Die Plose (2562 m) ist von der Autobahn her gesehen ein eher unscheinbarer Berg und auch von der Nähe ist er wenig furchteinflößend. Man meint, ihn ohne große Mühe meistern zu können. Nach Westen hin ist er meist bewaldet, am Südhang gibt es viele Wiesen und Weiden. Von seiner baumlosen Gipfelkuppe soll der Name abgeleitet sein (Plose = Blöße). Obwohl die Plose ein Aussichtsberg erster Güte ist, wird er im Winter von den Skifahrern wesentlich mehr frequentiert als im Sommer von den Wanderern. Die Trametschpiste ist mit 9 km die längste Skiabfahrt in Südtirol.
Nach dem kleinen Imbiss braucht man gar nicht erst anfangen zu laufen, denn der Wiesenweg bis zur Forststraße unterhalb der Seilbahn ist ziemlich steil. Erst dort kann man in der angenehmen Sonne wieder etwas Fahrt aufnehmen. Letztes Jahr freute ich mich über jeden Baum, der einen Schatten warf. Heute ist es umgekehrt und im Schatten in den nassgeschwitzten Klamotten fast zu kühl.
Jetzt kommt ein Streckenabschnitt, der typisch ist für diesen Marathon. Der Weg ist gar nicht schlecht und die Steigung eher mäßig. Laufen? Ja. Normalerweise. Aber wir haben noch nicht einmal ein Drittel der Strecke hinter uns. Gehen? Normalerweise nein. Aber wir haben noch 1700 HM vor uns. Im Klartext: in meiner Preisklasse sind auch diese bequemen Wege auf Dauer zu „steil“ zum Laufen. Die Flach- und Abwärtspassagen gleichen das nicht aus. Deshalb ist man hier länger unterwegs als beispielsweise beim Jungfrau- oder Zermatt-Marathon. Interessanterweise sagt mir das auch Hermann Achmüller, der zum zweiten Mal gewinnt und deutlich über seiner Jungfrau-Zeit bleibt.
Nicht schlimm, ich sag’s nur. Man hat 8 Stunden Zeit und das sollte genügen, auch wenn man wie ich dauernd was zum Fotografieren entdeckt. Hinunter zum Drockerhof und weiter nach St. Georgen (km 19,2 – 1504 m) kann man es wieder mal rollen lassen, verliert aber auch einige Höhenmeter. Zum ersten Mal sieht man die Spitzen der Geisler, die man in Aferer und Villnösser Geisler unterscheidet. Gleich kommt auch der Peitlerkofel (2875 m) zum Vorschein. Er ziert das Logo des Brixen Dolomiten Marathon. Hier überqueren wir die Verkehrsstraße, die zum Kreuztal und zum Würzjoch führt. Wenig oberhalb liegt Palmschoß, wo man in den 1950er Jahren eine Mineralquelle entdeckte. Heute wird das Plose-Mineralwasser in ganz Südtirol ausgeschenkt. In Palmschoß ist auch das von mir gelobte Hotel.
Die nächsten Kilometer verlaufen meist auf einer schmalen Teerstraße, abwechselnd rauf und runter. Mal bietet ein alter Bauernhof, mal eine malerische Kapelle oder ein Kruzifix mit den Geislerspitzen im Hintergrund ein lohnendes Fotomotiv. Wir sind in Hinterafers und stoßen wieder auf die schmale Verkehrsstraße, die zum Würzjoch führt. Über die Passhöhe (2003 m) kommt man schon seit Urzeiten ins Gadertal. Man hat einmal einen Stein mit einer vermutlich römischen Inschrift gefunden. Beim Ausbau der Straße verschwand der Stein auf Nimmerwiedersehen. Ein Foto existiert auch nicht.
Wir verlassen die Passstraße bei der Verpflegungsstelle bei km 25 (1630 m). Iso, ein paar Kekse und weiter geht’s. 3 km und 350 HM wollen hinauf zur Peitlerknappen- und Schatzerhütte (1984 m) auf einen Rutsch genommen sein. Dann sind wir auf dem Panoramaweg, der uns auf einer Höhe zwischen 2000 und 1900 m westwärts zum Kreuztal bringt, der Bergstation der Plosebahn. Dazwischen liegen sechs wahrhaft traumhafte Kilometer durch herrlich blühende Almwiesen und mit atemberaubenden Ausblicken auf die irren Felsformationen der Geisler, die typisch sind für die Dolomiten. Aber auch die Langkofelgruppe kann man sehen, den Schlern und die Raschötz-Alm. Das Tal dazwischen ist daS Villnösstal, die Heimat von Reinhold Messner. Dahinter liegt das Grödner Tal, das der legendäre Luis Trenker bekannt gemacht hat.
Früher nannte man die Dolomiten die „bleichen Berge“. Dann erforschte der französischen Geologe Dolomieu das Gestein und man benannte schließlich das ganze Gebirge nach ihm. Seit 2009 gehören Teile der Dolomiten zum UNESCO-Weltnaturerbe.
Federico ist er erste Marathoni, den ich einhole. Er ist erbärmlich beieinander. Scheinbar friert er, den Reißverschluss seines Shirts hat er bis oben zugezogen, die Fäuste krampfhaft geballt. Er spricht mich an. Ich kann kein Italienisch, er kein Deutsch. Bei Englisch schüttelt er auch den Kopf. Ich vermute, er will die Zeit wissen, die man noch bis zum Ziel braucht. Die Kilometer kann er nicht meinen. Alle 1000 m steht ein Schild, ab km 30 sogar alle 500 m. Selbst wenn ich könnte, ich würde es nicht wagen, es ihm zu sagen. Ich wäre nicht der erste Überbringer einer schlechten Nachricht, den man umbringt. Stattdessen hoffe ich, dass er bei der Verpflegungsstelle an der Skihütte (km 31 – 1900 m) aufgibt.