Bald darauf steht weniger trittsicheren und schwindelfreien Läufern eine Herausforderung bevor. Auf dem an vielen Stellen mit Drahtseilen gesicherten Sentèr del Luf steigen wir unterhalb der Felswand der Cima Comer ab. Hier gibt es einige Stellen, an denen man nicht mehr gehen kann, sondern ab und zu ein paar Meter an Felsen klettern muss. Nicht wirklich schwierig, aber wer so etwas noch nie gemacht hat, freut sich doch über die zahlreichen Helfer, die unsichere Läufer teilweise Fuß für Fuß nach unten führen. Bei Schlechtwetter wird auf diese Streckenvariante natürlich verzichtet.
Jetzt folgt ein rasanter Trail bergab. Immer wieder muss ich kurz neben die schmalen Pfad treten, um die schnelleren Marathonis überholen zu lassen. Kein Problem! Doch sobald die Strecke oberhalb des malerischen Dorfes Muslone wieder leicht wird, kurz bevor wir wieder den normalen BVG-Weg erreichen, passe ich einen kurzen Moment nicht auf. Ich springe zur Seite, um mal wieder jemanden vorbei zu lassen, rutsche auf losem Geröll aus und stürze. Blutige Finger, Handgelenke und Knie, zerrissene Hose - kein Problem! Das hält mich nicht auf. Als ich kurz darauf wieder fotografieren will, lässt sich die Kamera nicht mehr einschalten. Neben einem Knochenbruch ist das für mich das Schlimmste, was mir unterwegs passieren kann. Es ist erst 14.30 Uhr, noch viele schöne Kilometer liegen vor mir. Ohne Kamera fühle ich mich nun wie amputiert. Ich genieße weiterhin die Dörfer, die Berge, die Blicke zum und über den See, aber ich kann meine Eindrücke nicht mehr im Bild festhalten.
Bei Piovere biegen wir in ein Seitental. Die Route quert ein breites, felsiges Bachbett, wo die Erosion tiefe Rinnen ins Gestein gefräst hat. Ein Seil sichert den Übergang, aber man kann es auch ohne schaffen. Weiter geht es zur nächsten VP bei Aer und später hinauf zur Kapelle Madonna di Montecastello, oberhalb der ich vom 779 m hohen Gipfel eine tolle Aussicht über die fast senkrechte Steilwand hinab zum See genieße. Im nördlichen Bereich füllt der See ein von eiszeitlichen Gletschern tief in den Berg gefrästes Tal mit großen Felswänden am westlichen Ufer. Aus dieser Perspektive sieht auch die Gipfelkette südlich des Monte Baldo viel wilder und schroffer aus als heute Morgen, und immer mehr Gipfel umgeben uns. Ein schöner Downhill für Trailfans bringt mich zur nächsten Cut-Off-Stelle nahe Prabione. Noch immer habe ich genug Zeitvorsprung.
Bald führt ein Trail hinab in die faszinierende, tief eingeschnittene Felsschlucht Torrente San Michele, die wir ca. 130 Höhenmeter oberhalb des Sees durchqueren. Sind das tolle Fotomotive! Noch immer hadere ich mit dem Mißgeschick. Ich kann nur sagen, dass mir die zweite Streckenhälfte landschaftlich noch besser gefällt als der in Bildern festgehaltene erste Teil, da die Umgebung hier deutlich alpiner ist. Das müsst Ihr Euch nächstes Jahr selbst anschauen! Nun geht es hinauf zur nächsten VP bei Pregasio, dann längere Zeit wieder auf einfachen, manchmal asphaltierten Wege bergauf, durch eine sanfte Landschaft mit alpinem Hintergrund. Weil die etwa 150 Marathon-Läufer erst nach den letzten Ultras in Bogliaco starteten, beleben sie die Strecke jetzt etwas, so dass ich oft Leute vor oder hinter mir sehe.
Die Sonne ist auf unsere Seite längst hinter den Bergen verschwunden und wir laufen im Schatten. Die Gipfel am anderen Ufer sind aber noch hell erleuchtet. Bald färbt sich der Schnee am Monte Baldo rosa, dann wird es dunkel.
