Der Harz grüßt uns bei der Anreise mit in den Wolken hängendem Brocken. Da wir aber wissen, wo er ist, grüßen wir salopp hinüber: „Morgen, mein Lieber, besuchen wir dich.“
Wernigerode empfängt uns mit dem für Sachsen/Anhalt berühmten Baumkuchen. Unser Auto lenkt wie von selbst auf den Parkplatz und wir lassen uns den Imbiss schmecken.
Dann in die Stadt und ein nettes Quartier genommen. Ein gut ausgebautes Busnetzwerk sorgt für umfassende Verbindung in Wernigerode und deren Vororte, die auch fast alle mit –rode enden. Zu Fuß wären wir zehn Minuten ins Zentrum gegangen. „Aber warum laufen, wenn der Bus fährt“, sagt der nette Fahrer. So fahren wir 20 Minuten und lernen die sanierten Plattensiedlungen, das Luftfahrtmuseum, die Brauerei und einen Autozulieferer auf unserer Stadtrundfahrt kennen.
Dann nur ein paar Meter schlendern bis zum altehrwürdigen Rathaus, wo sich die Startnummernausgabe befindet. Knarrende Stufen aus Holz vermitteln ein andächtiges Gefühl. Und dann die Gemeinschaft der Läufer, dreitausend reisen extra in den Harz, ob den ganzen oder den halben Marathon, ob 11, 5 oder 2 km Kinderlauf, oder auch Wandern – wir wollen den herbstlichen Harz erleben.
Auf der Sportmesse das ein oder andere Souvenir erstehen, dann ein Glas Honig und ein typisches Roggenmischbrot nach altostdeutschem Rezept zum Frühstück. Dann durch die Fachwerkstadt schlendern, auf einen Kaffee oder ein Bier. Zuletzt wieder beim Rathaus die Nudelparty satt mit Bärlauch-Soße: „Für den Rückenwind.“
Ein milder Herbstmorgen und wir pilgern nach Himmelpforte beim Ort Hasserode. In Grüppchen steht die Familie zusammen. Sie trifft und freut sich aufeinander, wieder. Die Kleiderbeutel sind rasch abgegeben, ein Espresso für den Kick und der Pilgerstrom fließt auf die feuchte Wiese vor das große Start-Tor. Warmmachen nach elektronischer Tanzmusik, kurze Ansprachen, ein Jäger bläst ins Horn, dann beginnt die Brockenreise.
Sanft steigen wir ein in den Harz. Das Feld zieht sich rasch auseinander, die schnellen mit Reisefieber voran, die langsameren gelassen hinterdrein. Der erste Reiseabschnitt ist ein angenehmes Einlaufen durch dichten Mischwald. Der Boden ist weich und nur manchmal vom Herbstregen aufgeweicht.
Bei km 9 erreichen wir Ilsenburg und der zweite Teil der Brockenreise beginnt. Die Ilse begrüßt uns mit rauschendem Wassergefälle. Sie nimmt uns nach dem ersten Verpflegungspunkt auf in ihrem Tal.
Das Ilsental empfängt uns mit einem Schwall herbstlicher Kühle. Doch das ist bald vergessen, denn dem Wasserlauf entgegen fließt sogleich der Schweiß. Der Anstieg der Brockenreise hat begonnen, welcher sich in vier Abschnitte unterteilt:
Zunächst vier km moderate Steigung durch das herrlich bewaldete und rauschende Ilsental. Dann zwei beinahe flach erscheinende km zum Verschnaufen durch lichten Wald. Den dritten Abschnitt leitet eine urige Baumschonung mit glatten Stämmen ein. Sie führt zwei lang erscheinende km auf steinig brüchigem Trail knackig bergan und geht in eine hochgebirgige Tannenschonung über. Hier erreichen wir den Betonplattenweg und der letzte Abschnitt des Anstiegs beginnt. Er ist drei km lang und für die meisten normal Trainierten nicht mehr zu laufen.
Diesige Wolken hüllen uns und den Gipfel ein. Er ist noch nicht zu sehen, denn die Sichtweite beträgt ca. 200 Meter. Im mühsamen Wanderschritt gehen wir gegen den Berg an. Zeit für Smalltalk, Wiedersehen und Kennenlernen gar. Das hier schweißt zusammen: Der Berg ist das Ziel!
