Wohl kaum eine andere Laufveranstaltung in unseren Breiten ist so unberechenbar wie der winterliche Lauf von Göttingen auf den Brocken. Ich durfte schon fast die gesamten 80 km über mit brutal tiefem Schnee und spiegelglattem Eis kämpfen und bin auch einmal die ersten 50 km auf schneefreiem Boden gelaufen. Von fast schon frühlingshafter Temperatur bis zu Orkan mit gefühlten minus 15 Grad am Gipfel habe ich hier fast alles erlebt.
Es kann auch irgendwann mal vorkommen, dass wegen Sturmschäden und zu viel Schnee ein Teil der Strecke gesperrt ist und wir uns wie 2010 auf einer kurzfristig improvisierten Strecke voran mühen dürfen. Und darüber, ob der Bustransfer von Schierke zurück nach Göttingen wieder wegen zu starkem Schneefall abgesagt werden muss bzw. wann und wie die Busse fahren, wagt nach langjähriger Erfahrung auch niemand mehr eine feste Prognose. Die Brocken-Challenge ist längst Kult, und auch wenn es dieses Mal für mich nicht wunschgemäß lief, bin ich froh, wieder an diesem Abenteuer teilgenommen zu haben.
80 km mit etwa 1900 Höhenmeter Aufstieg und 1100 Hm Abstieg führen auf den kältesten, windigsten und schneereichsten Berg Norddeutschlands. Doch die BC ist nicht nur ein ungewöhnlicher und harter Wettkampf, sondern auch eine Benefiz-Veranstaltung. Die Teilnehmerbeiträge werden vom speziell für die BC gegründeten Verein ASFM e.V. (Ausdauer-Sport für Menschlichkeit e.V., Göttingen) zu 100 % an gemeinnützige Zwecke gespendet. Bei den bisherigen 14 Ausgaben kamen insgesamt 200.000 Euro zusammen.
Auch nach inzwischen fast 100 Marathons und Ultratrails ist die Brocken-Challenge für mich etwas ganz Besonderes, wichtiger als Weihnachten, Silvester, Fasching oder Geburtstag. In den Jahren, in denen ich seit meinem ersten BC Finish 2010 nicht gestartet bin, litt ich schon beim Lesen der ersten Infos auf Facebook unter Entzugserscheinungen und blickte am Veranstaltungstag dann immer voll Sehnsucht zuhause auf meinem Bildschirm, der die Bilder der Webcam vom Ziel zeigte.
Zur 15. Ausgabe haben sich 490 Leute beworben, von denen etwa die Hälfte einen Startplatz bekam. Für mehr Teilnehmer ist beim Briefing im Hörsaal, beim Brockenwirt am Ziel und beim Rücktransport kein Platz. Der von mir vor vielen Jahren erfundene BC-Slogan "Kalt – hart - schön" steht noch immer auf den Startnummern.
Das gemeinschaftliche Erlebnis Brocken Challenge beginnt bereits am Freitag ab 16.30 Uhr. Vor dem Hörsaal in der Sport-Uni haben wir Zeit, mit vielen Lauffreunden zu plaudern, bekommen unsere Startunterlagen und laden das Gepäck, das am nächsten Morgen zum Ziel transportiert werden soll, verpackt in 30 l Plastiksäcke in einen LKW. Das Briefing ist ebenso eine liebenswerte und lustige Show, wie spannende Infoveranstaltung.
Los geht es wie gewohnt mit Live-Musik. Markus spielt wieder Didgeridoo, dieses Mal begleiten ihn seine Söhne mit Posaune und Percussion. Dazu sehen wir auf der Leinwand Bilder aus den vergangenen Jahren, garniert mit lustigen Sprüchen. Dann erfahren wir viel über die Route und den dieses Mal recht guten Streckenzustand, über Helfer und über die Spendenempfänger. Anschließend fahren wir hinauf zum oberhalb der Stadt im Wald gelegenen Jägerhaus, wo wir sehr gut mit Pasta und Salat versorgt werden. Nachdem ich schon einmal im Keller des Restaurants und zwei Mal in der Jugendherberge übernachtet habe, schlafe ich dieses Mal im Aufenthaltsraum des Reiterhof, wohl die beste Wahl. Hier kann man auch bis nach dem Lauf sein Gepäck deponieren und bei Bedarf eine zweite Nacht schlafen.
