Es gibt an diesem Wochenende einen Steig, der hat mehr zu bieten als der Rennsteig. Mehr Kilometer, mehr Höhenmeter, mehr Schnittchen, mehr beschleunigende Getränke: Der Rothaarsteig. Ich laufe aber nicht den Rothaarsteig-Marathon, ich bin beim Hollenlauf, einem Ultra über 101 Kilometer mit 1700 Höhenmetern.
Benannt ist dieser Lauf nach den Hollen. Das sind kleine, freundliche, hilfsbereite Wesen, die in Höhlen im Wald leben. Man vermutet heute, dass diese kleinen Menschen Reste der slawischen Bevölkerung waren, die im Zuge der Germanisierung versuchten, mit Handlangerdiensten zu überleben. In Bödefeld, am nördlichen Rand des Sauerlandes, halfen die freundlichen Geister im Bergbau aus.
Eine andere mysteriöse Geschichte ist die von der schwarzen Hand, die in der Kirche von Bödefeld zu besichtigen ist. Nicht mysteriös ist, warum ich nach meiner ersten Teilnahme 2011 diesen Lauf in meine Favoritenliste aufgenommen habe. Oder?
Von Süden erfolgt die Anreise über verschlafene Landstraßen durch das Sauerland. Freund Tommy wurde dabei fünfmal fotografiert, was nicht schlimm ist, nach der neuen Datenschutzverordnung dürfen die Bilder nicht verwendet werden. Oder?
Am Vorabend (Freitag) ist viel los, es treten knapp 2000 Sportler an. Es sind Wanderer, die um 19 Uhr die XL- Strecke von 101 Kilometer angehen. Wir Läufer starten morgen um 6:30 Uhr.
Das knallermäßige Frühstück (4:30- 11.00 Uhr) gibt es samstags. Das späte Frühstück ist natürlich für Kurzstreckler gedacht, also diejenigen, die 55, 42 oder weniger Kilometer zurücklegen wollen. Wer die Strecken wandern will, sollte wandern, wer laufen will, sollte laufen „ sowie es ihm möglich ist“. Zeitlimit für Läufer: 15 Stunden für die 101 Kilometer.
Die Strecke sieht aus wie ein JoJo. Die Scheibe hat einen Umfang von ca. 10 Kilometern, die sich anschließende Schnur ist der Rothaarsteig. Die Schnur wird entweder bis zum Ende gelaufen und dann gewendet (101 km), oder man wendet einen VP früher und läuft damit 83 km mit eigener Wertung. Man kommt also wieder in Bödefeld an, wo die zweitschönste Party der Welt stattfindet.
Zeitnahme mit einem neuen Ortungschip von Race results. Zwei Zettel liegen in der Startertüte, da wird ausdrücklich auf den Chip hingewiesen, man solle ihn gut sichtbar auf Brusthöhe oder am Bein befestigen. Hab ich gemacht, mit Sicherheitsnadeln, denn bei Verlust zahle ich sonst 40 Euro, also noch mal die Startgebühr.
Wir sind ca. 70 Ultraläufer, die von den 30 Minuten später startenden 55 km Wanderern beklatscht werden. Das Führungsfahrzeug des Sponsors führt uns durch die kleine Stadt. Es ist nicht Eisenach, aber auch hübsch, mit alten Fachwerkhäusern gesegnet.
Erst überlege ich, ob ich schnell in die Kirche springe, um ein Foto von der mumifizierten Hand zu schießen. Es ist die rechte Hand eines Mädchens, das vor über 250 Jahren lebte. Aber könnte doch sei, dass die Hand mir wegen der neuen Datenschutzverordnung aus der Vitrine entgegen springt. Aber hat eine rechte überhaupt Rechte, oder hat nur eine linke eine rechte?
Der Weg ist zunächst nur leicht ansteigend, erst als das Führungsfahrzeug aufgibt, geht es sehr steil den Wald hinauf.
