Aber zunächst wird die Ochsenalm erreicht (2085 m, km 39), ein herrlicher Aussichtspunkt und von St. Andrä aus ein beliebter Weg auf die Plose. Es empfiehlt sich, an der Verpflegungsstelle das volle Angebot in Anspruch zu nehmen, nicht nach oben zu schauen und stattdessen den Blick nicht von dem Weg zu nehmen. Wer meinen Rat nicht befolgt, sieht in unendlicher Entfernung ein Kreuz und darunter zentimetergroß kleine bunte, bewegliche Punkte. Jetzt gibt es welche, die wollen wissen, ob das der Gipfel sei. Die ehrliche Antwort lautet dann: „Nein, den sieht man von hier nicht!“ Ich kenne mich aus, lasse mich aber gerne auf dieses Frage- und Antwortspiel ein und mir Mut zusprechen.
Die Helfer, die wie Cowboys auf dem Zaun sitzen und ein Bierchen trinken, frage ich, ob das ihre Hauptbeschäftigung sei. „Wir haben unsere Arbeit gemacht“, sagt der eine. „Was man von Dir nicht sagen kann“, sagt ein anderer. Dabei zeigt er mit dem Finger in eine ganz bestimmte Richtung. Der Mann mit dem Hammer, den man an einen anderen Zaun gebunden hat, bleibt stumm. Sein Werkzeug spricht deutliche Worte.
Erst holt mich Felix ein. Wo hat der Kerl plötzlich die Kraft her? Als mich wenig später auch Renato einholt, muss ich auch den ziehen lassen. Ich bin platt. Jeder Schritt tut mir weh. Nur ganz langsam komme ich vorwärts. Immer wieder bleibe ich stehen.
Wie ist der Mensch gestrickt? Warum habe ich vergessen, dass hier die letzten 3 Kilometer weder ein lockeres Schaulaufen noch ein kraftvolles Spurten sind, sondern eine Schinderei mit 400 Höhenmetern? Plötzlich ist alles wieder da. Mir graust’s. Ich nehme mir vor, es nie wieder zu vergessen. Überhaupt, ich werde nie wieder einen Bergmarathon machen. Ich denke an Berlin, an London und an Rom. Leute, das sind Läufe, ich kann es Euch sagen.
Schafe kommen mir entgegen. Ich darf stehen bleiben. Menschen sehe ich keine. Es ist ja Heuwetter. Sehe ich unten in der Häusermenge das Schwimmbad? Das türkisfarbene Viereck muss es sein. Warum musste ich mit dem Laufen anfangen? Schwimmen ist viel schöner. Mühsam und nach endlos langer Zeit erreiche ich das Wetterkreuz. Die Hälfte der Höhenmeter ist geschafft. Die zweite Hälfte ist nicht ganz so brutal. Bis auf das letzte Stück. Wenn’s hier eng wird, hilft der Helmut, der Clubpräsident persönlich.
Wo zaubert hier in der Wildnis bei gnadenloser Hitze die Bergwacht ein eiskaltes Red Bull her? Ich träume nicht, greife zu, kippe die Brause in mich hinein und spüre, wie sie sich augenblicklich im ganzen Körper verteilt. Ich schwöre Euch, die Leute bezahlen mir keinen Cent für das, was ich Euch jetzt sage. Der Erfinder des Werbeslogans muss im Rausch gewesen sein. Er muss erlebt haben, was er aufgeschrieben hat. Genau wie ich. Ich laufe nicht, ich fliege. Erst Felix bremst mich. Von Krämpfen geplagt, geht er stocksteif dahin. „Versuch locker zu traben, das ist besser.“ Er probiert’s, es geht. Ich laufe weiter.
Den Prachtblick auf die Dolomitenberge nehme ich noch mit, dann kommt mir Christian Jocher entgegen. „Darf ich Dich begleiten?“ Er darf. Den Zieleinlauf hat ein genialer Künstler gestaltet. Wie gemalt liegen der Peitlerkofler und die Geisler Gruppe vor Dir. Du läufst eine Kurve, kommst auf den blauen Teppich, der Fotograf drückt ab und jeder Finisher ist vor dieser einmaligen Kulisse verewigt.
Ich werde gefeiert wie der Sieger. Und wie diesem vor über vier Stunden hält man auch mir gleich das Mikrofon unter die Nase. Wie es gelaufen sei, will man wissen. „Na ja, die Frage ist nicht richtig gestellt. Sie müsste lauten: Wie ist es gegangen. Und darauf würde ich dann sagen: Gut!“
Dieser alte Angeber. Eben noch am Jammern, jetzt schon wieder die große Klappe. Ich garantiere Euch, der vergisst die Schinderei erneut und ist nächstes Jahr wieder am Start.