Etwa 15 Minuten vor unserem Start gebe ich meinen Rucksack ab. Außer einer langen Hose und einer Trinkflasche ist da nichts drin. Handschuhe habe ich erst gar nicht von daheim mitgenommen. Die könnte ich aber brauchen, denn viele Läufer haben solche Dinger bereits an oder zumindest „am Mann“. Die vorhergesagten 10 bis 20 Millimeter Niederschlag müssten schon heruntergekommen sein, aber der Himmel ist weiterhin grau in grau.
Ich glaube, die meisten haben sich mit einer Regenschlacht abgefunden, denn keiner mosert über die Bedingungen. Stattdessen lassen sich die Teilnehmer leicht motivieren. Du brauchst bloß jemanden die Kamera entgegenhalten, schon kriegst Du ein Lächeln und Lachen zurück. Und dann kommt wieder die Musik von Vangelis, zu der wir losgelassen werden. Hektik ist da nicht zu erkennen, alle traben langsam an und versuchen in ihren Rhythmus zu kommen.
Die ersten Meter geht es eine Straße entlang, die wir dann aber verlassen. Es geht ins Gelände. In den Wiesen sind bereits erste Pfützen zu sehen. Und dann kommt ein Stau. In einer kleinen Wegsenke hat sich eine Riesenwasserlache gebildet, an der es nur ganz hart links oder rechts im Gänsemarsch vorbeigeht. Nur jetzt keine nassen Füße bekommen, scheint die Absicht aller zu sein. Wie mag das erst in einer oder zwei Stunden sein, wenn es weiter so regnet?
Wir sind keine 15 Minuten unterwegs, da nehmen die Steigungsprozente deutlich zu und die ersten marschieren bereits. Wir gewinnen schon viele Höhenmeter, die Aussicht nach unten auf Bergün ist trotz des Scheißwetters aussichtsreich. Immer weiter führen die nun schmaler werdenden Wege bergauf. Mitunter müssen wir über Steine, Wurzeln und Sumpflöcher springen. Dann zwickt mich etwas an der Wade. Ich glaube, ich bin an einem Dornenstrauch hängengeblieben. Da das Ziepen nicht aufhört, schaue ich nach unten und entdecke eine Vespula germanica, wie sie gerade ihr Hinterteil zum Stich ansetzt. Selbst durch den Kompressionsstrumpf lässt sich das Mistvieh nicht aufhalten. Ein Schlag, und ich bin zumindest für den Augenblick schmerzlos und das Tier hinüber.
Die Fotoarbeit gestaltet sich für mich nicht leicht. Denn weiterlaufen und abdrücken ist nicht. Ich würde an der nächsten Wurzel stolpern und auf die Schnauze fliegen. Außerdem muss ich häufig das Objektiv trocknen. Denn schon ein Tropfen kann ein Bild versauen.
Die gewonnenen Höhenmeter verlieren wir auf einem tiefen Singletrail, wieder Stau. Einige versuchen, durch die „Botanik“ abzukürzen, sind aber auch nicht schneller. Der Trail mündet dann in einen breiten Waldweg ein, auf dem einige andere Läufer des Weges kommen. Erst auf dem zweiten Blick erkenne ich, dass wir auf den Kurs des K78 gestoßen sind. Ein längeres Gefälle bringt uns nach Bergün. Die Auftaktschleife ist nun geschafft. Und ein paar Kilometer auch.
In der Ortsmitte kündigt ein Moderator die einlaufenden Teilnehmer namentlich an. Ein paar Meter weiter wird an der ersten Versorgungsstelle schon eifrig zugegriffen. Das Angebot ist riesig: Neben Wasser werden Bananen, Riegel, Alpinbrötli, Powerbar, Gel, Mineraldrink mit Lemon und Orange-Geschmack, Gemüsebouillon und Cola gereicht. Es ist zwar nicht an jeder Tankstelle das ganze Angebot vorhanden, doch verhungern und verdursten ist unmöglich. Schon jetzt schmecken mir die warme Suppe und die Alpinbrötli vorzüglich.
Am Ortsende unterqueren wir die Bahnlinie, die zum Albulatunnel hoch führt. Wir halten links in das Val Tours. Von hier aus sind es noch rund 1200 Höhenmeter zur Keschhütte. Oben wird es nur rund fünf Grad haben. Und Nebel auch, so wurden wir beim Start informiert.
