Während die andere Talseite von der Morgensonne in helles Licht getaucht ist, bewegen wir uns auf der Schattenseite im dichten Nadelwald weiter, eine Aufgabe, die ich im Vergleich zu meiner Kamera locker erledige.
Nach fünfzehn Kilometern kommt das nächste Kilometerschild und kündigt gleichzeitig den Beginn einer Abwärtsstrecke an, die sich über die kommenden zehn Kilometer und 500 negative Höhenmeter erstreckt. Beim Verlassen des Waldes taucht vorne an der Kante des Hangs die Kirche von Monstein auf. Während wir uns noch im Schatten bewegen, erstrahlt die Spitze des Kirchturms bereits in der Morgensonne. Beim Blick nach rechts, den Hang hinunter und weiter talabwärts, ist ein deutlicher Wechsel des Landschaftsbildes auszumachen. Statt den sanften, von üppigem Weidegrün durchsetzten Rundungen der Talflanken, sind steile, schroffe Hänge zu sehen, welche sich in eine tiefe Schlucht hinabneigen und auf denen die Nadelbäume sich tapfer festkrallen. Dort unten in der Zügenschlucht wird es bald weitergehen.
Zuerst aber kommt in Monstein ein weiterer Verpflegungsposten, nach welchem man es eine Weile auf der asphaltierten Zufahrtsstraße rollen lassen kann. Weiter geht es mit ordentlichem Gefälle, wieder im Wald und wieder im Schatten, zum Talgrund. Unten angekommen, gibt es einen kurzen Stau, weil gerade ein Zug der Rhätischen Bahn bei der Station einfährt und wir die von Sicherheitsposten gesicherten Geleise, überqueren müssen.
Am Eingang der Schlucht, zwischen Bahnviadukt und Landwasser, reichen die Sonnenstrahlen noch nicht bis zu uns, aber schon wenig später tauchen wir ein in ihren warmen, goldenen Schein. Wie anders diese Kulisse im Sonnenlicht doch wirkt als im Regen. Auch der beste Lichtgestalter im Theater würde diesen Effekt bei gleicher Kulisse nicht hinzaubern können. Dazu kommt, dass es dort, wo im vergangenen Jahr noch schmutzige Reste von Schnee und Geschiebe lagen, grünt und blüht. Eine Besonderheit der Strecke sind an dieser Stelle die grob belassenen Tunnels durch den Fels, in welchen die Augen heute noch mehr Schwierigkeiten haben, den Helligkeitsunterschied auszugleichen. Kaum sind sie dabei, sich an die Dunkelheit anzupassen, blendet sie das sonst so viel beschworene und gewünschte Licht am Ende des Tunnels, und blinzelnd tappe ich aus dem kühlen Fels hinaus in die warmen Arme des Sommers.
Beim Bärentritt, im Volksmund auch Känzeli genannt (Verkleinerungsform von Kanzel), verweile ich und blicke tief hinunter auf das tosende Wasser in der Schlucht. Meine stille Botschaft von dieser Kanzel herunter ist eine einfache: „Wie kann man sich einem solchen (Lauf-)Erlebnis bloß verweigern?“
Auf einem Singel Trail geht es weiter durch den Wald nach Wiesen-Station, womit schon wieder weitere fünf Kilometer hinter mir liegen. Je nachdem, wann man hier eintrifft, muss man nach dem Verpflegungsposten am Bahnübergang eine Kunstpause einschalten. Der Fahrplangestalter hat seine Aufgabe gut gelöst, ich werde kein zweites Mal von der Bahn aufgehalten und kann einen weiteren Höhepunkt in Angriff nehmen, die Überquerung des Wiesener Viadukts. Ich, der sonst – außer beim Fliegen - unter Höhenangst leide, koste diese zweihundert Meter, 88 Meter über dem Landwasser, so richtig aus, bleibe stehen, schaue hinunter und fotografiere. Anscheinend laufe ich nicht nur, wenn ich laufe, sondern fliege. Anders kann ich mir nicht erklären, dass das Kribbeln, das sich sonst beim Besteigen jeglicher Aussichtsplattformen in den Fingern und in den Zehen einstellt, wegbleibt.
Nach dem Viadukt gibt es im Wald einen Anstieg und anschließend einen schönen Naturlauf auf einem nicht sehr breiten aber gut zu begehenden Wanderweg. Wo die Bäume die Aussicht freigeben, macht sich wieder Weite in den Tälern breit. Bald schon kann man es mit Filisur im Blickfeld laufen lassen.
Das Kilometerschild zeigt an, dass das Ziel des K31 nur noch einen Kilometer entfernt ist. Weil es bis dorthin abwärts geht und es dort eine weitere Verpflegungsstelle gibt, geht es locker weiter. Genügend trinken ist heute ein wichtiger Ratschlag, denn mittlerweile ist die Temperatur ordentlich angestiegen und von Filisur bis Bergün gibt es nur wenige schattige Passagen.
Bis Bellaluna ist die Steigung mäßig, vielleicht werde ich gerade deswegen immer wieder überholt. Nach der dortigen Verpflegung führt uns der Weg zurück auf die Hauptstraße nach Bergün. Zu Beginn sind noch alle Läufer und Läuferinnen am Traben, mit zunehmender Steigung wechseln mehr und mehr zum Gehen. Jetzt kann ich wieder richtig ausziehen und mich nach vorne arbeiten. Die Sonne brennt ordentlich auf den Asphalt und uns herunter und als Kontrast dazu sehe ich den ersten schneebedeckten Gipfel.
Auch hier lasse ich es mir nicht nehmen, an der Mauer der Straßenbegrenzung stehen zu bleiben und fast senkrecht hinunter in die Tiefe der Schlucht der Albula zu schauen, während über uns die Presse im Hubschrauber ihre Runden für Fernseh- und Bildaufnahmen dreht. Gut, heute, bei diesem Wetter hätte ich auch nichts gegen einen kleinen Rundflug einzuwenden, aber schließlich bin ich Lauf-, nicht Flugreporter.