Wernigerode ist ein hübsches Städtchen. Schon zu DDR-Zeiten war es der Touristenmagnet im Ost Harz. Familien schätzten sich glücklich, einen der FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund) Plätze für ein oder zwei Wochen in den Ferien zu ergattern. Der Magnet hat heute noch an Anziehungskraft gewonnen. Vor allem wandernden und schauende Touristen aus aller Welt besuchen das schicke Fachwerkstädtchen und belagern Geschäfte, Hotels und Restaurants.
Seit 42 Jahren belagern am zweiten Oktoberwochenende zusätzlich rustikale Harzgebirgsläufer das noble Städtchen. Freitagnachmittag ist im Rathaus, das einem Schlösschen gleichkommt, die Startnummernausgabe samt kleiner Sportmesse. Draußen davor auf dem Markt wird für musikalische Unterhaltung und Verpflegung gesorgt, mehrere Schautafeln erinnern an die teils legendäre Geschichte des Harzgebirgslaufes.
Samstagmorgen wirft die Sonne ihre erste Strahlen sacht über das bunte Laubdach des Harzwaldes. Der sich ankündigende schöne Herbsttag steigert die Vorfreude. Doch vor den Marathonis werden Wanderer und Nordic Walker auf ihre 25 km lange Reise durch den Harz geschickt. Bei der erwärmenden Gymnastik zur vortanzenden Discomusik vor dem Start zeigen sie sich deutlich agiler als später die Marathonläufer. Ein Phänomen, das in der Breite oft zu beobachten ist. Die Walker stretchen und dehnen mehr als die Freizeitläufer. Dabei täten gerade wir besser daran, es ihnen gleich zu tun. Mancher Verletzung könnte so vorgebeugt werden.
Um 9:00 Uhr ist es soweit und an die 800 Harzgebirgsläufer starten zur Königsdisziplin, dem Brockenmarathon. Bei der Teilnehmerzahl ist ein bisschen Luft nach oben, bis auf 1 000 Starter ist der Lauf limitiert. Aber in der Ausschreibung wird deutlich darauf hingewiesen, dass nur sehr gut trainierte Läufer teilnehmen sollten. Uns erwarten nicht nur mehr als 1 000 Höhenmeter, auf dem Brocken ist zudem mit Hochgebirgsklima zu rechnen.
Aber doch wohl nicht heute. In der milden Sonne setzten wir den ersten Anstieg Richtung Harz Wald hinauf. Von Wildschweinen aufgewühlter Boden kann uns jetzt noch nichts anhaben. Hund Ben sprudelt nur so vor Ehrgeiz und zieht ordentlich an der Leine, was es Frauchen Marie-Charlotte nicht gerade leicht macht, ihr Tempo zu finden. Die ersten 10 Kilometer führen auf leicht profilierten Waldwegen durch den bunten Laubwald. Gut gefrühstückt sollte man schon haben, erst bei Kilometer 10 im Ilsetal gibt es den ersten Verpflegungspunkt. Der hat aber gleich vorn den begehrten Haferschleim zu bieten. Weiter gibt es Malzbier, Banane, Apfel und Schokokekse.
Über die Versorgung braucht sich der Harzgebirgsläufer keine Sorgen zu machen. Von nun an gibt es beim Brockenmarathon gesamt 10 Verpflegungsstellen, die auch mit Wasser, Iso und Tee, mit Butter- und Schmalzbroten samt Salz aufwarten. Selbstverständlich wird auch der Schleim an den folgenden Stellen von führsorglichen Helfern angeboten.
Wir laufen jetzt aus dem Ilsetal rein in den Berg. Ein gutes Stück des Anstiegs rauscht die Ilse als Gebirgsbach uns entgegen ins Tal. Der dicht belaubte Wald spendet Schatten, was bei unserer schweißtreibenden Tätigkeit von Vorteil ist. Dann lichtet sich der Wald und wir laufen bei Kilometer 13 einen guten Kilometer relativ eben auf über 400 Metern überm Meeresspiegel. Die Stimmung im Feld lockert nach dem ersten Anstieg auf.
