Das schrieb der berühmte Dichter 1824 auf dem Brocken ins Gipfelbuch. 2006 nichts Neues. Warum auch, an 300 Tagen im Jahr soll das so sein. Mich würde mal interessieren, was angesichts dieser Tatsache Benno Schmidt aus Wernigerode antreibt. Seit 1989 geht der inzwischen 74-jährige Wanderführer fast jeden Tag auf den verschiedensten Wegen auf den 1142 hohen Berg. Nur wegen des Eintrags ins Guiness-Buch?
Da muss noch etwas Anderes sein. Auch Goethe hat viele Touren im Harz unternommen und sie beschrieben. Ihm wird sogar die Winter-Erstbesteigung des Brockens zugeschrieben. In seinem „Faust“ lässt er den Titelhelden durch Mephisto auf den Brocken führen, auf dem sich in der Walpurgisnacht die Hexen zu einem Fest mit dem Teufel treffen.
Vor zwei Jahren war ich das erste Mal in Wernigerode, damals zur Harzquerung. Die Stadt mit ihren unvergleichlich schönen, alten Fachwerkhäusern und dem Rathaus hatte es mir gleich angetan. Und als Schwarzwälder fühle ich mich in den Mittelgebirgen sowieso gleich zu Hause. Nur von weitem hat man bei diesem Lauf einen Blick auf den mächtigen Bergrücken mit dem markanten Turm. Aber ich nahm mir vor, bei nächster Gelegenheit beim Brocken-Marathon dabei zu sein, der den Gipfel des höchsten Harzberges einschließt.
Nach dem Münchner Marathon in der letzten Woche mit der perfekten Infrastruktur des Olympiastadions, den VIP-Lounges und Schwimmen im Olympischen Becken, kann der Gegensatz nicht krasser sein.
Das Start- und Zielgelände ist im Wernigeroder Stadtteil Hasserode (Hasseröder, ihr wisst schon). Obwohl sich das Gelände Himmelpforte nennt, ist es wenig himmlisch. Eine große Wiese mit Versorgungs-, Umkleide- Dusch- und Verkaufsständen empfängt uns. Rechts neben dem Bach Holthemme ist der Startbogen aufgebaut. Wie ein Weichzeichner wirkt der leichte Morgennebel. Die Temperaturen liegen im einstelligen Bereich.
Nein, das ist ganz bestimmt keine Schicki-Micki-Veranstaltung. Und das spricht nicht gegen den Brocken-Marathon, sondern für ihn. Schließlich ist mit dem gleichen Konzept der Rennsteig zum Kultlauf und Vorbild für viele Landschaftsläufe (z.B. Kyffhäuser Bergmarathon) geworden. Landschaftsläufe finden nun mal nicht in den Ballungszentren, sondern eher in der Provinz statt, und das ist gut so.
Seit 29 Jahren gibt es den Harzgebirgslauf. Zu DDR-Zeiten nahmen über 4.000 Aktive daran teil, der Rekord liegt bei 4.755. Nach der Wende, als West-Produkte und –Lebensart favorisiert wurden, gingen die Zahlen in den Keller. In den letzten Jahren stabilisieren sie sich auf wieder deutlich höherem Niveau. Diesmal haben sich insgesamt 3.320 Läuferinnen und Läufer für die 11, 22 und 42 km (bis 1989 waren es 39 km) langen Strecken angemeldet. Dazu kommen noch Wanderer und Walker und Kinder- und Jugendläufe.
Wernigerodes Oberbürgermeister Ludwig Hoffmann gibt den Startschuß ab und schickt das Läuferfeld, darunter auch sein Chef, Landrat Dr. Michael Ermrich, auf die Strecke. Musikalisch wird das Ganze von einem Jagdhornbläser begleitet. Und wie die Hundemeute bei einer Treibjagd rennen die Schnellsten des Feldes auch gleich los, um sich nach der Wiese auf dem Waldweg eine gute Ausgangsposition zu sichern. Dahinter geht es eher gemütlich zu, die meisten sind Stammgäste und sie wissen, dass auf der ersten Streckenhälfte nicht viel mit Tempo zu machen ist. Dabei sind die ersten 10 Kilometer zum Einlaufen genau richtig. Als Euphoriebremse kommt gleich ein leichter Anstieg und dann geht es im ständigen Auf und Ab mit langen flachen Passagen weiter.
Der blinde Dietmar Beiderbeck überholt mich mit seinem Freund. Er ist zum fünften Mal dabei und macht seinen 74. Marathon insgesamt. Trotz seiner Behinderung zieht er solche Landschaftsläufe den für ihn bestimmt angenehmer zu laufenden Straßenläufen vor. Gleich kommt ein etwas schlechter Wegabschnitt, es geht ziemlich steil und steinig abwärts, ich höre noch, wie sein Begleiter ein paar Hinweise gibt und sehe, wie sicher Dietmar dieses Passage nimmt. Ich weiss, dass er schon ganz andere Schwierigkeiten gemeistert hat und erinnere mich an den Swiss Alpine, wo ich ihn auf dem K 78 getroffen habe.
