Wie hoch stehen die Chancen, bei den jährlich steigenden Interessenten aus der Lostrommel gezogen zu werden? Mickrig. Zulosung eines Startplatzes für 2016? Lachhafte vierzig Prozent. Tendenz fallend. Gerade erfahre ich per Mail, das ich in diesem Jahr dabei bin. Freudensprünge, Löwengebrüll, Hysterie.
Kurze Zeit später keimt neben der Vorfreude auch die Ehrfurcht. Es ist doch bloß ein weiterer Ultra wie jeder andere. Es sind doch bloß achtzig Kilometer und gut zweitausend Höhenmeter. Es geht doch bloß von Göttingen bis auf den Brocken-Gipfel im Oberharz. Denkste! Wir reden hier vom härtesten Ultramarathon in Norddeutschland. Wir reden hier davon, wie einst Günter Kromer jene legendären drei Adjektive aus der Taufe gehoben hatte, welche fortan die Starternummern zieren. Die Rede ist von der Brocken-Challenge. Lest weiter, denn es wird wieder einmal kalt – hart - schön!
Vor vier Jahren wollte ich als Greenhorn meinen ersten Ultra laufen, es musste einer in meiner Nähe sein. Bis heute bin ich überglücklich darüber, dass ich die BC im Jahre 2012 - welche dem obigen Motto bislang am nächsten kam und somit Geschichte geschrieben hatte – hautnah erleben durfte. Die neunte Veranstaltung bewies damals auf sehr brutale Art und Weise, dass das Motto „kalt, hart, schön“ kein Fake ist: Temperaturen ganztägig im zweistelligen Minusbereich (auch im Schatten), durchgefrorene Trinkflaschen, durchgängig schneebedeckte und teilweise gar beachvolleyballartige Strecke, Brockenblick bei eisig-blauem Himmel. Auf wundersame Weise hatte sich bei den damaligen, exorbitanten Witterungsverhältnissen niemand großartig verlaufen. Fast alle waren gesund und munter oben angekommen. Die Johanniter sollen sich gar gelangweilt haben. In den Folgejahren erhielt die BC weitere Kosenamen von der Orga: Die Zehnte, die Superlative, die Traumhafte. Und in diesem Jahr wird das dreizehnte Kapitel aufgeschlagen.
Was erwartet die Teilnehmer wohl 2016? Auf die sich ständig verändernden Wetterprognosen in den letzten Tagen konnte man getrost verzichten. Regenjäckchen oder doch lieber Mords-Parka? Einig sind sich aber alle: spätestens beim Vorabend-Briefing wird die Katze aus dem Sack gelassen. Und so stehe ich zum vierten Mal vor dem Institut für Sportwissenschaften der Uni Göttingen und betrete die heiligen Hallen.
Ich peile den hinteren Treppenaufgang der Eingangshalle an und bleibe prompt am Souvenir-Tischchen stehen. Der BC-Fanshop bietet zum reduzierten Preis T-Shirts, Becher für Unterwegs, Kaffeetassen und Kalender. Alle Einnahmen 100% Spenden – das gefällt. An den provisorisch aufgebauten Empfangs-Tischen hole ich meine Unterlagen ab und prüfe meine Rufnummer auf der Handy-Check-Liste. Die ersten Teilnehmer umarmen und küssen sich, es herrscht eine familiäre, lockere Stimmung. Herzlich begrüße ich viele bekannte Gesichter des ASFM-Teams sowie LäuferInnen. „Na, Mario, wie geht’s“, begrüßt mich Markus Ohlef schulterklopfend. „Aufgeregt, wie jedes Mal“, antworte ich ehrlich. „Geht uns allen so. Wir sehen uns!“, grinst er lachend und nimmt den nächsten Treppenaufgang Richtung Hörsaal.
Gute Idee, da muss Ich ebenfalls hin. Aber vorher muss ich noch die in einem Kleiderbeutel vorgepackten Wechselklamotten für den Brockengipfel in einem speziell für jeden Teilnehmer vorbereiteten und nummerierten Plastikbeutel umfüllen.
Der Saal füllt sich zusehends, die Teilnehmer fiebern der Eröffnungsrede entgegen. Wie immer wandert mein Blick durch den Raum, die meisten Gesichter sind mir jedoch unbekannt. Später erfahre ich, dass von den 177 Startern gut die Hälfte aus BC-NovizInnen besteht.