Gut gelaunt gehe ich am Samstagmorgen um 5 Uhr zum Frühstück in den Alten Tanzsaal, der einigermaßen beheizt und auch sehr nett dekoriert ist. Das außerordentlich vielfältige Angebot an Köstlichkeiten für jeden Geschmack und auch mit vielen veganen Produkten lässt wieder keine Wünsche offen. Super!
Pünktlich um 6 Uhr ertönt dann der traditionelle Ruf "Brocken Challenge - Here we go!" Auf den ersten Kilometern versetzen uns brennende Fackeln am Wegrand in eine fast schon andächtige Stimmung. Auch das gehört untrennbar zum BC-Kult.
Zuerst laufen wir leicht ansteigend bergauf. Nur zwischendurch liegen dünne Schneereste auf dem Weg, überhaupt kein Problem. Bald geht es hinab nach Mackenrode. Von Wolken umrahmt steht eine schmale Mondsichel am Himmel. Es ist bereits hell genug, um ohne Stirnlampe zu laufen. An der ersten VP esse ich nur eine Dattel, aber sogar das ist im Moment für meinen Magen zu viel. Schade, denn unterwegs verwöhnen uns sieben große Verpflegungsstellen mit vielen Bioprodukten, Obst, Kuchen, Würstchen, Brühe, Schokolade und auch mit veganen Spezialitäten. Eigentlich kann man die Brocken-Challenge auch als Schlemmer-Ultra bezeichnen.
Die Aussicht von der Seulinger Warte wird heute durch dunstiges Wetter eingeschränkt. Auch den Sonnenaufgang hatte ich hier schon farbenprächtiger erlebt. Dezentes Rosa und Orange, nicht spektakulär, aber dennoch nett.
Bald laufe ich am Ufer des Seeburger See. Dieser ist 85 Hektar groß, aber nur maximal 3,5 Meter tief. Er entstand vor etwa 2500 Jahren durch Einsturz eines unterirdischen Hohlraumes in einem Salzsteinlager. Heute muss aber niemand von uns Angst haben, dass sich der Boden unter unseren Füßen öffnet.
Die erste Streckenhälfte führt durch hügeliges Gelände, oft auf Asphalt- und Betonwegen. Da in meinem Abschnitt des Läuferfeldes die Abstände gerade sehr groß sind laufe ich meist alleine. Endlich kommt ein Streckenabschnitt speziell für meinen Geschmack. Wir steigen auf einem Trail zum Hellberg hinauf. Diesen Abschnitt erlebte ich schon sehr schlammig oder im tiefen Schnee, heute dagegen kann man auf dem gefrorenen Boden recht gut marschieren. Zwischendurch steigen wir über einige Baumstämme. Vor wenigen Wochen hat ein Sturm im Harz ganze Schneisen in die Wälder getrieben.
Als zu viele Bäume vor uns den Weg blockieren, weichen wir auf einen nagelneuen Trampelpfad links unterhalb der Route aus. Bei der Tilly Eiche lagerte im Dreißigjährigen Krieg Feldherr Tilly mit seiner Truppe. Heute ist es mir zu kühl für eine längere Rast. Die legendäre Abzweigung in Rüdershausen, bei der früher manche Läufer gradeaus rannten, wird jetzt sogar durch drei BC-Wegweiser markiert. Da kann nun wirklich nichts mehr schief gehen. Von einer Kapelle oberhalb des Ortes kann man bei gutem Wetter bereits den Brocken sehen, heute ist es viel zu dunstig.
Vor Rhumspringe müssen wir nun ein Stück entlang der Straße laufen. Inzwischen gibt es hier immerhin einen Fahrradweg. Vor Rhumspringe erreiche ich den tiefsten Punkt der Strecke und nähere mich leider auch meinem physischen Tiefpunkt. Noch immer lehnt mein Magen Nahrungsaufnahme ab. Bald nach dem Ort erreichen wir die Rhumequelle, eine der wasserreichsten Karstquellen Europas und die drittgrößte Quelle in Deutschland. Hier versuche ich an der Verpflegungsstelle, doch etwas von dem vielseitigen und leckeren Angebot an Speisen und Getränken zu zu mir zu nehmen. Vergeblich!
