Auf 2625 Meter Seehöhe liegt die im Jahr 1893 erbaute Keschhütte. Sie wurde seitdem mehrmals umgebaut und vergrößert, so dass heute 92 Schlafplätze angeboten werden. In den letzten Jahren wurde die Hütte mit Sonnenkollektoren fürs Warmwasser, Solarzellen für Strom, mit einem kleinen Wasserkraftwerk und zwei Windgeneratoren aufgerüstet. Für die Bemühungen gab es das Umweltlabel der EU. Bergsteiger packen von hier aus den Piz Kesch, die Keschnadel und den Piz Porchabella an.
Schon von weiten sehe ich den, der dir tief in die Augen blickt. Der Rennarzt schaut sich jeden Läufer an, spricht ihn an oder gibt ihm eine kleine Aufgabe, um so zu testen, ob der noch im Hirnkastel richtig tickt. Wer in maladen Zustand hochkommt, muss tatsächlich damit rechnen, aus dem Rennen genommen zu werden, oder zumindest eine Zwangspause verpasst zu bekommen. Ausweichen geht nicht, denn der Weg führt direkt auf den Medizinmann zu und wer über die Steine klettert, macht sich gleich doppelt verdächtig.
Ein Gegenangriff ist die beste Verteidigung denke ich und frage ungeniert: „Habt ihr ein isotonisches Getränk auf Hopfenbasis?“ Als er meinen Schalk im Augenwinkel blitzen sieht, lacht der Doc lautstark los: „Du wilsch e Weißbier, ha!“ Klopft auf meine Schulter und entlässt mich als weiterhin bergtauglich.
Ein paar Meter weiter ist das Verpflegungszelt, wo ich mich für eine Minute verkrieche, um den notwendigen Batteriewechsel einigermaßen trocken über die Bühne zu bringen. Anschließend verpflege ich und mach mich wieder auf die Strecke. Durch die zwei, drei Minuten Aufenthalt sind meine Finger ganz klamm geworden. Außerdem pfeift der Wind gehörig über den Berg.
Der Weg wird recht schmal, doch im Feld nimmt man Rücksicht auf den Hintermann, sollte der schneller sein. Der Vordermann fragt, tritt zur Seite und der hintere kann passieren. Das beobachtet man bei einem Straßenlauf eher selten.
Etwa 200 Höhenmeter geht es hinunter ins Val dal Tschüvel. Linkerhand könnten wir mit dem Piz Forum und dem Pix Murtelet zwei Dreitausender sehen, aber die hüllen sich in Dunst und Nebel. Immer wieder müssen wir Wasserläufe überqueren oder über kleine Bächlein springen. Es macht richtig Spaß. Die nächste Tankstelle, quasi im Niemandsland, bietet uns trotzdem Wasser, Iso und Müsliriegel an. Toller Service.
Irgendeiner im Feld sagt, noch 20 Minuten, dann haben wir fertig mit dem Sertig. Zuvor umlaufen wir die zwei Ravais-ch-Seen, um an deren Ende die letzten finalen 200 Höhenmeter zum 2739 hohen Sertigpass aufzusteigen. Der Anstieg ist technisch nicht schwer, in Serpentinen geht es nach oben, bis ich einen Funkmast und ein Zelt entdecke. Und dann sehe ich das Top of Swissalpine.
Vor dem Verpflegungszelt sehe ich einen weiteren Medicus, der mir als erstes nicht in die Augen, sondern auf die Blumen an Mütze und Jacke schaut. „So viel Zeit muss sein“, sage ich. Da lachen auch die zwei Mädels los. Eine schnappt sich die Kamera und knipst los. Auch hier kann voll versorgt werden. 30 Meter weiter ist dann der Pass, der zwischen Mittaghorn und Chüealphorn, auch Dreitausender, liegt. Zwei Stunden Zeitbedarf, sagt der Wegweiser hinunter nach Sand an.
Relativ steil geht anfangs der Weg hinunter. Einer lasst einen Schrei los, der zweite jodelt, und ein Echo gibt es auch. Durch so viel Fröhlichkeit angesteckt, lasse ich einen bayerischen Urschrei los und höre von einem Englischsprechenden: „Where is the bear?“
Die Steinwüste endet und das Grün der Almwiesen beginnt schon auf etwa 2400, 2500 Meter Höhe. Jetzt geht es das Chüealptal hinaus. Ein Verrückter kommt von hinten und versägt mich. Der Norbert, dem ein K78 zu wenig ist und der gleich einen Doppeldecker mit C42 und K42 an einem Tag braucht. An der Tankstelle Chüealp haben wir bereits 27 Kilometer hinter uns und es geht nun auf breiter Bergstraße hinunter. Ein paar Meter weiter werden noch 15 restliche Kilometer angezeigt.
Der Weg wird immer besser, doch unkonzentriert sollte man auch jetzt nicht laufen. Außer Dreck an den Schuhen und an den Waden sehe ich nur ein, zwei Trailer, die mittels A-Backenbremse das hohe Tempo verringern mussten. Kurz vor Sand zeigt der Kurs nach rechts auf einen Wiesenweg.