Von hier geht ein Weg hinauf zum Soldatengrab und zum Hollenhaus. Das Hollenhaus ist ein beeindruckender Felsen, der einst Eingänge zu einem Höhlensystem hatte. Als sich Kinder in den Höhlen verirrten, trafen sie auf „Waldfrauen“ die dort wohnten. Die Hollenfrauen erwiesen sich gegenüber den Kindern als überaus freundlich und schenkten ihnen zum Abschied glänzende Steine, die sich als pures Gold herausstellten. Als rohe Burschen in die Höhle eindrangen, um die Schätze zu rauben, stürzten die Eingänge ein. Das Soldatengrab ist mit einem Kreuz und aufgesetztem Stahlhelm gekennzeichnet.
Oben angekommen, haben wir einen wunderbaren, sonnendurchfluteten Blick auf die Berge des Sauerlandes. Die Wege sind einfach, nicht trailig, Spezialschuhe nicht notwendig, was die etwa 20 Abbrecher am Tagesende allerdings nicht bestätigen werden.
Der erste VP ist bei km 9 in Gellinghausen erreicht. Ich bin erstaunt über die Fülle des Angebotes. Aber hinter uns kommen ja noch die Wanderer.
Nach 14 Kilometern kommen wir zurück nach Bödefeld. Christoph steht dort mit seinem aufgeregten Hund, er läuft später eine Kurzstrecke. Henning sprintet in seine Pension, checkt dort nochmal die Sanitäranlage.
Ab dem VP 2, km 15 „Zur Wahr“, beginnt „die JoJo-Schnur.“ Die Bezeichnung „ Zur Wahr“ deutet darauf hin, dass hier einst die Wahrschau, also der Ausguck war. Bödefeld wurde im 14. Jahrhundert zur „Freiheit“ erhoben, also einem Dorf ohne Leibeigenschaft und mit persönlichen und wirtschaftlichen Vorteilen. Die Gewerbefreiheit förderte den Handel mit Eisenwaren und Wolle, Bödefeld wurde Mitglied der Hanse.
Der weitere, steile Aufstieg führt uns zum Kreuzberg, wo der Pfarrer begraben liegt, der 1722 die schwarze Hand im Kirchturm fand. Später werden Läufer sagen, dieser Anstieg sei brutal, dabei laufen Gläubige seit Jahrhunderten diesen Weg. Die Kapellentür steht offen, ich sehe das Seil der Glocke: Soll ich mich dranhängen und einen Gruß an meine Mitläufer senden? Mit Erreichen des VP 3, km 20 „Nasse Wiese“, sind wir schon auf dem Rothaarsteig.
Der Rothaarsteig ist sehr viel abwechslungsreicher als der Rennsteig, hat mehr lichte Flächen mit schönen Aussichten, kaum Hochwald, dafür mehr Laubwald, Wiesen und Moore. Es Ist auch ein Grenzweg zwischen Ländern und Dialekten, hat ein paar asphaltierte Abschnitte, aber meist Wiesen- und Waldwege.
Die ersten Ultrawanderer kommen mir entgegen, sie haben eine lange Nacht hinter sich. Keine Nordic Walker, dementsprechend ist der gegenseitige Respekt groß, man grüßt sich freundlich. Spätere Wanderer zollen uns lauten Applaus, dabei bewältigen sie dieselbe Strecke. Viele mit schweren Wanderstiefeln, manche sogar mit Schuhen der C-Kategorie, an denen man Steigeisen anbringen kann. Dazu schwere Rucksäcke mit dem gesamten Hausstand. Ich gehe davon aus, sie trainieren für den Milford Track in Neuseeland. Ein Zwischen-VP bietet Berg-Auf- und Berg-Ab-Beschleuniger, ich werde erst später zugreifen.
Den Aufstieg zum Kahlen Asten bewältigen wir über die Skipiste „Sahnehang“. Und wieder wird gestöhnt: „ So steil, so heiß“, dabei ist diese „Skipiste“ eher bei Holländern beliebt, weswegen hier als Warnhinweis“ Doodsgevaar“ steht.