Reger Gebrauch wird von den Wärmewesten gemacht, welche fleißige Helfer austeilen. Vorn pfeift die Harzbahn mit dampfendem Schnauben über den Weg. Nein, an ein Einsteigen denkt nicht wirklich jemand. Denn jetzt ist der Gipfel mit dem Auge auszumachen. Ja, wir sind da, auf 1142 Meter Höhe. Eine Berührung des Brockensteins muss sein und ein Foto auch. Dann geht die Reise weiter.
Und sie zeigt ein anderes Gesicht. Eine Weile hält das gehobene Gefühl der Brockenbezwingung an. Das war zweifellos der Höhepunkt der Reise. Zwar beruhigt es zu wissen, dass die Reise nun bergab geht. Doch wir haben noch nicht einmal die Halbmarathonmarke erreicht, was nicht gerade beflügelt, zumal der besagte Höhepunkt schon vorüber ist. Das Bergablaufen ist freilich auch nicht ohne, denn es geht ordentlich auf Muskeln und Gelenke. Kurz, im dritten Teil der Reise ist ähnlich wie bei anderen Marathons vor allem der Kopf gefragt.
Schön, dass uns auf der steil abwärts führenden Asphaltstraße ein Stimmungsnest mit Laola-Wellen empfängt. Dann ist die 21 km Marke passiert und die Brockenreise geht wirklich bergab. Bald tauchen wir wieder ein in den herbstlich, moderig duftenden Mischwald. Achtsamkeit ist gefragt, denn die natürlichen Wege halten wieder brüchiges Gestein parat. Und einige plätschernde Bäche und Rinnsale, die die Wege begleiten und queren.
Die ausgezeichneten und zuletzt an Regelmäßigkeit zunehmenden Verpflegungsstellen tragen dazu bei, dass wir durchhalten. Herrlich diese mit Schmalz und Butter bestrichenen und Salz bestreuten Mischbrotscheiben nach altem ostdeutschem DDR-Geschmack. Dazu Zitronen-, Apfel- und Bananenstücke, Kekse und Schokolade, Tee, Wasser, Malzbier und natürlich der jederzeit willkommene Haferschleim!!!
Für die Beine und die Pumpe ist es bei km 32 eine Herausforderung, dass es gerade jetzt, wo es ohnehin wehtut, noch zweimal knackig hinaufgeht. Dann ist es für den Kopf von Vorteil, dass die letzten km abwärts ausgeschildert werden: noch 5 km und nur noch bergab.
Landschaftlich reizvoll an einem lichten Hang-Weg mit Blick auf grünbunten Wald zu laufen. Der Anblick erfreut das Herz, auch wenn das diesige Wetter mit dem permanenten Nieselregen nicht gerade für beste Sichtverhältnisse sorgt. Und dann vorn an der Kante des Waldes werden die äußeren Häuser Wernigerodes sichtbar. Wir tauchen in eine durchweichte Wiese ein und lesen das Schild: Noch 1000 Meter.
Die führen durch dichten Mischwald hinab. Einige Passanten ermuntern uns, dann eine Zuschauerreihe und das Ziel-Tor. Wir fliegen sacht heran und werden vom Sprecher herzlich begrüßt. Mit einer Medaille endet die eigentliche Brockenreise.
Aber noch nicht die ganze. Denn im fröhlichen Plausch genießen wir das Bier aus Hasserode, die Kartoffel- oder die Erbsensuppe und das ein oder andere Stück Kuchen. Wen stört es, dass es regnet, wen stört es, dass die vormals feuchte Wiese ein glitschiger Acker geworden ist. Wir werden noch eine Weile von der Brockenreise, von der perfekten Veranstaltung, vom Treffen mit Freunden getragen.
Und anderntags ein sonniger Herbstmorgen. Da pilgern wir hinauf zum Wernigeroder Schloss, begrüßen die Brockenhexe und haben die perfekte Aussicht auf ihn: „Gestern, mein Brocken, waren wir auf dir. Und ganz sicher kommen wir wieder.“