Ich sage ja, Heuwetter! Es duftet nach dem würzigen Viehfutter. Aber mit der Romantik ist es vorbei. Wo früher die ganze Familie beim Mähen, Wenden und Einfahren im Einsatz war, sind heute Bauer und Bäuerin auch am steilsten Hang mit schwerem Gerät bei der Arbeit. Was jetzt hier gewendet wird, ist heute Abend in der Scheune. Erst wenn sich dann die ganze Familie bei Speck und Käse, Vinschgauer Brot und einem Roten zusammensetzt, wäre ich gerne dabei. Bis dahin ist mir mein Job lieber.
Ungefähr zwei Kilometer geht es auf der Passstraße in Richtung Würzjoch. Nicht ein Auto begegnet mir auf diesem Abschnitt. Trotzdem sind Carabinieri zur Sicherheit an der Strecke. Apropos Sicherheit: Die Strecke ist permanent ausgeschildert, am Veranstaltungstag gibt es zusätzliche Markierungen. Jeder Kilometer ist gekennzeichnet, in kurzen Abständen stehen Helfer, Feuerwehr und/oder Sanitäter. Ich fühle mich sicher.
Hinterafers heißt die letzte Siedlung, danach verlassen wir die Passstraße bei km 25. Gleichzeitig hat das gemütliche Joggen ein Ende. 350 Höhenmeter sind auf 3 km zu bewältigen. Ich nenne diesen Abschnitt heute „Almblumen-Wanderung“. Zunächst ist kein Läufer in Sichtweite. Ich bin alleine und genieße es. Niemand treibt mich an, niemand bremst meinen langsamen Marsch noch mehr. Am Wegrand blüht es bunt, noch schöner sind die noch unberührten Wiesen. Die Stille ist fast vollkommen. Nur manchmal hört man von der Ferne den sonoren Klang einer Kuhglocke. Außer noch dem summenden Geräusch der Mücken ist nichts zu hören. Manchmal nehme ich mir zuhause auf meine Laufstrecke das Radio mit. Nie würde es mir aber einfallen, mich auf einem stundenlangen Lauf wie diesem mit Musik oder anderem von diesen Eindrücken abzulenken.
Tatsächlich kann ich zwei Marschierer einholen. Einer von ihnen, Gabriele, schwächelt wohl nur vorübergehend. Als ich mich bei der Peitlerknappenhütte ((1970 m) niedersetzte, um dem „Clou“ der jungen Musiker zu lauschen, zieht er auf und davon. Nur Felix und Renato bleiben künftig in meinem Blickfeld. Allerdings traue ich Felix nicht mehr viel zu. Er hängt mächtig in den Seilen. Aber die Einheimischen sind zäh. Felix kommt aus Brixen.
Die Wolken geben die Spitzen der Geisler jetzt frei. Bizarr erheben sie sich über den riesigen Schutthalden. Zwischen dem Peitlerkofel, dem Wahrzeichen des Brixen Dolomiten Marathons, und der Geisler-Gruppe liegt das Villnösstal, die Heimat von Reinhold Messner. Noch weiter südlich, hinter den Geislern und der sich anschließenden Raschötz-Alm liegt das Grödner Tal, über dem sich der Langkofel majestätisch erhebt. Später sehen wir auch die Hochfläche des Schlern. Ich erinnere mich noch gut an Luis Trenker, der mit seinen Büchern und Filmen und seiner unnachahmlichen Art zu erzählen, seine Heimat bekannt gemacht hat. In seinem Geburtsort St. Ulrich ist er begraben.
Jeder sieht jetzt, weshalb man die Dolomiten „Land der bleichen Berge“ nennt. Der Name kommt von dem französischen Geologen Dolomieu, nachdem auch das charakteristische Dolomitgestein benannt ist.
Wir laufen den Panoramaweg westwärts, also genau entgegengesetzt zu unserem vorigen Weg durchs Aferer Tal und ca. 400 – 500 m höher. Kein Baum spendet mehr Schatten. Unterhalb der Gampenwiese liegt die Schatzerhütte (1984 m, km 28), in einer kleinen Senke, wir verlieren fast 100 Höhenmeter, die Skihütte. Die Höhe macht die Hitze erträglich, außerdem funktioniert die körpereigene Klimaanlage bestens. Manchmal geht ein leichter Wind und so wird ohne eigenes Zutun zusätzlich ein Ventilator aktiviert. Ehrlich, mir ist in den Bergen die Hitze lieber als Regen, Wind und Kälte.
Ich könnte die herrlichen Berge pausenlos fotografieren, mal mit Blumen, einem Brunnen, einer Kuh oder nur so. Meine zwei Mitstreiter habe ich aus den Augen verloren. Dafür taucht aus dem Nichts ein Italiener auf, der es aufgrund seiner Statur eigentlich nicht dürfte. Na ja, ich revanchiere mich doppelt und überhole bei der nächsten Verpflegungsstelle gleich zwei Kollegen. Sechs oder sieben Kilometer mag dieser traumhaft schöne Weg sein. Dann ist Kreuztal erreicht, Bergstation der Plose-Bahn (2048 m, km 33,7) und eine weitere Verpflegungsstation mit allem, was man braucht.
Ab hier gäbe es bei schlechtem Wetter eine Alternativstrecke zur Plose-Hütte. Hoffentlich muss sie nie gelaufen werden. Nicht dass sie nicht schön und anspruchsvoll wäre. Ganz im Gegenteil. Aber weil wir auf der „normalen“ Strecke ca. 400 m unter dem Gipfel bleiben und die Laufrichtung nordwärts wechselt, schauen wir jetzt statt in die Dolomiten wie aus der Vogelperspektive hinunter ins Eisacktal und nach Brixen und gewinnen völlig neue Eindrücke. Am Horizont erkennt man im Sommerdunst die Stubaier und Zillertaler Alpen. Unser Weg ist nur ein schmaler Pfad, mal wurzlig, mal steinig, mal zentimeterdick mit Kiefernnadeln gepolstert. Hauptsächlich führt er uns durch einen gigantischen Garten prächtig blühender Alpenrosen. Das muss man einfach gesehen haben. Deshalb die Bemerkung mit dem „hoffentlich …“.
Obwohl, auf den letzten Kilometern kann man das durchaus anders sehen.