Noch nie in meinem Leben habe ich etwas derart Hartes gemacht. Lauftechnisch gesehen. Nur die Aufbietung meines ganzen Willens hat mich dieses Rennen durchstehen lassen. Aber alles schön der Reihe nach.
Es gibt Wettkämpfe, die sind für einen, der sich selber als Normalläufer betrachtet, bei seinem überschaubaren Trainingsaufwand schlicht unerreichbar. Ich spreche dabei vom UTMB und Konsorten, also Läufen, die über die Länge von 100 km teils deutlich hinausgehen und auch noch mit tausenden von Höhenmetern garniert sind. Es gibt aber auch Grenzfälle, die irgendwie gerade noch so machbar erscheinen, wenn man daheim auf der Couch liegt und tiefenentspannt vor sich hin spinnt. Ein solcher ist der Swissalpine mit seiner Königsdisziplin 78 km und 2.650 Höhenmetern.
Schon vor zwei Jahren, noch unter dem seligen Eindruck meiner Biel-Premiere, wollte ich ihn angehen, aber der Herr Chefredakteur meinte in seiner fürsorglichen Art, ich sollte erst einmal alpine Marathonerfahrung sammeln. Gut tat er daran, denn so erlebte ich in den Folgejahren nicht nur zwei unvergeßliche Urlaubswochen in der Schweiz, sondern mit meinen Teilnahmen am Jungfrau- und Zermatt-Marathon bei jeweils herrlichstem Wetter im wahrsten Sinne des Wortes die Sonnenseiten des alpinen Berglaufs kennen und lieben. Nun also folgt endlich der letzte Teil meiner helvetischen Marathon-Alpentrilogie.
Hans Castorp, der Hauptfigur aus Thomas Manns Bildungsroman „Der Zauberberg“ (den ich tatsächlich, allerdings unter Aufbietung größten Durchhaltevermögens, komplett gelesen habe) folgend, mieten wir uns im Berghotel Schatzalp, 300 HM über Davos, ein, genießen dessen etwas morbiden Charme und lassen uns lecker bekochen. Hans traf dort jede Menge weltentrückte Personen, darauf habe auch ich mich eingestellt. Er gewinnt den Eindruck, daß Krankheit den Menschen vergeistige und veredele, während Personen von robuster Gesundheit zu einer gewissen Einfalt neigten. Na prima, schon bin ich entlarvt.
1900 eröffnet, war die Schatzalp ein echtes Juwel, ein Luxussanatorium neben 23 (!) anderen unterschiedlicher Klassen in Davos zur Heilung Tuberkulosekranker. Infolge der verbesserten Heilungsmethoden und insbesondere der Erfindung des Penicillins Anfang der 50er Jahre war die Geschäftsgrundlage für die meisten Sanatorien, so auch der Schatzalp, entfallen und man wandelte sie in Hotelbetriebe um. Davon profitieren wir noch heute, sehr viel ist noch im Originalzustand erhalten, die einzigartige Lage im Sonnenhang über Davos macht sie fast zu einem Muß, auch in der Vorbereitung auf den Swissalpine.
Rund um die Schatzalp ist das optimale Trainingsrevier, um sich den letzten Schliff zu holen oder die Form zu konservieren: Der leicht wellige, 1,4 km lange Thomas-Mann-Weg, der 2,2 km lange Wasserfallrundweg mit 70 HM, die 4 km-Runde um den Davoser See oder, ganz optimal, der „Eichörnliweg“. Dieser führt über rund 2,1 km und knapp 300 HM zwischen Tal- und Bergstation der Schatzalpbahn. Läufst Du den halbwegs locker hoch, brauchst Du vor den Bergen keine Angst zu haben. Wer jetzt beeindruckt ist, dem sei hiermit der Startanstieg des Grand Raid de la Réunion auf der französischen Vulkaninsel mitten im Indischen Ozean beschrieben: Der ist 21 km lang und hat 2.500 HM am Stück. Und das mitten in der Nacht. Der ganze Lauf bietet auf 150 anspruchvollsten km satte 9.000 HM.
Von derlei Grausamkeiten unbelastet sind wir schon eine Woche vor dem Lauf angereist, und absolvieren am Folgetag den ersten Davoser Lauf. Ob Zufall oder nicht, jedenfalls können wir den dreiründigen Dorfkurs über 8 km um 21 Uhr, den Nachtlauf Davos, keinesfalls auslassen und staunen über unsere Kurzatmigkeit nach der einzigen nennenswerten Steigung am Kongreßzentrum zum Ende der Runde. Wir hoffen, daß dies weniger mangelhaftem Trainingsstand geschuldet ist, sondern mehr der ungewohnten Höhenluft von gut 1.500 HM. Hier wird die einwöchige Akklimatisierung auf fast 1.900 HM hoffentlich zur Vorbereitung auf den großen Lauf helfen.
Die Marathonmesse im Kongreßzentrum ist klein, aber fein, und führt auch zu einem Wiedersehen mit der schier omnipräsenten Geschäftsführerin des Zermatt Marathons, Andrea Schneider.
Der Start um 7 Uhr zwingt zu frühem Aufstehen. Frühstück zwei Stunden davor ist für mich nicht wirklich attraktiv, aber ich zwinge mir hinein, was geht, schließlich werde ich heute jede Menge Kalorien verbrennen und muß vorsorgen. Mit der ersten Bahn um 6 Uhr bin ich auch früh im Stadion und gebe, nachdem ich mir das lange überlegt hatte, für alle Fälle doch einen Rucksack mit Wechselbekleidung für den Transport nach Bergün ab, wo ich ihn bei Bedarf nach 40 km Laufstrecke plündern kann. Anschließend wird er mit vielen anderen Kollegen ins Ziel zurückgebracht werden.
Nach täglich wechselnden Wettervorhersagen ist schon am Morgen klar, daß der heutige Tag als Hitzeschlacht in die Annalen des Swissalpine eingehen wird, dazu später mehr. Mindestens alle 5 km werden wir (mindestens) mit Trinkbarem versorgt werden, trotzdem entscheide ich mich für die Mitnahme einer großen Flasche und werde mir unterwegs zu diesem Entschluß mehrfach selber gratulieren. Schon im Stadion beglückt man uns mit Getränken, um 6:50 Uhr fallen die ersten Sonnenstrahlen aus stahlblauem Himmel hinein. Allseits versprühen die Läufer gute Laune, die Butze, der Schneggi, die Sigrid – was soll da schiefgehen? Heroische Musik erklingt, und nach einem ausgiebigem Einlaufen (nee, das war ein Witz!) geht es dann endlich los zur Eroberung des Paradieses.