Lange Zeit marschiere ich nun durch den Wald aufwärts. Dann geht es leicht hügelig über Feldwege, die man heute eigentlich schnell laufen könnte. Ich erinnere mich noch gut an das Jahr, als ich auch hier durch tiefen Schnee stapfte. Dieses Mal komme ich trotz idealem Untergrund auch nicht schneller voran. Sogar bergab muss ich ab und zu gehen statt laufen. Der Magen meutert.
Als ich die Verpflegungsstelle hinter Barbis erreiche, habe ich genau Marathondistanz geschafft. Noch ist etwa eine halbe Stunde Zeit bis zum Cut Off, ich bin auch nicht der letzte Läufer. Doch nachdem ich zwei Becher Suppe gegessen habe, melde ich mich offiziell aus dem Rennen ab. DNF! Ich könnte es vermutlich noch schaffen, bis zum Zielschluss um 20 Uhr den Brocken zu erreichen, aber das macht unter diesen Umständen weder Spaß noch Sinn. Schade, sehr schade! Ich hatte mich darauf gefreut, wieder den legendären „Entsafter“ hinauf zu wandern, die leckeren, hausgebackenen Kekse an der kleinen Verpflegungsstelle Jagdkopf zu essen und das Abenteuer BC komplett zu genießen.
Als bald darauf der Besenradler die VP erreicht, fahre mit dem Auto eines Helfers weiter, begleitet von zwei anderen Aussteigern. Bill und ich marschieren dann ab der nächsten VP bei der Lausebuche weiter, der andere fährt bis Königskrug und wandert von dort ebenfalls zum Ziel.
Bei VP Lausebuche (km 63) wird über einem offenen Feuer in einem großen Kessel eine leckere Suppe gekocht. Ich verzichte darauf und wandere gleich los. Mir fehlen nun 20 km, aber dafür kann ich nun in aller Ruhe die Winterlandschaft im Harz genießen und begegne vielen Läufern, die uns überholen.
Bis hier wurde die Strecke vom Veranstalter markiert, für die restlichen Kilometer kann man sich nun sehr gut an den offiziellen Wegweisern orientieren. In diesem Jahr können wir die kürzere Variante zwischen Lausebuche und Königskrug nutzen. Der Trail lockert unsere Beine, ist heute aber nicht schwierig. Ich liebe diesen schönen Streckenabschnitt und bin froh, zumindest ab hier wieder die Route erleben zu können.
Zur empfohlenen Ausrüstung bei der BC zählen übrigens auch Spikes, aber in diesem Jahr brauche ich meine YakTrax nicht. Zwischendurch schneit es eine Weile. Sehr schön! Eine Brocken-Challenge ohne Schneefall wäre wie Alpen ohne Aussicht.
Nun folgt unsere Route ab und zu den Langlaufloipen im Nationalpark. Natürlich dürfen wir ausdrücklich nicht die Spur der Loipen beschädigen. Bei der VP Königskrug kann ich endlich wieder normal essen. Danach geht es mir deutlich besser und ich wandere gut gelaunt durch die herrliche Winterlandschaft. Heute sind hier sehr viele Langläufer, Schlittenfahrer und Winterwanderer unterwegs. Es ist wirklich herrlich, diesen Winter-Wunder-Märchen-Wald zu erleben.
Bei VP Oderbrück esse ich noch mehr und marschiere nun in strammem Tempo bergauf, bleibe aber immer wieder stehen, um die vereisten Bäche, den Raureif an den Zweigen und die stark verschneiten Bäume zu fotografieren. Hier oben ist der Harz im Winter ein Paradies. Jetzt bin ich froh über meine ungeplante und bedauerliche Abkürzung. Es wäre schade gewesen, hier oben erste in stockdunkler Nacht an dieser Pracht vorbei zu marschieren. Von Kilometer zu Kilometer fühle ich mich nun besser. Die "furchtbare" Rampe hinauf zur Brockenbahn mit ihren zuletzt bis zu 30 % Steigung kommt mir gar nicht so steil vor.
Obwohl ich nun wegen der Abkürzung früher als in bei meinen ersten drei Teilnahmen entlang der Bahnstrecke marschiere, habe ich wieder Glück und bin genau zum richtigen Zeitpunkt hier oben, um die legendäre Brockenbahn zu erleben. Schon seit 1899 fährt ein Dampfzug hier herauf zum höchsten ohne Zahnräder oder andere Hilfsmittel erreichbaren Bahnhof Deutschlands. Von 1961 bis 1989 war der Brocken aber wegen seiner Lage an der Grenze zwischen BRD und DDR für die Öffentlichkeit gesperrt. Erst seit 1992 fährt die Brockenbahn wieder regelmäßig.