Wieder geht es auf einen Berg hinauf. Auch nach Sonnenuntergang bleibt es außergewöhnlich lange hell genug, um noch ohne Stirnlampe zu laufen. Beim folgenden Abstieg gebe ich daher noch einmal Gas, um möglichst viel Strecke mit guten Sichtverhältnissen zu schaffen. Erst um 19.10 Uhr muss ich dann doch die Lampe aus dem Rucksack holen.
Nach dem Abstieg vom Monte Lai laufen wir wieder auf dem BVG oberhalb des abseits vom See gelegenen Dorfes Vesio vorbei und dann noch bis etwa auf 350 m Höhe hinab. Obwohl ich kein begeisterter Nacht-Läufer bin, fasziniert es mich immer wieder, auf anspruchsvolleren Trails voll auf den kleinen Lichtkreis vor meinen Füßen konzentriert die Pfade hinab zu rennen. Bei Tag schaut man immer wieder auf Landschaft und Natur, nachts dagegen zählt nur der Trail. Dies ist gewissermaßen die Essenz des Trailrunning. Und es ist ja nicht so, dass man absolut nichts mehr von der Umgebung erkennt. Trotz der Nacht kann ich bei leichten Streckenabschnitten immer wieder meinen Blick auf die Konturen der Berge in meiner Umgebung richten. Was mich heute Abend aber am meisten begeistert, sind die vielen großartigen Blicke hinab zum Ufer des Sees, zu den Lichtern der Dörfer und zur Kette der Laternen, die die Straße an der Küste beleuchten.
Schon seit einer Weile kann ich in weiter Ferne das Licht der Scheinwerfer erkennen, mit denen die Renn-Organisatoren unseren letzten Gipfel, den Monte Bestone, beleuchten. Je weiter meine Route nun bergab führt, desto öfters denke ich nun: "Mist! Noch so ein weiter Aufstieg!" Zum Glück fühle ich mich nach wie vor ausgesprochen gut.
Die letzte Verpflegungsstelle bei Ustecchio darf niemand passieren, ohne dass sein Gepäck auf die Pflichtausrüstung kontrolliert wird. Zwei Stirnlampen, Ersatzbatterien, Rettungsdecke und Verbandmaterial sowie warme Kleidung sind angesichts dessen, was nun folgt, wirklich dringend erforderlich.
Nur noch elf Kilometer bis zum Ziel - bei einem flachen Volkslauf wäre das eine Stunde. Gemäß der offiziellen Cut-Off-Zeiten kann man dafür 2:15 Stunden rechnen, bei vielen von uns wird es mehr, sogar sehr viel mehr. Ich mache mir keine Sorgen, denn ich habe immer noch 50 Minuten Zeitpolser. Den ersten Teil des nächsten Aufstiegs kann ich überraschend schnell marschieren, oft auf Asphalt. Dann zweigt unsere Wettkampf-Route vom BVG-weg ab und ich steige sehr steil in die Höhe. Ich komme nur im Schneckentempo voran, denn dieser Trail kostet viel Kraft. Immer wieder sehe ich über und unter mir die Lichter der Stirnlampen der anderen Läufer und bin froh, nicht alleine zu sein. Endlich komme ich scheinbar oben an und muss erkennen, dass vor dem eigentlichen Gipfel noch ein kurzer, sausteiler Ab- und Gegenanstieg wartet.
Doch schließlich erreiche auch ich den 917 m hohen Monte Bestone, auf dem neben dem Gipfelkreuz auch eine Glocke hängt, die jeder Läufer läuten kann. Trotz meiner Erschöpfung genieße ich die nächtliche Aussicht einen Moment lang. Weit unten liegt Limone, ich höre den Sprecher im Ziel und weiß, dass es noch lange dauert, bis dort auch mein Name verkündet wird.