Etwa acht Kilometer lang ist das Val Tours, das von Bergün zum Weiler Chants führt. Rund 400 Höhenmeter können auf der meist asphaltierten Straße abgehakt werden. Ein Teil der Verbindung, die heute natürlich für den Autoverkehr gesperrt ist, ist geschottert. Und ein Stückchen Bergweg wartet da auch noch.
Um den für das Wetter Zuständigen da oben milde zu stimmen, steckt sich der Autor wieder einmal ein paar Blumen ins lockige Haar. Später erfahre ich, dass die Margeriten geschützt sind, aber die Naturranger gehen bei dem Wetter nicht aus dem Haus. Einer läuft im Supermann-Kostüm den langen Kanten. Christoph Zitzmann, ein Landsmann. Die leichte Steigung kommt mir recht. Denn einige der K78 sind am Marschieren und so kann ich immer wieder auf einige auflaufen. Die meisten verbreiten gute Laune, wissend, dass sie jeder Schritt der Keschhütte und damit ihrem zweiten Zwischenziel näher bringt.
Im Weiler Tour Davant befinden wir uns bereits auf 1704 Meter. Elf Kilometer liegen hinter uns. Hier können wir bereits zum dritten Mal aus dem Vollem schöpfen. Beim Berglauf ist es ganz anders. Jeder lässt sich Zeit mit Essen und Trinken, einige lassen sich gar ihre Flaschen auffüllen. Ich brauche zwei bis drei Minuten, bis ich meine Grundbedürfnisse erfüllt habe und dann laufe ich weiter.
Nach einigen Minuten zeigt ein blaues Schild uns Kilometer 30 an. Ja, hier ist es anders, denn es wird rückwärts gezählt. Und es wird auch nicht jeder, sondern jeder fünfte Kilometer angezeigt. Zwei Kilometer weiter endet die Zivilisation in Chants (1822 Meter). Hier entsteht der Toursbach (Ava da Tours) aus dem Zusammenfluss von Ava da Ravais-ch und Ava da Salect.
In Chants greife ich an der Tankstelle wieder zu. Die Bouillon wird heute mein Geschmacksfavorit, sie ist nämlich warm und sorgt für eine gute Mineralienzufuhr. Ein Wegweiser zeigt für die Keschhütte (Chamanna digl Kesch) 2 ¾ Stunden an. Ich bin gespannt, wie lange ich brauche für die rund 800 Höhenmeter und fünf Kilometer.
Zuerst ist die Steigung noch moderat auf einem breiten Bergweg, doch die meisten Läufer sind inzwischen zum Wanderer geworden. Ich kann zwar auch nicht mehr alles laufen, aber jetzt am Berg will ich meine Stärke ausnutzen. Die Bergabläufer werden dann jenseits der Keschhütte und nach dem Sertigpass an mir vorbei springen. Die Versorgungsstationen kommen jetzt fast jeden Kilometer. Valzana und Tschüvel sind die nächsten beiden. Es ist nicht alles im Angebot, aber Bananen und Isogetränke reichen hier vollends.
In Valzana verlassen wir die Bergstraße, es geht nun sehr steil auf einem Trail aufwärts. Dreckig und aufgeweicht ist der Untergrund. Gutes Profil an den Schuhen ist hilffreich, Trailschuhe noch besser.
Eine Frau spricht mich an, fast verzweifelt, weil sie nicht weiß, wo genau sie ist. Mich hat sie an den Blumen erkannt und aufgrund meiner Reporterarbeit. Sie glaubt, dass Chants noch kommen muss und sie hat eine Befürchtung, dass sie das Zeitlimit nicht schafft. Als ich sie aufkläre, dass Chants weit zurück und die Keschhütte in wenigen Minuten zu sehen sein muss, schaut sie mich mit offenen Mund an. Ja, Sachen gibt’s.
Der Baumbewuchs liegt weit hinter uns, immer weiter führt uns der Bergpfad hinauf, oft müssen wir Bachläufe und Rinnsale überqueren. Und dann kann ich auf einen auflaufen, der heute Nacht neben mir in der Jugi geschnarcht hat. Na, du warst recht ruhig, Hans (Schenker). Mittlerweile gibt es Spannungsprobleme. Nicht bei mir, aber bei der Kamera. Der Saft wird knapp, und so taucht die Keschhütte in Nebel auf. Hurra, gleich sind wir oben.