Der Gebirgsläufer trifft auf bekannte Gesichter. Da ist Ingrid aus Premnitz bei Berlin, die sich heute vom Brockenmarathon verabschiedet. Sie ist ein frohmutiges Läuferinnenurgestein und wird heute ihre Altersklasse W 75 gewinnen. Auch der 1938 geborene Herbert Pohl wird als ältester Teilnehmer das Ziel erreichen und erster in der M 80.
Die Strecke steigt wieder empfindlich an und in der Mitte des Feldes verfallen viele Läufer in den Wanderschritt. Bald sind wir auf 600 Metern Höhe, aber der Wald ist hier aus argem Grunde licht. Der steinige Weg führt uns mitten durch einen Totholzwald. Leider sind zunehmet mehr Gebiete des Oberharzes vom Waldsterben befallen. Nicht erst seit jüngerer Zeit setzt der Borkenkäfer dem Wald zu.
Ein wenig Hoffnung macht an dieser Stelle, dass zwischen dem Totholz Laub- und Tannenbäume austreiben. Der veranstaltende Harzgebirgslauf 1978 e.V. hat eine Initiative gestartet, um dem Waldsterben zu begegnen. In den nächsten drei Jahren wollen die Harzgebirgsläufer 10 000 Laubbäume pflanzen. Die ersten 1 000 Pflanzen wurden jüngst von 40 Vereinsmitgliedern bei Ilsenburg in den Boden gebracht. Finanziert wird die Aktion vor allem aus Spenden. Die Teilnehmer beim Harzgebirgslauf sind aufgerufen, die Aktion mit einem Euro ihres Startgeldes zu unterstützen.
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Wir kommen an die Wegmarkierung Stempelsbuche und fragen uns, ob die lebendige Buche dem Ort hier künftig wieder ihren namensgebenden Stempel aufdrücken kann? Hier, am zweiten Verpflegungspunkt bei Kilometer 15, werden die ersten Westen an die Aktiven ausgegeben. Aber wozu soll man sich an einem so milden Herbsttag mit nur wenig Wind so ein Plastikleibchen überstreifen? Zudem geht es weiter schweißtreibend hoch durch Tannennadelholz dominierten Wald.
Wir klettern weiter und erreichen beim Kleinen Brocken den Betonplattenweg, auf dem wir die letzten drei Kilometer auf den Brocken hinauflaufen sollen. Doch schon hier, in der Mitte des Läuferfeldes, läuft kaum einer mehr. Fast alle wandern die feuchte, rutschige und steile Piste hinauf. Die Stimmung ist dennoch gut, denn die letzten Meter auf den Brocken sind schließlich das Highlight beim Brockenmarathon.
Es wird zwar zunehmend kälter, aber wir haben gute Sicht in die Täler zu Füßen des Brockens. Noch einmal gibt es Gelegenheit, an der Verpflegungsstelle Knochenbrecherkurve die Plastikfolie überzustreifen. Aber nein, sagen sich viele, wozu soll ich die Umwelt unnötig mit Plastikmüll belasten.
Wir haben die 1 000 Höhenmetermarkierung erreicht und tauchen in den Nebel ein. Zugleich setzt uns orkanartiger Wind heftig zu. Die vielleicht knapp 10 Grad Celsius hier oben fühlen sich wie Null Grad an. Jetzt rächt es sich für all die bitter, die keine Weste genommen haben. Laut Klimatabelle in der Ausschreibung, war es beim Harzgebirgslauf auf dem Brocken im Jahr 2002 am kältesten. Die minus drei Grad Celsius machte Windstärke sieben zu gefühlten minus 22 Grad!