Vom Sertigtal hinaus nach Davos sind es ab Sertig Dörfli noch elf Kilometer. Ganz einfach Sertig nennt sich das Tal, durch das sich eine schmale Straße hinunter nach Frauenkirch schlängelt. Ganz zuhinterst liegt ein Wasserfall und nicht weit entfernt ist die letzte Wirtschaft, das Walserhuus, wo ich schon mal einquartiert war.
Wer jetzt meint, der Kurs geht schnell das Tal hinaus, den muss ich enttäuschen. Wir laufen anfangs noch in Sichtweite zur Straße, dann bleiben wir auf der Höhe und verlieren nur wenige Höhenmeter. Weiterhin bleibt der Weg schmal, hat immer wieder ein paar Unwägbarkeiten wie Löcher, Wurzeln und Steine. Und dann wartet noch eine kleine Hängebrücke, vielleicht 20 Meter lang. Mein Zimmerkollege, der Hans, der kann's und bleibt mir gehörig im Nacken. Lange stehenbleiben für die Fotoarbeit darf ich nicht, denn dann spüre ich seinen heißen Atem im Nacken. Bei Boden, der vorletzten Tankstelle, greife ich zur schwarzen Brause.
Noch fünf Kilometer, sagt die Kilometertafel am Ortseingang von Clavadel. Und kurz darauf ein großes Plakat „WIR SIND STOLZ AUF EUCH“. Und wir erst auf uns, denn jetzt kann uns nichts mehr halten. Mittlerweile kann ich von meinem Trainingszustand zehren, denn es rollt auch noch an den letzten Steigungen.
Dann höre ich schon die Musik und den Moderator vom Zielbereich und habe noch zwei Kilometer vor mir. Nach hinten sehe ich keinen mehr und nach vorne auch nicht. So kommt ganz kurz eine Nervosität in mir hoch, vielleicht verlaufen? Aber am nächsten Baum hängt ein Markierungsband. Übrigens, verlaufen ist schier unmöglich, denn die Vorderleute haben uns den Weg freigemacht, wir brauchen meist nur der Schlammspur nachrennen.
Der letzte Kilometer geht nach Davos hinein, über die Landwasser hinweg und unter der Bahnlinie durch. Die letzten zwei, drei Läufer muss ich noch auf der Talstraße überholen, und dann kommt die Kür: Kinder abklatschen, Winken, Jubeln und ein bayerischer Urschrei auf der Tartanbahn, dann ist er geschafft, der K42. Gänsehaut. Stolz. Wenig Schmerz.
Ich habe es im Ziel anderswo schon länger ausgehalten. Heute warte ich nur kurz, mache von den glücklichen Teilnehmern ein paar Bilder und dann kommt Johann. Wir umarmen uns, lassen uns die verdiente Medaille umhängen, holen das T-Shirt und dann (endlich) das isotonische Getränk mit Hopfengeschmack.
Schnell wird mir kalt, ich hole meine Wechselklamotten und haue ab in meine Unterkunft. So wertvoll wie heute ist die warme Dusche schon lange nicht mehr gewesen.
Tipp für Euch:
Wer in der Schweiz im Urlaub gelobt werden will, muss ein Shirt von Zürich, Biel oder Davos spazieren tragen. Dann wird man von den Einheimischen angesprochen, garantiert.
Fazit:
Ich habe es in der Vergangenheit schon angesprochen, der Swissalpine hat für jedermann was zu bieten. Wer hinein schnuppern will, der kann sich leicht hochdienen: Mit K10 oder K21 beginnen. Für die Ambitionierten wartet der K30 und C42. Und für den wahren Bergfreund der K42 und K78. Ich glaube, 2015 ist der lange Kanten fällig.
K 78
Männer
1 Buud, Jonas (SWE) 06:30:18
2 Ritter, Beat (SUI) 06:38:51
3 Berner, Mirco (GER) 06:53:39
Frauen
1 Zimmermann, Denise (SUI) 07:47:57
2 Kahl, Claudia (GER) 08:12:50
3 Poltéra, Ornella (SUI) 08:33:38
959 Finisher
K 42
Männer
1 Bundi, Gion-Andrea (SUI) 03:30:06
2 Gehring, Lukas (SUI) 03:41:14
3 Zeiler, Timo (GER) 03:47:49
Frauen
1 Burkhart, Jessica (SUI) 04:21:38
2 Oberlin, Monika (SUI) 04:23:01
3 Schnüriger, Samira (SUI) 04:36:09
1091 Finisher
C 42
Männer
1 Loetscher, Arno (SUI) 03:19:53
2 Mertens, Gert (BEL) 03:21:24
3 Stähli, Lukas (SUI) 03:25:24
Frauen
1 Girsberger, Valerie (SUI) 03:54:08
2 Sobrino, Karen (RSA) 03:54:51
3 Dusch, Kerstin (SUI) 03:56:52
331 Finisher +
137 "Umsteiger" vom K 78