Wir erreichen das alte Nationalpark-Städtchen Ilsenburg und bei km 9 kommt dann die erste Verpflegungsstelle. Der Schleim als Stärkungsmittel ist bei solchen Läufen in den Neuen Bundesländern nicht wegzudenken. Für den „Kenn ich nicht, will ich nicht“-Typen gibt es Wasser, Tee, Malzbier, Iso, Riegel, Bananen, Äpfel und Zitronen, später kommen noch Cola und Brote dazu.
Durch das Ilsetal geht es jetzt leicht bergauf, immer dem Bach entlang, der oben in der Nähe des Brockengipfels seine Quelle hat. "Es ist unbeschreibbar, mit welcher Fröhlichkeit, Naivität und Anmut die Ilse sich hinunterstürzt über die abenteuerlich gebildeten Felsstücke, die sich in ihrem Lauf finden, so daß das Wasser hier wild empor zischt oder schäumend überläuft.“ So schwärmte Heinrich Heine von diesem Fleckchen Erde.
Wir laufen auf dem breiten Forstweg, der jetzt immer steiler wird. Der schmale Wanderweg, den Heinrich Heine gegangen sein muss, verläuft auf der anderen Seite des Baches. Auf ihm sind viele Wanderer unterwegs. Nach einem Kilometer biegen wir rechts ab und folgen einem Weg, der uns laut Hinweisschild nach steilen 5,4 Kilometer zum Brocken führen soll. Prompt erfüllt sich die Ankündigung und der Weg wird steiler.
Richtig zur Sache geht es aber erst einen Kilometer nach der Stempelsbuche (Verpflegungsstelle, km 15), wenn der Plattenweg erreicht wird, der bis zu 20 % Steigung aufweisen soll. So warnt mich jedenfalls Marietta vor, die es wissen muss. Sie war bereits als eine von ganz wenigen Frauen beim ersten Harzgebirgslauf 1978 dabei. Dieser Weg war damals allerdings gesperrt, der 39 km lange Kurs machte kurz davor eine Wende. Sie erzählt, wie sie stolz das Baumwollhemdchen vom Rennsteiglauf („Sport hält gesund“) trug und nach dem Lauf völlig ausgepumpt über einem Zaun hing und sich übergeben musste.
Der Nebel wird immer dichter und der Wind immer heftiger und kälter. Mir tun die Jungs und Mädels leid, die dem Wetterbericht („Sonne, 16 Grad“) Glauben schenkten, halbnackt unterwegs sind, und sich jetzt einen abfrieren. Aber nur Einer gibt es zu: „Hoffentlich haben die an der nächsten Getränkestelle einen Müllsack.“
Hier ein paar Informationen zum Brocken, die für die Läuferinnen und Läufer mit den roten Waden und blauen Nasen natürlich zu spät kommen:
An mehr als 300 Tagen im Jahr ist er im Nebel, an 100 Tagen mit Eis bedeckt, die Durchschnittstemperatur über’s Jahr gesehen beträgt 2,9 Grad und der Wind bläst mit bis zu 263 km/h. Der Brocken ist der einzige Berg eines deutschen Mittelgebirges, dessen Gipfel über der natürlichen Baumgrenze liegt. Das Klima hier auf 1142 Metern Höhe entspricht dem auf 1800 – 2000 Metern in den Alpen.
Durch den dichten Nebel ist ein Fauchen und Pfeifen zu hören. Es ist die Brockenbahn, die seit 1991 wieder von Drei Annen Hohne über Schierke auf den Brocken fährt. Vor der Wende war sie zwar auch in Betrieb, aber nur zur Versorgung der dort stationierten russischen und NVA-Soldaten eingesetzt.
Im Zuge der Befestigung der innerdeutschen Grenze wurde der Brocken 1961 zum militärischen Sperrgebiet erklärt und entsprechend ausgebaut. Der sowjetische Militärgeheimdienst errichtete hier seinen westlichsten Hochposten und die Stasi richtete ihre leistungsstarke Abhöranlagen sowohl gegen den Klassenfeind im Westen als auch gegen die eigenen Leute. Als dann der Sozialismus aufhörte real zu existieren, wurden ab 1990 die Anlagen abgebaut und der Brockengipfel mit Millionenaufwand renaturiert.
Gleich erreichen wir den kahlen Gipfel (knapp 20 km), sehen aber weder den Sendeturm noch sonst was, außer Nebel natürlich. Insider sagen ja, das ist der wahre Brocken. Blauer Himmel und Sonnenschein sind eher unwirklich, wirken künstlich und werden dem Berg und der sagenumwobenen Landschaft nicht gerecht.
In leuchtend gelbe Jacken gekleidete Helfer machen mich auf den Felsbrocken mit der gusseisernen Tafel und der Inschrift „Brocken 1142 m“ aufmerksam und machen auch gleich ein Bild von mir. Dazu werde ich über die Temperatur informiert: mit 3 Grad liegt sie jetzt knapp über dem Jahresschnitt. Kein Grund zum Klagen also.