Durch den Nebel tönt das Pfeifsignal der Dampflok von der Harzer Schmalspurbahn. Zu sehen ist der Zug nicht. Wir sind zu langsam, um sie bei knapp 100 Meter Sichtweite auszumachen. Vielleicht unser Glück, denn wir hätten am Bahnübergang warten und noch mehr frieren müssen. Durch den Nebel stapft auch der König (alias Thorsten aus Hamburg vom 100 Marathonclub) mit Krone, Zepter und rotem Umhang in mystischer Magie den Brocken hinauf. Sein Umhang ist ihm hier von Vorteil, seine beiden Knappen jedoch müssen kostüm- und westenlos frieren. Das hält sie jedoch nicht davon ab, die Brockenbezwingung am 1142 Meter hohen Stein wie einen Sieg zu feiern.
Mit recht können wir hier alle feiern. Dennoch ist der Sieg hier oben nur ein halber. Es ist ja noch nicht einmal die Halbmarathonmarke passiert. Es läuft jetzt bergab und wir sehen zu, dem Nebel und der Kälte zu entrinnen. Wir verlassen die asphaltierte Straße, die uns auf der weniger steilen Seite vom Brocken herunterführt und tauchen wieder in den Oberharzwald ein. Auch hier dominiert zunächst Totholz.
Je tiefer wir gelangen, desto gesünder wird der Wald und desto wärmer wird es. Das tut zunächst gut. Wir finden zu nettem Plausch. Da ist Silke aus den Raum Bremen, auf deren Startnummer der Name Robert steht. Wie geht das denn an? Silke kam gestern zu spät zur Anmeldung (bis 21:00 Uhr), konnte sich aber heute Morgen über die Ummeldung den Startplatz eines verhinderten Läufers sichern.
Der Abstieg nach Wernigerode ist kein reiner Abstieg. An die sechsmal geht es zwischendurch empfindlich berghoch. Und auch das Bergablaufen ist nicht ohne. Matschige Passagen und vor allem loses Karstgestein auf den Wegen verlangen Trittsicherheit und Konzentration. Hernach werden so manche von uns nicht nur Oberschenkel und Knie, sondern auch die Fußsohlen brennen.
Als der Laubwald sich an Hangwegen lichtet, tun sich zu unseren Füßen Ausblicke auf Wernigerode auf. Das Ziel rückt näher. Wenn die seichte Wiese überquert ist, noch einen Kilometer. Im Abwärtssog spurten wir wie die Helden ins Ziel und bekommen von uns nett empfangenden Damen die Medaille um den Hals gehängt. Norddeutschlands schwerster Marathon ist geschafft. Die von der Anstrengung gespannten Gesichter lösen sich schnell. Beim Bier und bei der Erbsensuppe gratis erhellen sich unsere Gemüter weiter.
Schön, dass die elektronische Zeiterfassung einen Urkundensofortausdruck ermöglich. Wer will, kann sich kostengünstig massieren lassen. Zur tollen Organisatin tragen auch die Streckensicherungen und der medizinische Dienst bei. Auf den sechs angebotenen Strecken sind 13 medizinische Dienste ausgewiesen. Da halten sich die Startgebühren im Vergleich mit anderen Bergläufen moderat im unteren Durchschnitt.
Den Brockenmarathon gibt es seit 1990, denn vorher machte das geteilte Deutschland das Belaufen des Brockens unmöglich. Heute wählen nicht nur Läufer aus ganz Deutschland den Brockenmarathon zu ihrem Berglauf im Herbst aus. Dänen, Amerikaner und Griechen machen ihn in diesem Jahr international.
Als Besonderheit gibt es neben der Gesamt- und Altersklassenwertung auch eine Teamwertung. Dabei werden die Zeiten von drei Läufern eines Teams zusammenaddiert. Weiter bildet der Harzgebirgslauf den Schlusspunkt der Laufserie Norddeutsche Erlebnisläufe, zu denen noch der Celler Wasa Lauf und der Schweriner Fünf Seen Lauf gehören.
Und wer will, kann am Sonntagmorgen nach dem Harzgebirgslauf um 10:00 Uhr am Frühstückslauf teilnehmen, welcher vom Wernigeroder Rathaus zum Schloss hochführt. Wir ziehen es vor zu wandern, zum Schloss hoch und durchs darunter gelegene Christianental.