Plötzlich wird abgedunkelt, ständig wechselnde Farbtöne wabern über die Wand des Podiums. Zwei schemenhafte Gestalten spielen Ambient-Sounds im Duett: Markus am Digeridoo, ein Kumpel begleitet auf der Gitarre. Historische Bilder vergangener Läufe werden dabei an die Wand des Hörsaals projiziert und runden die geheimnisvolle Szenerie ab. Die audiovisuelle Untermalung hat Tradition. Anschließend folgt die obligatorische Eröffnungsrede, in denen alle Teilnehmer begrüßt werden, Markus schöne Anekdoten vergangener Challenges zum Besten gibt und das Orgateam sowie die diesjährigen Spendenempfänger vorgestellt werden. Außerdem werden mehrere Läufer für die zehnte Teilnahme der BC mit einer besonderen Urkunde geehrt. Applaus, Beifall, Jubel!
Um die alljährliche Tradition fortzusetzen, räumt Markus Ohlef einmal mehr das Podium. Jeder, der schon mindestens einmal eine BC gefinisht hat, weiß, dass Andreas Schulze nun seine ganz ureigene und schwarz-humorige Routenplanung vom Stapel lässt. Zwischen ausführlichen Erläuterungen einzelner Streckenabschnitte, VP’s und Verhaltensregeln werden auch immer mal wieder bitterböse Anekdoten eingeschoben, die für kurze Lacher sorgen. Bestes Beispiel hier wohl der Inbegriff für Extrakilometer, die Spanische Runde: Oval-Förmiger Teil eines Streckenabschnittes zwischen Königskrug (68,5 km) und Oderbrück (72,4 km). Im Nationalpark Harz folgen die Teilnehmer nur noch offiziellen Wanderschildern. „Wer an besagter Stelle falsch abbiegt, wundert sich, warum Ihm die Teilnehmer irgendwann entgegen laufen. Oder aber man verpasst die Ausfahrt Richtung Oderbrück und dreht eine Extrarunde“, kommentiert „Aschu“ den Abschnitt trocken.
Nach dem Briefing jedenfalls ergibt sich für mich erneut eine Mitfahrgelegenheit zum Übernachtungsort.
Gute zwölf Autominuten von der Uni entfernt liegt der Göttinger Wald, in unmittelbarer Nähe zum Startpunkt. Das Auto proppenvoll, der Fahrer Samuel Lenk aus Nürnberg hochmotiviert. Samuel parkt beim Hainholzhof unmittelbar vorm Reiterhof, da er wie die meisten seiner Mitfahrer auch dort übernachtet. Ich mache hier ein paar Fotos, verabschiede mich vorerst von dem Trupp und schlendere dann runter zum gemütlich-rustikalen Jägerhaus. Alles holzvertäfelt, ländlich-bäuerliche Atmosphäre. Im beheizten Keller werden für die Teilnehmer Übernachtungsmöglichkeiten geboten.
Schnell wird klar: Ohne Isomatte und Schlafsack wäre es auf dem gefliesten Boden eine kalte und harte Angelegenheit…keinesfalls ein schöner Gedanke. Ich werfe meinen Krempel zunächst auf dem Boden, um mir bei der Pasta-Party im Gasthaus ein paar Teller Nudeln rein zu schaufeln. Dort treffe Ich auch wieder auf Samuel, der sich gerade angeregt mit Joshua Hillebrand unterhält. Ich verabschiede mich nach einer Weile von den beiden, schicke meiner Frau eine letzte SMS und lege mich schlafen. Vollkommene Stille. Nun ja: Ich hatte mir wohlweislich Ohropax ins Ohr gequetscht. Nichts ist schlimmer als Gruppengeschnarche aus jeder Ecke. Gerade, als ich glaube, eingeschlafen zu sein, werde ich vom Gewusel und Geraschel wieder geweckt. Ich schaue auf die Uhr: fünf Stunden Schlaf? Das ging ja schnell!
Und wieder geht es los, diese anfängliche Anspannung, Aufregung, Nervosität. Wiederholt checke ich die Ausrüstung. Draußen soll ich einen Ulf ansprechen, der für den Gepäcktransport zum Brocken zuständig ist. Schnell werfe ich Isomatte und Schlafsack in den Transporter und bedanke mich. Anreisende per Zug werden sehr froh darüber sein, dass eine letzte Möglichkeit geboten wird, auf diesem Weg seinen Krempel loszuwerden. Ich schieße ganz gemütlich meine Fotos.
