt, wechselte jäh das Höhenprofil und bestimmte für die nächsten 4 ½ Kilometer die Gangart. Statt langer Schritte während des Bergablaufens waren jetzt kleine beim Anstieg vonnöten. Inzwischen stand die Sonne am kaum bewölkten Himmel und sorgte für warme Temperaturen jenseits der 20-Grad-Marke, aber die Bäume spendeten wohltuenden Schatten. Die Verpflegungsstelle nach KM 35, die schon bei KM 24 auf der Strecke lag, war Anlaufpunkt für die Teilnehmer aller Strecken, die peu à peu dort eintrafen. Nach einer kurzen Verschnaufpause machten sie sich auf, um das nicht nur sprichwörtliche Highlight zu erleben.
Zunächst stieg der Weg nur leicht empor. Nach einer Weile ertönten von fern musikalische Klänge durch den Wald, die rasch deutlicher zu vernehmen waren. Der Bilsteinturm, hoch aufragend auf dem zu erklimmenden Berg, grüßte von oben herab. Die Steilheit des Weges nahm bis zum Gipfel ungeahnte Ausmaße an. Zuschauer standen dort und feuerten die geschundenen BiMa-Teilnehmer an. Belohnt wurden diese durch stimmungsvolle Musik einer Kapelle, des Musikzuges Kleinalmerode, deren Mitglieder sich den Helden der Lauf- und Wanderstrecke zu Ehren in ihre weinroten Shirts geschmissen hatten und ihr Repertoire zum Besten gaben. Bravo! Und Tusch!
Die höchste Stelle des Kurses war erreicht, 640 Meter über dem Meeresspiegel. Bei dem strahlenden Sonnenschein bot sich ein grandioses Panorama der Gegend rund um den Hohen Meißner und weit darüber hinaus. Wanderer mochten sich die Zeit genommen haben, den Turm zu besteigen, der noch bessere Fernsichten erlaubte, die meisten Läufer aber nicht. Nach einer kurzen Trinkpause am Stand der Bilsteinhütte gemahnte ein Schriftzug zur Vorsicht beim Abstieg auf der entgegengesetzten Seite, der sich halsbrecherisch schroff und durchsetzt von Baumwurzeln und Basaltbrocken hinabwand.
Der „Vielarmige Wegweiser“ bei KM 38 leitete eine acht Klometer lang währende Erholungsphase ein. Anfangs schallten noch immer die Klänge des Musikzuges von der Bilsteinkuppe herunter, die aber nach einigen Kurven verhallten. Sanft schlängelte sich die Route talwärts durch den Wald. Die Teilnehmerfelder vermischten sich. Wanderer waren genauso unterwegs wie Marathonläufer und Ultras. Hin und wieder konnte man Ausblicke in die Umgegend genießen. Vom nördlichen Waldrand aus waren Kirschbäume in ihrer vollsten Blüte zu entdecken. Kirschblütenlauf war gestern! Heute ist BiMa! Schade, dass es den Volkslauf im Gelstertal nicht mehr gibt. Aber durch den milden Winter und das vorzeitige Einsetzen frühlingshafter Bedingungen blühten auch die Kirschbäume rund drei Wochen vor der üblichen Zeit, sehr zur Freude der Läufer und Wanderer des Bilstein Marathons.
Nach Verlassen des Waldes unweit des Dorfes Roßbach, bei KM 46, gab es eine weitere Verpflegungsstelle. Zur Abwechslung hieß es mal wieder: Berg rauf! An der Försterei Oberroßbach vorbei, einer aus wenigen Häusern bestehenden Siedlung, und darüber hinaus in den sich anschließenden südlich gelegenen Wald zog sich der Streckenverlauf bis KM 51 mehr oder weniger profiliert aufwärts.
KM 52, der letzte Verpflegungspunkt. Raus aus dem Wald! Weit konnte es nicht mehr sein. In der ursprünglichen Ausschreibung hieß es: 53 Plus. Daran klammerten sich die Läufer. Und kein Berg mehr! Aber schon wurden sie enttäuscht. Eine Extraschleife, die es im Vorjahr noch nicht gegeben hatte, zwang sie über einen holperigen Wiesenweg mit einigen zusätzlichen Höhenmetern. Geschenkt! Entschädigt wurden sie durch die schöne Aussicht und die vielen blühenden Kirschbäume ringsherum.
Kleinalmerode, der Rettungsanker eines langen Marsches, lag scheinbar friedlich unten im Tal. Ein Riesensmiley auf dem asphaltierten Feldweg deutete es an: Noch 900 Meter! Beim Näherkommen wurde klar, dass von friedlicher Ruhe keine Rede sein konnte. Es herrschte Volksfeststimmung auf dem Dorfplatz beim Bürgerhaus. Nach einigen Straßenwindungen erreichten die Läufer erleichtert das Ziel und wurden vom Moderator und den klatschenden Zuschauern begrüßt.
Jeder Finisher bekam eine Medaille und konnte sich an der Zielverpflegung erfreuen. Klappbänke und Stühle luden zum Setzen ein, um den müden Beinen ihre Ruhe zu gönnen. Bratwurstduft lag in der Luft. Getränke wurden ausgeschenkt. Die Stimmung war heiter und ausgelassen. Überall nur fröhliche und entspannte Gesichter! Drinnen im Bürgerhaus, tags zuvor Stätte der Nudelparty mit überaus reichhaltiger und üppiger Kost, wurden Kuchen- und Tortenberge aufgefahren. Die vielen Gäste und Finisher wurden bestens versorgt.
Die engagierten Veranstalter hatten wieder einen phantastischen Landschafts- und Erlebnislauf auf die Beine gestellt. Die ortsansässigen Vereine, die Feuerwehr und das DRK sowie unzählige freiwillige Helferinnen und Helfer wurden mit eingebunden, um den Teilnehmern ein Event zu bescheren, das seinesgleichen sucht. Petrus war ihnen auch noch hold und honorierte ihren Einsatz mit einem Bilderbuchwetter. Hatte der BiMa schon vorher eine treue Fangemeinde, so dürfte sie in diesem Jahr noch gewachsen sein.
Den 12. April 2015 werden sich viele der Läufer und Wanderer bereits vormerken, wenn es zum 5. Mal heißt: Laufen – Wandern – Ultra Trail. Flach ist anders!
08.07.20 | Da geht noch mehr - Probelauf am Bilstein |