Ich mach mich fort, ich habe genug vom „wahren Brocken“ und laufe auf der Teerstraße abwärts. Unheimlich viele Wanderer und Ausflügler kommen uns entgegen. Jeder hat einen Gruß und wer seine Hände wegen der Kälte nicht in der Tasche hat oder damit seine Walkingstöcke halten muss, applaudiert anerkennend. Am Bahnhof vorbei geht es weiter auf der asphaltieren Straße abwärts. Pech, ich habe gerade die Bahngleise überquert, da höre ich hinter mir wieder das Fauchen und Pfeifen der Bahn. Ich hätte die Dampflok gerne auf meinen Chip gebannt.
Vorhin beim Aufstieg ist mir der Läufer mit der roten Kappe, Schild im Nacken, schwarzer Stoppelbart, schon aufgefallen. Obwohl ich ihn persönlich nicht kenne, weiß ich wer er ist. „Hallo, Heiner.“ Heiner Schütte ist ein Freund von Wolfgang Schwabe, dem leukämiekranken Läufer mit den über 200 Marathons. Aus seinen Laufberichten kenne ich Heiner, der heute mit Brigitte Koczi unterwegs ist. Er kennt mich wiederum von Wolfgang’s Erzählungen und gemeinsam freuen wir uns, uns hier zu treffen.
Kaum haben wir etwas an Höhe verloren, lässt der Wind nach und es ist auch nicht mehr so kalt. Wir verlassen die Teerstraße und sind auf dem Glashüttenweg, einem schmalen Forstweg. Die Zeit vergeht wie im Flug, zumal ich auf der leicht abschüssigen Strecke auch etwas an Tempo zulege, ohne allerdings zu überdrehen. Einen Abstecher zu dem einen oder anderen Aussichtspunkt erspare ich mir, denn es ist nichts zu sehen. Trotzdem hat der Herbstwald inklusive des Nebels seine Reize und ich bin nur am Genießen und Schwärmen.
Bei km 33 werde ich unsanft aus meinen Gedanken gerissen. Der Weg ändert plötzlich seine Richtung, statt abwärts geht es für einen knappen Kilometer ziemlich steil bergauf. Schmerzhaft macht sich bemerkbar, dass dabei wieder andere Muskeln beansprucht werden. Am Ende der Steigung ist dann eine Getränkestelle eingerichtet und nach langer Zeit sieht man mal wieder ein paar Häuser.
Die Streckenmarkierung ist übrigens tadellos. Jeder Kilometer ist angeschrieben, es gibt dicke Pfeile auf dem Boden, und wenn notwendig Absperrungen mit Flatterbändern. Verlaufen ist praktisch nicht möglich.
Flach oder mit leichtem Gefälle geht es weiter. Oberhalb des Gasthofes Steinere Renne (km 34) sind wir auf einem schmalen Pfad, der uns an riesigen Felsbrocken vorbei wieder ein Stück aufwärts führt. Motorsägen stören die Stille. Gleich sehen wir die Störenfriede auf einem großen Lagerplatz ihre Arbeit verrichten. Es riecht intensiv nach frisch geschlagenem Holz.
An der Mönchsbuche (km 37) ist noch einmal eine Verpflegungsstelle eingerichtet. Die letzten Kilometer werden rückwärts gezählt. Zwei kleinere Steigungen folgen noch, sonst geht es immer abwärts. Nach einem etwas schlechten, steilen Wegstück folgt als Entschädigung gleich ein Abschnitt, der dick mit Tannennadeln gepolstert ist. Dann kommen wir raus aus dem Wald, laufen über eine große Wiese und dann dem Bach Holtemme entlang zum Ziel.
Dort warten die Angehörigen und einige Zuschauer auf die Finisher, die herzlich begrüßt werden. Ein Händedruck, ein persönlich ausgesprochenes Lob und die Medaille sind der Mühe Lohn.
Aber was heißt schon Mühe, es ist ein Vergnügen hier zu laufen. Es hat mir einen Riesenspaß gemacht und ich will unbedingt wieder kommen - wenn kein Nebel ist, auch wenn das dann nicht der „wahre Brocken“ ist.
Aus den Duschzelten steigt übrigens weißer Rauch auf. Ein untrüglichen Indiz dafür, dass das Wasser noch heiß ist. Und das in der Prärie – nur als Hinweis für die Hausmeister der feudalen Sporthallen, wo es das nach 100 Duschgängen nicht mehr gibt.
Rundkurs über den Brocken mit ca. 1000 Höhenmetern. Die ersten 10 Kilometer sind hügelig, die zweiten geht es teilweise steil bergauf, und die zweite Hälfte es geht mit ein paar Ausnahmen bergab.
Parkplätze in der Nähe oder im Ort, ein paar hundert Meter entfernt. Startunterlagen gibt es am Vortag in Wernigerode oder am Samstag beim Start in Hasserode.
Medaille, Urkunde
Im Starterpaket sind noch Gutscheine für einen Eintopf (Erbsen oder Kartoffeln) und ein Hasseröder
Champion-Chip
Jeder Kilometer ist angeschrieben
11 km, 22 km, Wandern - Der Start der kürzeren Strecken ist so getimt, dass sie mit den Marathonis nicht in „Berührung“ kommen.