Meine Grundschullehrerin bläute uns ein, dass der Kahle Asten der höchste Berg von NRW sei. War vielleicht damals so, so oft, wie sie das erwähnte. Wir nannten die mürrische Direktorin daraufhin „der kahle Asten“.
An der Straße „Landwehr“ war die mittelalterliche Befestigung zum Schutz der Stadt Winterberg. 1640, im Dreißigjährigen Krieg, spielte sie eine große Rolle als Schutz gegen die Schweden. Bis ins 18. Jahrhundert war die andere Landwehr zwischen dem Herzogtum Westfalen und der Grafschaft Wittgenstein umkämpft. Insgesamt queren wir 4 bis 5 der alten Wälle. Dazu noch die 1000 Jahre alte Heidenstraße und die 2000 Jahre alte Römerstraße, die uns rauen Untergrund bescheren.
Bei km 30, Lenneplätze, erreichen wir den nächsten VP. Die Lenne kennen wir vom P-Weg-Ultra (wieder am 08.09.18). Zahlreiche Flüsse entspringen hier oben. Die Frage ist, wie lange die Neger noch ihren Namen behalten darf.
Auf dem Lenneplateau, wo der „brutale Weg in der Hitze“ anfängt, treffe ich Martin aus Hamburg. Ihn habe ich 2006 bei meinem ersten Ultra, dem 6 Std Lauf in Troisdorf, kennengelernt. Damals, in der FB-Vorzeit, habe ich ihn auf das Übelste im Forum als „Walker“ beschimpft. Nach dem Lauf in Troisdorf hatte ich begriffen, dass Walker keine Nordic Walker sind.
Die Berggoldschmiede verarbeitet nicht mehr hiesiges Gold. Das Edelmetall ist ausgegangen, seitdem es die Hollen verschenkt haben. Die Tür steht offen, was dort zu sehen ist, ist meisterhaft.
Die Langewiese ist nicht sooo lang, ich komme zum VP 6, km 40, Kühhude. Das Wort „Hude“ geht auf die Zeit der Freiheit Bödefeld zurück. Jeder Bürger der Stadt hatte das Recht, sich im gräflichen Grundbesitz (Freiheitsland) mit Brennholz zu versorgen und das Weideland (Hude) zu nutzen. Man musste aber den Zehnten, also 10 %, als Abgabe an den Grafen leisten. Unsere Regierung verspricht uns seit Jahren Steuersenkungen, doch außer der Erhöhung der MwSt. auf 19 % gab es keine Veränderung.
Den Walker Wilhard mit seinem Regenschirm und gezwirbelten Vollbart beleidige ich ein wenig, als ich ihn als „vollbekloppt“ bezeichne. Dabei habe ich den 67jährigen mit seinem skurrilen Outfit damit nur loben wollen.
In der Freiheit Bödefeld konnte jeder Bewohner nach festen Regeln Bier brauen. Im Rathaus durfte man sich den „Freiheitskessel“ ausleihen. Das Bier musste mindestens zwei Wochen stehen bleiben, zumindest aber so lange, bis der Vorgänger sein Bier aufgebraucht hatte. Dann musste man dem Magistrat eine Probe bringen, nach der dieser den Preis festsetzte. Für den Ausschank gab es ein vorgeschriebenes Maß, „das Freiheitsmaß“. Verstöße wurden vor Gericht geahndet, die „Brüchte“ (Strafgelder) flossen in die Magistratskasse.
Tatsächlich brechen hier die ersten Läufer und letzten Walker. Das Leiden fängt an. Für viele sind die klimatischen Verhältnisse problematisch. Ich habe wunde Füße. 30 Meter geht es an einer Straße entlang, ich registriere die Fähnchen, die für die Nachtwanderer mit Lämpchen und Reflektoren ausgestattet sind. Ansonsten gibt es Flatterbändchen und reichlich Kreidemarkierungen. Ein Verlaufen wurde mir nur von Tommy berichtet, aber der ist oberbekloppt, stöhnt wie ein Weltmeister über den brutalen Lauf, um dann lachend Lebensfreude über unser beklopptes Läuferleben zu versprühen.
