Wie drückt man aus, dass einem ein Marathon gefallen hat? Man kann sagen: Super, toll, großartig war es. Doch wie beweist man, dass man es auch tatsächlich so meint? Ganz einfach: Man fährt wieder hin. Und so spare ich mir viele Worte und stehe nach 2013 auch 2014 wieder am Start des Dolomiten-Marathon in Brixen.
Binnen fünf Jahren haben es die Veranstalter des Dolomiten-Marathon geschafft, „den“ italienischen Bergmarathon zu etablieren. Ganz so viele Teilnehmer wie bei der Bergklassikern in der Schweiz sind es zwar noch nicht, aber in Brixen ist man auf dem besten Wege dazu, zu den Großen der Zunft in Interlaken, Zermatt oder Davos aufzuschließen. Dass mittlerweile ein Drittel der Marathonis allein aus deutschen Landen anreist, spricht für sich.
Doch was macht den besonderen Reiz gerade dieses Marathons aus? Da ist natürlich zum einen die grandiose Optik, die die wildgezackten Dolomitengipfel entlang des Trails bietet, und die Tatsache, dass man, wie nur bei wenigen Bergmarathons, ein echtes Gipfelfinish erleben darf. Aber es ist auch das ganze Drumherum, etwa die stimmungsvolle Pasta-Party mitten auf Brixens Hauptplatz. Fürstlich versorgt man auf dem Weg ins Ziel. Achtzehn Mal kann man bei Speis und Trank innehalten, um die acht Stunden, die man sich für die Bewältigung der satten 2.340 Höhenmeter bis zum Gipfel Zeit nehmen darf, auszukosten. Und das idyllische Brixen selbst trägt natürlich auch seinen Teil dazu bei, dass sich die Läufer hier besonders wohlfühlen.
Bescherte uns Frau Holle 2013 in Brixen noch ein „Wintermärchen“ statt Gipfelglück, so scheint Zweiterem in diesem Jahre nichts im Weg zu stehen. Die Plose, Brixens Hausberg, ist auch am Gipfel in 2.486 m Höhe schnee- und eisfrei, sodass der Lauf nicht, wie im Vorjahr, bereits an der Bergstation der Plosebahn in Kreuztal enden muss.
Passionierte Langschläfer werden stöhnen: Denn schon für 7:30 Uhr ist am Samstag der Start vor dem Brixener Dom angesetzt. Angesichts des Hitzerisikos Ende Juni nimmt man das aber dann doch gerne in Kauf. Für heute verheißt der Wetterfrosch allerdings keine zusätzlichen Hitzewallungen. Ganz im Gegenteil: Mit dem ersten Morgenlicht öffnet der Himmel seine Schleusen.
Zum Glück hat dann aber doch jemand ein Einsehen und stellt die Himmelsdusche ab, als das Laufvolk dem mittelalterlichen Domplatz entgegen strömt. Buntes Gewusel füllt den Platz, dennoch ist die Atmosphäre überaus relaxt und ruhig, ganz anders als gestern Abend. Da verwandelte geballte Frauen-Power, musikalisch angeheizt durch die „Flying Durchman“, den Platz in eine Stimmungshochburg. Nach kollektivem Warm Up machten sich die über 450 Damen jeden Alters, in diesem Jahr einheitlich limettengrün gewandet und lautstark angefeuert vom Familienanhang und anderen Zaungästen, zum Fun-Jog auf einem 4 km-Zweirundenkurs durch die Altstadt auf. Derselbe Familienanhang sagt sich heute morgen aber wohl: Ohne uns - wir schlafen aus. Oder geht gar selbst auf die Piste. So bleibt die männlich dominierte, berglauf-gestylte Läuferschar zumindest am Start weitgehend unter sich.
