Keine Chance sich zu verlaufen, denn die Strecke ist sehr gut und komplett ausgeschildert. Ein Ortskundiger könnte uns allerdings die Stelle zeigen, an der wir bis zu den Vogesen sehen könnten. Aufwärts am Obernonnenbachhof vorbei. Die zweite Verpflegungsstelle liegt in der Sonne. Es weht ein kühler Wind um unsere schweißnasse Kleidung. Wir sind auf 1150 m ü. NN. Hier befindet sich der Berggasthof Brend. Wir laufen auf dem unteren Rosskopfweg bergab. Der Fernblick wieder in Richtung Feldberg. Sonne und Schatten wechseln sich ab.
Ein Stück weiter verschluckt dichter Wald die Straße. Forstgeräte haben vor uns eine tiefe Reifenspur hinterlassen auf der wir jetzt mehr schlecht als recht versuchen uns abwärts durchzupflügen. Baumleichen versperren den Weg. Das darüber klettern nach fast 30 Kilometern ist ein gar nicht so leichtes Unterfangen. Wir gelangen an einem "Kamm-Pfad" zwischen dem 1146 m ü. NN hohen „Ibichkopf“, den 1072 m ü. NN hohen „Schultiskopf“ und den 922 m ü. NN hohen “Höllkopf”.
An der letzten Verpflegung gab es leider kein Wasser mehr, nur noch ISO. Also nehmen wir eine leere Plastikflasche mit und hoffen, an dem nicht weit entfernten Wasserfall eine Stelle zu finden, an der wir unsere Getränkeblase auffüllen können.
Es geht steil bergauf. Die Steine sind voll Moos, es wird angenehm kühl. Der Weg ist feucht und rutschig. Der Bach wird immer reisender je steiler es bergauf geht. Aus dem Bach wird ein kleiner Wasserfall. Nach etwa einem Kilometer haben wir die ideale Wasserstelle zum Auffüllen unserer Wasserspeicher erreicht. Sehr steil geht es mühsam aufwärts. Durch tiefe düstere Schluchten vorbei an einem tosenden Wasserfall und mächtigen bemoosten Felsen und Klippen auf der einen Seite und gurgelnde Bäche auf der anderen Seite. Leicht kann man sich den Ort vorstellen, an dem sich die Tragödie um das „Kalte Herz“ abgespielt haben muss.
Überdies, wer sich so einen Lauf einfallen lässt, der kann nur ein kaltes Herz haben. So wie Wilhelm Hauff den Finsterwäldnern einen festeren und auch rauheren Mut nachsagte, als dem Rest der Welt. Er meint jedoch, dass dies am starken Duft liegt, der morgens durch die Tannen weht. Wie in der Waldgeisterfarbel duftet der Tannenwald tatsächlich nach Moos und Feuchtigkeit.
Wir laufen wie in eine versunkene Zeit, als diese Wälder vor allem von Glas- und Uhrenmachern mit Pluderhosen und spitzen Hüten bewohnt war. Mächtig waren die "Holzherren" und Flözern, die in ledernen Hosen und schenkelhohen Stiefeln die menschendicken Stämme der Tannen flusswärts bis in die Häfen Hollands führten. Wir laufen über eine kleine alte Holzbrücke, an der nicht mehr alle Planken vollständig sind. Wir sind allein, mitten im Schwarzwälder Urwald. Grüner geht’s nicht. Der Weg ist sehr anspruchsvoll und steinig.
Eine Frau wird von ihrem Mann mit dem Mountainbike bekleidet. Auch er kommt trotz seiner vielen Gänge nicht weiter und muss schieben. Die Frau läuft ihm davon (und ist später vor ihm im Ziel).
Vierter Verpflegungspunkt und 40 Kilometer sind geschafft am Yacher Höhenweg. Wir schrauben uns nun mal wieder nach oben, gefühlt kilometerlang. Oben eröffnet sich uns ein Blick auf weite Landschaften: bunte Wiesen, viel, viel Wald in allen Nuancen der Grün-Skala, von Lindgrün bis Schwarzgrün. Zu den gelben Butterblumen kommen die quietschgelben Markierungen am Weg.
Massentourismus gibt es hier nicht. Nur selten treffen wir auf andere Läufer. Eine Läuferin mit einem gelben Rucksack holen wir langsam ein. Ihre Gesichtszüge sind von den Anstrengungen gezeichnet. Einen Augenblick später sind wir wieder allein. Nicht alleine war die erste Alpinistin im Jahr 1838. Henriette d'Angeville bestieg als erste Alpinistin den Montblanc. Das Ziel erreichte sie nur mit Hilfe von sechs Bergführern und zehn Kofferträgern; Sie schleppten vierundzwanzig Brathähnchen, zwei Hammelkeulen, zwei Lendenbraten sowie ein Fass Tafelwein auf den höchsten Berg Europas.
Tatsächlich hat jeder seine eigene Motivation, warum er hier läuft. Zugspitzlauf 100 KM, 250 KM Wüstenlauf in Chile oder beim Irontrail wo die 200er-Grenze in alpinem Gelände überschritten (nonstop) wird. „Die 58 Kilometer hier sind doch nur ein kleines Training“. Aber auch für gut trainierte Bergläufer ist dies mehr als eine regenerative Fitnesstour. Auch ich mutiere heute von der „Schreibtischtäterin“ zum Wochenend-Trail-Runner. Die Steigungsprozente klettern mit dem Herzschlag, der sich hämmernd am Hals abzeichnet: Die erste Bewährung, Laktat wird in die Schenkel geschüttet.
Die langen Schritte werden kürzer, wir tippeln nur noch, während der Blick am Boden klebt. Die Stunden vergehen. Auf dem Weg zur inneren Einkehr befinden wir uns am Nachmittag, als wir den extrem steilen Anstieg als eine Art Wallfahrt auf uns nehmen. Auf dem 907 m ü. NN hohen „Hörnleberg“ befindet sich die Wallfahrtskapelle „Unsere Liebe Frau“. 1493 wurde die Kirche erstmals erwähnt. Sie musste jedoch wegen kriegerischen Verwüstungen, Blitzeinschlägen und auch Brandstiftungen immer wieder neu aufgebaut werden.
Nun stehe ich für einen Moment in dieser Kirche und schicke ein Stoßgebet gen Himmel um die letzten 10 Kilometer auch noch zu Ende zu bringen. An der Rückseite der Kirche erwarten uns die Sanitäter des Roten Kreuzes mit leckerem Nusskuchen. Unsere Startnummern werden notiert und schon laufen wir weiter. Nebenbei stecke ich mir einen gelben Salzbonbon in den Mund. Ursprünglich als Scherzartikel gedacht, sind wir hier froh diese zu bekommen auch wenn man sich an diesen außergewöhnlichen Geschmack von Salz und Zucker im Mund erst gewöhnen muss. Nicht auszudenken, wir hätten diese Bonbons mit Senf gefüllt angeboten bekommen. Aber auch die letzten zehn Kilometer bekommen wir nicht geschenkt, einer Bergab-Passage folgt die nächste Bergauf-Passage.