Abgesehen von der Kletterpassage beim Senter de Luf war die heutige Strecke für erfahrene Trailrunner nicht besonders anspruchsvoll, doch nun folgt der mit Abstand steilste Abstieg, den ich je bei einem Wettkampf bewältigen musste. Die Route ist auf der Wanderkarte als gepunktete Linie eingezeichnet. Bei schlechtem Wetter wird beim Wettkampf auf die Überschreitung des Monte Bestone verzichtet und stattdessen auf dem BVG-Weg außen herum gelaufen. Bei Regen ist es hier zu gefährlich.
Auf losem Geröll taste ich mich Schritt für Schritt langsam hinab, ich will nichts riskieren. Entlang des Trails haben die Veranstalter ein Stromkabel gelegt, so dass einige Scheinwerfer besonders kritische Punkte beleuchten und auch die grundsätzliche Richtung vorgeben. Hier ist absolute Konzentration notwendig. Für mich gehören Abschnitte wie dieser ebenso dazu, wie die leichten Urlaubstrails auf der ersten Streckenhälfte. Wenn ich beim Schreiben zurückblicke, sind die Glücksgefühle beim Blick auf See und Berge und das nächtliche Abenteuer untrennbar. Alles zusammen ergibt ein besonderes Ganzes.
Der nächste Aufstieg kommt mir überraschend leicht vor, auch wenn hier ebenfalls ein kleines Stück auf der Karte gepunktet ist. Trotzdem will ich nun endlich Limone erreichen, nicht noch einmal irgendwo hinauf. Endlich führt der Weg bergab, sogar recht einfach und schnell zu laufen. Das freut mich. Ich gebe Gas, noch ein paar Mal kurz rauf und wieder runter, dann erreiche ich ein großes Lagerfeuer, an dem sich einige Helfer wärmen.
Jetzt beginnt der letzte Abstieg. Nicht so brutal wie vorhin, aber dennoch ein rassiger, steiler Trail, auf dem ich immer wieder zwischen Laufen und Gehen wechseln muss, statt nur noch Tempo zu machen. Klasse, wie schnell man hier Höhe verliert.
Je weiter ich hinab komme, desto besser ist der Trail nun wieder laufbar. Nach der Einmündung vom Valle Scaglione ins Valle del Signol folgt ein mit groben Steinen gepflasterter Weg dem Bach. Wer hier gut aufpasst, kann wieder in relativ hohem Tempo bergab eilen. Doch noch immer liegt Limone weit unter mir. Mein Zeitpolster schrumpft. Jetzt könnte es doch noch knapp werden!
Schließlich erreiche ich die oberen Häuser von Limone. Ich renne, es ist aber weiter als erwartet. Dann bin ich endlich am Ufer. Vom Streckenplan her glaube ich zu wissen, dass das Ziel an der Uferpromenade ist. Aber die Flatterbänder und Hinweisschilder zeigen nicht in Richtung Limone, sondern nach rechts. Alle, also auch ich, laufen nach rechts auf weglosem Kiesstrand scheinbar ins Nichts, bis wir das Sportstadion sehen, in dem dieses Mal das Ziel ist.
Die letzten Meter lege ich dort auf der Aschenbahn zurück, dann habe ich es geschafft. 14 Minuten vor offiziellem Zeitlimit komme ich um 23:16 Uhr nach 15:46 Stunden ans Ziel. Weitere 7 Teilnehmer der Ultra-Distanz brauchen noch länger, die Letzte kommt nach mehr als 17 Stunden an. 38 Teilnehmer, also etwa 20 Prozent der Ultra-Starter, mussten unterwegs das Rennen abbrechen.
Als ich nach der Zielverpflegung zum Hotel marschiere, kommen mir abseits der Rennstrecke Läufer entgegen, die sich völlig frustriert nach dem Ziel erkundigen. Eine geniale Schlusspointe! 73 km perfekte Streckenmarkierung, und dann gehen kurz vor dem Ziel ein paar Trailer verloren.
Dieser Tag wird mir als einer der Höhepunkte meines Trailrunner-Lebens in Erinnerung bleiben. Jedem, der trittsicher und schwindelfrei ist, sei die Strecke ans Herz gelegt.