„Schreib Dich doch bitte noch fix in die Starterliste“, ruft mir am Eingang die nette Empfangsdame zu. Das Frühstücksbuffet im alten Tanzsaal ist wieder exorbitant, hier wird mehr Essen geboten, als auf jeder Haushaltsmesse. Ich trinke tiefenentspannt Kaffee und schaue dem heiteren Läufertrubel beim Essen, Trinken und Quatschen zu. Markus Ohlef bittet die Teilnehmer kurz um Gehör, ehrt eine Dame mit Blumenstrauß. Anschließend folgen Geburtstagsständchen für Tanja Niedick und Anke Warlich.
Markus entlässt die Teilnehmer mit den berühmten Worten „Brocken Challenge 2016, here we go!“, dann geht es auch schon los! Der erste VP befindet sich gut 11 km vom Start entfernt in Landolfshausen. Mit Musik auf den Ohren mache ich mich auf dem Weg. Gespenstische Szenerie: Unzählige Stirnlampen tanzen durch den Göttinger Wald Richtung Osten, vorbei an Fackeln am Wegesrand. Weiter geht’s durch das Tal Richtung Landolfshausen, die ersten Kilometer sind bereits gelaufen.
„Da kommt die 44…korrigiere: 144!“. Die Leckereien des Hospiz-Pflegeteams am ersten VP sind vielfältig, ich verspüre jedoch keinen Hunger, trinke mehrere Becher heißen Kräutertee. Direkt hinterm VP wartet ein kurzer, knackiger Anstieg. Schon folgt das erste Highlight bei Tagesanbruch: die Gaststätte zur Seulinger Warte. Normalerweise könnte man hier bei einem Bierchen eine kleine Pause einlegen und das Wahnsinns-Panorama genießen...aber vermutlich wird das Personal noch ratzen.
Im entspannten Dauerlauf geht es über die offene Feldmark am Südufer des Seeburger Sees entlang nach Bernshausen. Hier bieten sich schöne Ausblicke über die Landschaft, hinüber zum Harz oder den Göttinger Bergen. Traumhaft der Sonnenaufgang! Nach einer Halbmarathondistanz ist unweit der Kläranlage auch schon Rollshausen erreicht. Wiederum habe ich keinen Appetit und trinke nur Tee. Im lockeren Tempo laufe ich zunächst weiter durch Rollshausen, danach wird eine Bundesstraße überquert. Vor vier Jahren gab es direkt vorm Hellberg einen inoffiziellen Bonus-VP. Zwei Wahnsinns-Typen hatten einen Aufklapptisch hingestellt, der irren Kälte getrotzt und bis zum allerletzten Tropfen heißen Tee angeboten. Einmalige Aktion!
Was jetzt kommt, ist die erste Trail-Passage hinauf zur Tilly-Eiche. Bei dem teilweisen matschigen Untergrund müssen die Begleit-Radler auch mal schieben. Oben angekommen, freue ich mich bereits über den anstehenden Crosslauf und will die andere Seite im Galopp wieder runter rennen. Pustekuchen: anstelle einer schnellen Talfahrt muss ich höllisch aufpassen, nicht hinunterzurutschen!
In Rüdershausen wird es erstmals tricky. Wer den Stichweg zu seiner Rechten verpasst und nicht steil bergan zur Kapelle unterwegs ist, macht Bekanntschaft mit der Rhume…jedoch in entgegen gesetzter Richtung. Oben angekommen, werde ich mit einem wundervollen Panoramablick belohnt. Diese Fernsicht...atemberaubend! Kurz vor Ortseingang Rhumspringe kündigt ein auf dem Radweg geklebter, jedoch seit 1992 hoffnungslos veralteter Normalnull-Anzeiger, dass mit 153 Metern der Tiefpunkt (der Strecke) erreicht sei. Soso. Wenig später erreiche ich die große Karstquelle und habe bereits dreißig Kilometer zurückgelegt.
Erstaunlich, dass die Wassertemperatur ganzjährig acht bis neun Grad betragen und der Quellsee selbst im Winter nie einfrieren soll. Erneut Leckereien ohne Ende, erneut verspüre ich kein Hungergefühl. Ich zwinge mir letztlich Cola-Gel mit mehreren Bechern Kräutertee aus dem ASFM-Kanister rein und nehme mir fest vor, spätestens in Barbis auch mal was festeres zu futtern.