Etwa 17,5 km liegen hinter uns, als sich der Wald plötzlich öffnet und sich ein Bild wie das Gemälde eines romantisierenden Landschaftsmalers vor den Augen auftut. Sanft gerundete Almwiesen, darin eingestreut Gehöfte und Scheunen der Bergbauern, beidseits des Tales eingefasst von dunklem Nadelwald, und als Kontrapunkt am Horizont thronend unnahbare schroffe Felswände und -türme. So ist es zumindest normalerweise. Heute allerdings nicht. Denn oberhalb der Baumgrenze haben die Wolken die Bildherrschaft übernommen. Hmmm …..
Wir haben das Aferer Tal südlich der Plose erreicht. Zumeist dem Asphaltband der schmalen Durchgangsstraße folgend, dazwischen aber auch über Trampelpfade mitten durch die Almen durchmessen wir in stetigem leichtem Auf und Ab das Tal. Aus der Erinnerung des letzten Jahres habe ich noch plastisch vor Augen, wie wir dabei dem sich klassisch „dolomitig“ in wilden Zacken gen Himmel streckenden Fels immer näher rücken. Über 3.000 m hoch sind deren höchste Ausläufer, als Geisler-Gruppe in Bergkarten verzeichnet. Meine Hoffnung, dass ein Windstoß zumindest kurz einmal die Wolkenbänke beiseite schiebt und einen Blick auf den Zackenkamm freigibt, erfüllt sich leider nicht.
Nichtsdestotrotz: Die Streckenpassage durch das Tal ist läuferisch wunderbar. Dieser weite Blick durch die pralle Natur, der Duft frisch gemähten Grases, der die Nase umweht, die zahllosen blumengeschmückten Marterl am Wegesrand, die Pracht wilder Blüten, dort, wo die Senner noch nicht am Werk waren. Und: diese unglaubliche Ruhe. Munter wird es nur an einer Stelle, in St. Georg, dem dörflichen Mittelpunkt des Tales. Für den Trubel gleich unterhalb der Dorfkirche sorgen vor allem aber die in den Startlöchern stehenden Staffelläufer.
Zunehmend verengt sich das Tal, füllt der Wald auch den Talboden. Geröllhalden an den Ausläufern des vor uns liegenden Bergstocks demonstrieren, wie heftig Wind und Wetter am Gestein der wild zerklüfteten Gipfelregion nagen. Nur das Ergebnis der Nagerei, das bleibt uns verborgen. Der Straße folgend würden wir irgendwann jenseits der 2000 Meter das Würzjoch (Passo delle Erbe) zu Füßen des Peitlerkofels erreichen. Aber das ist im Streckenprogramm nicht vorgesehen. Das sieht vielmehr vor, dass wir uns ab km 25 an den Bergen auch wieder mehr lauftechnisch erfreuen können. Ein jäher Abzweig führt uns auf einen breiten Naturweg, der in Serpentinen weitere 350 Höhenmeter steil den Hang hinauf führt.
Kurve um Kurve schleichen wir nach oben, zunächst über Schotter, dann über weichen Wald- und Wiesenboden. Der dichte Fichtenwald wird immer lichter und durch buschige Kiefern abgelöst. Ein Dudelsackpfeiferquartett nach 27,5 km auf Höhe der Schatzerhütte (1.984 m üNN) signalisiert uns das - vorläufige - Ende unseres Steigfluges.
Einen Höhenpfad zu belaufen gehört wohl zum Großartigsten, was man als Bergläufer erleben kann. Vorausgesetzt, man hat sich erst einmal in diese Höhen empor gearbeitet. Nirgends ist das Landschaftserlebnis der Bergwelt intensiver und überwältigender als aus dieser Perspektive. Und ebendies steht uns nun bevor.
Zunächst noch recht gemütlich führt der Pfad hoch über dem Aferer Tal über luftige, nur von vereinzelten Latschenkiefern durchsetzte Almmatten. Es gibt nur einen, aber doch nicht unwesentlichen Schönheitsfehler: Das Panorama. Das lässt sich heute schlicht und kurz beschreiben: Es ist weiß. Wohin ich auch blicke - vor und hinter, über und unter mich – ist da nur eine undurchdringliche weiße Wand. Vor allem der von hier so grandiose Blick hinüber zu Geislergruppe und Peitlerkofel, der mich im letzten Jahr begeistert hat, ist einfach weg, irgendwo im Wolken-Nirvana verschwunden.
Der gemütliche Pfad mutiert schon bald zum ausgesetzten Steig. Dicke Wurzeln, Felsen und Stufen, Schlamm und kleine Bäche, dazu jähe Richtungswechsel fordern höchste Konzentration, umso mehr, als der Steig am Steilhang entlang führt. Geländer, Seile und Knüppelsteige sichern die haarigsten Passagen. So ungezähmt wie der Weg wirkt auch die Umgebung. Knorrige Bäume und urwaldartig den Fels überwuchernde Natur rahmen ihn.
Einen ganz besonderen Zauber und Reiz erhält die Szenerie aber auch durch …. die Wolken. Im diffusen Licht der durch die Baumkronen wabernden Nebelschwaden wirkt der Steig geradezu mystisch, verwunschen. Keinerlei Vorstellung hat man, wo man eigentlich ist, denn nach unten wie nach oben verliert sich der Blick im Nichts. Fast erwartet man, dass irgendwo ein Berggeist lauert. Und es gibt tatsächlich welche. Allerdings von der „guten Sorte“. Still und leise haben immer wieder wetterresistente Bergwachtler freundlich lächelnd ein Auge auf uns. Läuferisch gesehen macht dieser Trail vor allem eines: Riesenspaß.
Die nächste Wandlung unserer Parcours steht an: Hinweg ist der Steilhang, weg eigentlich auch alles andere. Bis zum Horizont reicht der blanke Wiesenboden. Allerdings ist dieser Horizont weiterhin äußerst beschränkt. Denn geblieben sind auch die Wolken. Nur schemenhaft sehe ich weiter vor mir andere Läufergestalten dahin wackeln.
Wie aus einem anderen Universum stammend gewinnen über mir das futuristische Rund der Rossalm-Hütte (2.180 m üNN) und davor der große Einlaufbogen für die Bergsprintwertung Konturen. Nach Sprint ist keinem meiner Mitläufer zumute. Aber an der gut ausgestatteten Versorgungsstation mit chilliger Außenmusik macht doch gerne jeder halt. Vor allem der heiße Tee findet reißenden Absatz.