Der Weg neben den Schienen steigt nur leicht an. Inzwischen beträgt die Sichtweite im Nebel nur noch etwa 200 m. Umso wilder wirken jetzt die vereisten Bäume neben der Strecke. Noch immer begegne ich vielen Wanderern. Als ich auf dem letzten Kilometer die Brockenstraße hinauf marschiere, kommen mir schon viele Finisher vom Brockenhaus entgegen. Dann erreiche auch ich den 1142 m hohen Gipfel, erstmals sogar noch beim letzten Rest von Tageslicht. Nach drei Jahren im starken Sturm kommt mir der Wind heute recht harmlos vor, dennoch bewundere ich die Helfer, die hier draußen schon seit Stunden stehen und mit Rasseln und viel Jubel für Stimmung sorgen.
Nun noch die steile Wendeltreppe hinauf, schon kann ich meine Drop Bag mit trockener Kleidung nehmen und Richtung Dusche marschieren. Obwohl ich betone, heute kein Finisher zu sein, wird mir die Medaille umgehängt, lehne die Ehrung genau wie die Urkunde aber ab. Ich werde „meine“ 60 km trotz allem in guter Erinnerung behalten. Ich komme wieder, ganz bestimmt.
Nach der Dusche bediene ich mich im voll mit Läufern und Angehörigen besetzten Goethesaal beim Brockenwirt am üppigen Buffet. Von Bockwurst bis zu Polenta ist für fast jeden Geschmack etwas dabei.
Die Finisherquote ist heute außerordentlich hoch. 171 der 182 Starter erreichen bis 20 Uhr das Ziel. Am schnellsten ist mal wieder Florian Reichert (6:48), schnellste Frau ist Sonka Reimers (8:36).
Bei nahezu jedem anderen Lauf spaziert man vom Ziel zum Auto und fährt schnell nach Hause oder zum Hotel. Doch die BC ist auch hier völlig anders, und auch dies gehört untrennbar zum Kult. Vom Ziel müssen wir nun etwa 500 Höhenmeter zu Fuß nach Schierke hinab wandern. Unterwegs tragen wir nicht nur unseren Laufrucksack, sondern auch unsere Drop Bag. Zur Wahl stehen 10,2 km auf der einfachen, aber monotonen Brockenstraße, oder mit Abkürzung nur 7,1 km ….. oder etwa 12 km, wenn man so doof wie ich ist.
Nach drei Jahren auf der Brockenstraße will ich dieses Mal auch die kürzere Version nehmen, zweige aber wohl zu früh auf einen anderen Weg. Dort folge ich zwar ewig lang Wegweisern in Richtung Schierke, merke aber irgendwann, dass dies nicht die richtige Route ist. Den GPS-Track habe ich nicht dabei, weiß aber, dass die richtige Route unter mir liegen muss. Also steige ich auf einem zugeschneiten Pfad steil bergab, klettere über Baumstämme, krieche flach auf dem Bauch liegend unter einem hindurch und komme bald wieder auf einen Weg. Irgendwann bin ich dann Ortsende von Schierke und erfahre, dass ich nun zwei bis drei Kilometer wieder zurück muss.
Als ich endlich das Café Winkler erreiche, bin ich davon überzeugt, dass der für 20.30 Uhr geplante Bus zurück nach Göttingen längst weg ist. Doch der wartet, bis genügend Läufer angekommen sind, sonst wird der für 22.30 geplante zweite Bus zu voll. Nach verspätetem Aufbruch bleibt der Bus wenige Kilometer später stehen. Kupplungsschaden! Doch zum Glück können wir eine Viertelstunde später mit dem eigentlich für die zweite Läufergruppe bereit stehenden Bus weiter fahren. Bis die letzten Läufer in Schierke ankommen, sollte dort dann ein Ersatzbus aus Göttingen sein
In Göttingen hole ich meinen Schlafsack aus dem Reiterhof und werde dann gemeinsam mit drei anderen Läufern vom Busfahrer noch bis zum Bahnhof gebracht. Um 01.30 Uhr sitze ich im Zug und erreiche kurz nach 5 meine Heimatstadt Karlsruhe.
Brocken-Challenge - ich komme wieder!
17.01.13 | Wohltätigkeitslauf „Brocken-Challenge“ |