Um 7:30 Uhr hat der Morgenspuk auf der Piazza Duomo ein jähes Ende. Keine Minute nach dem Startschuss ist der Platz leergefegt, dafür füllen sich die morgenstillen Gassen der Altstadt mit dem Getrappel der Laufschuhe. Mit einer flachen Sightseeing-Schleife durch das Centro storico werden wir schonend auf Betriebstemperatur gebracht. Vorbei an der fürstbischöflichen Hofburg geht es ein Stück weit hinaus aus dem Zentrum und, nach 2,5 km beim Sportpark Süd auf die Eisack treffend, dessen grünem Ufersaum folgend dorthin zurück. Hinein in die zentrale Altstadt gelangen wir jedoch nicht mehr, denn dort, wo sich in dschungeliges Dickicht eingebettet Rienz und Eisack vereinigen, queren wir den Fluss. Kurz darauf, nach gut 4 km, ist der Stadt- und Talrand erreicht. Und das bedeutet ganz plötzlich: Bäume statt Häuser, Naturweg statt Asphalt, aber vor allem: Steil statt flach.
Aus den Augen, aus dem Sinn. Von Brixen ist nichts mehr zu sehen und in dichten Wald gehüllt dürfen wir uns voll und ganz auf die ersten Steigungen konzentrieren. Nur das Keuchen und Schnaufen und das Scharren der Schuhe stört die Waldesruh. Nun ja, ich will nicht übertreiben. Der lauschige Waldpfad flacht nach kurzer Zeit schon wieder ab und lädt, parallel zum Tal führend, nochmals zum Galopp über Stock und Stein ein. Bei km 6 ist aber dann definitiv Schluss mit easy going. Angesichts der Steigungen entschließt sich die Mehrheit schnell zu kollektivem Kolonnenwandern.
Ruckzuck sammeln wir unsere ersten Höhenmeter und dürfen schon ein Viertelstündlein nach Verlassen Brixens die Belohnung hierfür einheimsen. Aus der Vogelperspektive blicken wir über sattgrüne Wiesen hinein in die Weiten des Eisacktals. Uns zu Füßen liegt Brixen in seiner ganzen Ausdehnung. Jenseits des Tales füllt mehr und mehr die Bergwelt der Sarntaler Alpen den Horizont, zumindest soweit es die noch viel mächtigeren Wolkenberge zulassen. Dass die Wolken nicht nur in der Ferne, sondern ganz nah, quasi hautnah, sind, merken wir sehr schnell. Hat uns im Tal noch kurz die Morgensonne in der Nase gekitzelt, so ist es jetzt der Sprühregen, der auf der Haut prickelt. In immer neuen Schleifen schraubt sich unser Weg den Hang empor, zunächst durch weitgehend offenes Gelände mit Gehöften und Landhotels, dann auf einem Sträßlein durch dichten Wald.
Oberhalb des Dorfes St. Andrä werden wir schon erwartet. An der Talstation der Kabinenbahn zur Plose, 1.067 m üNN und damit schon 500 m oberhalb Brixens liegend, stehen wetterfeste Zuschauer und auf Ablösung harrende Staffelläufer für uns Spalier. 11,5 km liegen hinter uns und nicht nur ich nutze die Gelegenheit zur ersten größeren „Brotzeit“. Mein Menü aus Tee, Obst und Keksen klingt zwar eher nach Krankenbettverpflegung, ist für einen Mountie, dem noch jede Menge Höhenmeter bevorstehen, gerade das Richtige.
Würde man den Wegen unterhalb der Bahn folgen, wären wir nach nur wenigen, allerdings lausig steilen Kilometern bereits am Gipfelziel. Aber würde das Spaß machen? Eher nicht. Und vor allem würden wir die wundervollen Laufpassagen verpassen, deren Erleben eben nur die weiten Umwege des Marathonkurses ermöglichen.
Einen steilen Wiesenhang müssen wir jenseits der Talstation erklimmen. Weiter folgen wir der Skifahrtrasse unterhalb der leise dahin surrenden Kabinenbahn ein Stück. Dann ist über Kilometer der Bergwald unser Begleiter. Zumeist moderat geht es über Forstwege längs des Hanges bergan. Das aber umso beständiger. Einlagen mit Fichtenslalom und Wurzelhüpfen über butterweichen Waldboden lockern das baumlastige Wegstück auf.