Die ersten Läufer, die nicht mehr 101 Kilometer, sondern „nur“ 83 laufen wollen und beim Wendepunkt, bei km 49 (Jagdhaus) umgedreht sind, die kommen mir jetzt entgegen. Sie sehen glücklich aus. Und ich kriege einen Schreck: Mein Chip ist weg.
Der Weg zum VP 6, Jagdhaus ist herrlich: Sonnig, grün und leicht. Als ich beim VP Jagdhaus ankomme, habe ich genau 7 Stunden auf dem Tacho, die 101 Kilometerstrecke würde ich also locker im Zeitlimit schaffen. „Habt ihr meinen Chip gefunden?“ Es wird viel telefoniert. „Nein“. Dann wird weiter telefoniert. „Wir brauchen einen Krankentransport“. Ich protestiere. Aber glücklicherweise war nicht ich gemeint.
Wenn ich jetzt umdrehe, dann habe ich nach 83 Kilometern noch Zeit für die zweitschönste Party der Welt. Das ist ein Deal! 49 Kilometer hab ich, 34 bleiben, ein Kinderspiel!
Ich habe also gewendet, sogleich überholt mich Gabi, die locker den dritten Gesamtplatz der 101 Wertung machen wird, Christoph den zweiten. Er hat auch die Ruhe weg, wir beide marschieren und quatschen und lassen den Ersten, Julio ziehen. Wieder am VP Kühhude frage ich wieder nach meinem Chip.
Am Heidstock wurden die letzten heidnischen Anhänger des Wodans in einem bitteren Kampf getötet, was mich nun wirklich tangiert. Ein eiskaltes Bier in der Höheleyer Hütte macht mir wieder Laune. Weniger emotionale Mitstreiter füllen sich ihr Camelback mit eiskaltem Wasser am Wasserhahn des sauberen Klos. Seit Stunden lässt sich Werner von mir ziehen, jetzt lasse ich ihn ziehen.
Der letzte Ultrawalker telefoniert mit seiner Freundin, will sie zu seinem grandiosen Zieleinlauf beordern. Doch bei diesen „höllischen Temperaturen“ will sie nicht. Ich wette, diese Beziehung hält nicht lange.
Auch am VP Lennepätze hat man meinen Chip auch nicht gefunden: „ Nimm erstmal ein Glas Rotkäppchen“. Am VP „Nasse Wiese“ vergesse ich nach meinem Chip zu fragen, weil mich die jungen Helferinnen mit ihrem Getränkeangebot fesseln. Hier aber irgendwo liegt mein Chip, wie die Ortung im Wettkampfbüro später ergeben wird. Fünf Kilometer sind es jetzt noch zum Ziel, Tommy greift sich nach einem Baileys die dürre Nicole und düst ab.
Ich habe seit meinem Fußbruch Probleme, habe nach 6 Monaten Schmerzen einen Arzttermin gemacht. Wie beim Keufelskopf letzte Woche, geht es auf den letzten Metern nochmal heftig hinauf, dann sehe ich unter mir Bödefeld mit den vielen Autos der Läufer auf grüner Wiese.
Als ich den steilen Abhang neben dem 800-Kühe Stall runterlaufe, sagt mir ein Walker: „Ich riskiere nix mehr, will mir nicht auf den letzten Metern die Haxen brechen!“
Riskieren wollen wir nichts, mein Programm im Mai war heftig. Ich entscheide spontan, eine Woche Pause zu machen, bevor ich Biel antrete. Doch, wenn ich recht überlege… da gibt es einen neuen Lauf in der Pfalz….. mir jucken die Beinmuskeln!
Und wer schon lange nicht mehr in der Kirche war: Die schwarze Hand wäre ein Grund dafür!