Eben noch auf Asphalt und umgeben von Häusern verschluckt uns ganz plötzlich der Wald. Auf einem blickdichten kühlen Naturweg sammeln wir erste Höhenmeter. Diese Steigungen nehmen die Läufer noch recht locker. Jetzt am Anfang will eben kaum einer zeigen, dass ihm am Berg gleich der Dampf ausgeht. Eine knappe Viertelstunde später treten wir hinaus auf saftig grüne Wiesen und werden von einem herrlichen Panorama überrascht. Hinter und schon tief unter uns blicken wir auf die spielzeugkleinen Häuschen Brixens und jenseits des Tales auf die Ausläufer der Sarntaler Alpen. Weit dahinter am nordwestlichen Horizont türmen sich die schneebedeckten Gipfel der Ötztaler Alpen.
Bei Mellaun/ Meluno, nun schon 862 m üNN, werden wir an einem Bauernhof stilvoll mit Alphornklängen empfangen. Einem sich durch den Wald dahin schlängelnden Bergsträßlein folgen wir weiter bergan. Oberhalb von St. Andrä erreichen wir bei bei km 20 (regulär km 11,5) auf 1.067 m üNN die Talstation der Plose-Kabinenbahn. Im Vergleich zur bisher beschaulichen Ruhe fast schon rummelig ist der Auflauf, der uns erwartet. Gespannt harren die Staffelläufer ihrer Ab- und Erlösung entgegen. Deutlich relaxter geben sich die uns beklatschenden anderen Zuschauer. Kein Wunder: Sie haben alle Zeit der Welt. In zehn Minuten können sie von hier bequem per Gondel den 1.000 Meter höher gelegenen Zieleinlauf erreichen, während wir noch einen - allerdings sehr viel attraktiveren - Umweg von 22 Kilometern nehmen dürfen.
Eine der Hauptverpflegungsstellen ist an der Talstation eingerichtet: Wasser, Iso-Drink, Tee und Cola, dazu Bananen, Äpfel, Riegel, Kekse und Salziges werden geboten, wahrlich reichhaltig ist das Angebot, später wird es auch noch Gels geben. Wie das Zusatz "Haupt-" andeutet, gibt es daneben kleinere Stationen, die sich primär auf Flüssiges beschränken. Insgesamt erwartet die Läufer beim Dolomitenmarathon eine fast schon einmalige Versorgungsdichte. 18 Mal – Start und Ziel nicht mitgerechnet – haben wir entlang der gesamten Strecke ein Alibi, bei Speis und Trank pausierend Kraft zu schöpfen.
Frisch gestärkt verliert der steile Wiesenhang hinter der Talstation gleich seinen Schrecken. Eine Galerie von Kinderzeichnungen entlang des Aufstiegs soll uns motivierend ablenken. Eine nette Idee. Und wieder tauchen wir für ein paar Kilometer ein in dichten Bergwald. Nur ab und an eröffnen Almwiesen einen kurzen Ausblick in die Ferne. Bis auf wenige Kurven führt der Forstweg am Berghang entlang immer geradeaus und vor allem fast permanent leicht bergauf. Auf den langgezogenen Steigungen können wir unsere Berglauftauglichkeit unter Beweis stellen. Oder auch das Gegenteil.
Richtig Spaß bereitet der Abschnitt ab km 24,5. Wir folgen einem gewundenen wurzeligen Trail und umkurven wie Slalomstangen die schlanken Fichtenstämme. Der weiche, dichte Nadelbelag lässt uns wie auf Kissen laufen. Im lustvollen Schweinsgalopp brettere nicht nur ich über das Wurzelwerk, wobei die Lauffreude auch dadurch erhöht wird, dass es nun endlich einmal für ein längeres Wegstück bergab geht.
Etwa bei km 26 treten wir aus dem Wald heraus. Vor uns eröffnet sich der Blick in ein langgezogenes Tal. Wir haben das Aferer Tal erreicht. Und was ich sehe, lässt mein Herz höher schlagen.
Sanft geschwungene Almen senken sich auf der einen, der unserigen Seite, düsterer dichter Nadelwald auf der anderen Seite in den Talgrund hinab. Vereinzelte Gehöfte und Scheunen, mal Schafe, mal Kühe ergänzen das Naturidyll. Und über allem thronen wilde Felszacken am Horizont. Zumeist dem schmalen Durchgangssträßlein folgend tauchen wir in stetigem Rauf und Runter in das Tal ein. Immer wieder werden wir kurzzeitig auf kleine Nebenwege oder Naturpfade abgeleitet. Da, wo das hohe Gras frisch gemäht war, umweht wohlig-würziger Heuduft unsere Nase. Wo die Senner noch nicht am Werk waren, empfängt uns ein gelb-weiß-roter Blumenteppich.
Es ist der sich bis auf 3.025 m auftürmende Zackenkamm der Geisler-Gruppe, der stets von Neuem unseren Blick gefangen nimmt. Langsam kommen wir ihm durch das sich verengende Tal näher, offenbaren sich mehr und mehr Details. Weite Geröllhalden am Fuße der senkrechten Felswände zeugen davon, wie stark die Erosion dem Gestein zusetzt. Andererseits ist es gerade diese Erosion, die diese bizarren Felskunstwerke erst formt. Ein Stück weiter rückt auch die markante Doppelspitze des 2.875 m hohen Peitlerkofels in unser Blickfeld. Dessen Konturen zieren übrigens das Logo des Marathons.
Einen lebhaften Akzent im stillen Tal setzt das Dörflein St. Georg / San Giorgio (1.504 m üNN), das wir nach knapp 27 km passieren. Unterhalb der Dorfkirche erwartet uns nicht nur ein gut ausgestatteter Verpflegungsposten, sondern auch der dritte und letzte Staffelwechsel. Wer Staffel läuft und wer nicht, fällt beim gemütlichen Traben durch das Tal sofort auf. Man hört es schon am flotten Trappeln, das sich von hinten nähert und dann gnadenlos an einem vorbei zieht.
Jedes Tal hat ein Ende. Und für uns endet das Aferer Tals bei km 33,5 (regulär: km 25). Hier verlassen wir die Passstraße und zweigen auf einen Forstweg ab. Harte Laufarbeit bergan ist angesagt. In zahllosen Kurven und Serpentinen sind 350 Höhenmeter am Stück zu erobern. Ab und an gibt der Waldweg, quasi als „Zuckerl“, einen Postkartenblick auf die Felsentürme des Geisler-Kamms frei. Ansonsten sind wir im einsamen Wald ganz mit uns selbst beschäftigt. Keiner der wenigen marschierenden Läufer um mich herum gibt einen Laut von sich, sei es, weil sie das Bergidyll still genießen (optimistisch betrachtet) oder schon ziemlich außer Puste sind (realistisch eingeschätzt).
Ein kühler Wind und ein sich öffnendes, flacher werdendes Gelände lassen uns aufatmen. Auf Höhe der Schatzerhütte (1.982 m üNN) erreichen wir das Ende dieser kraftraubenden Passage.