Wenn man die Keschhütte (2625 m - km 53) dann endlich sieht, ist man noch lange nicht oben. Der Weg scheint sich ewig hinzuziehen und obwohl er auf weiten Teilen gar nicht so steil wirkt, setzt er einem aufgrund der Höhe ganz ordentlich zu. Auf dem Schlussanstieg zum höchsten Punkt der Strecke lenken dann die phantastischen Blicke auf den Piz Kesch und den Porchabella-Gletscher von der Anstrengung ab. Viele Einheimische haben sich schon früh auf den Weg zur Keschhütte gemacht, um den Swissalpine hier oben live zu erleben. Sie feiern die Alpines, als seien sie bereits im Ziel. Das erreichen sie jedoch nur, wenn ihnen der Arzt hier für den nächsten Streckenabschnitt „grünes Licht“ gibt. Händedruck, Ansprache und ein tiefer Blick in die Augen genügen. Wer auf dem Zahnfleisch ankommt, bekommt eine Pause verordnet.
Steil und unwegsam geht es abwärts, dann wird der legendäre Panoramatrail erreicht. Ungefähr sieben Kilometer zieht er sich immer auf einer von um die 2500 m dahin, mal rauf mal runter, über Bäche und Rinnen, steile, blühende Wiesenhänge, Felsen und manches Jahr auch über Schneefelder. In diesem Jahr ist nur eines übrig geblieben. Nicht groß, aber es reicht. Als ich das letzte Stück mit einem langen Schritt überwinden will, rutscht mir das Standbein weg und es haut mich voll in den Dreck. Ein Wintersportler werde ich wohl nie. Vor Schreck kann ich mich einen Moment kaum rühren. Sofort sind ein paar Läufer da, wollen helfen. Aber es ist nichts passiert, nur Hand und Schienbein blutig aufgeschürft. Es kann weiter gehen.
Auf dem schmalen Panoramatrail ist nur ein „einvernehmliches“ Überholen möglich. Aber niemand drängt. Man macht an geeigneter Stelle Platz, oder überholt, wenn Platz gemacht wird. Gedränge oder Gemeckere erlebe ich nicht. Nur tolle Kameradschaft. Für Touristen ist der Trail am Lauftag gesperrt. Tief unten sieht man die Alp Funtauna, die die K42er anlaufen und über die bei schlechtem Wetter auch der K 78 umgeleitet wird. Ansonsten ist man inmitten einer herrlichen und, wie es scheint, unberührten Bergwelt. Für viele ist der Panaromatrail der schönste Teil der Strecke. Ich bin letztes Jahr den K 42 gelaufen. Ich habe die Zügenschlucht vermisst und Wiesen, Flisur und das Albulatal.
Dafür lernte ich die herrliche Alp da unten kennen, eine echte Postkartenidylle. Und ich freue mich auf Dürrboden und Dischmatal. Was ich damit sagen will? Ich weiß nicht, was mir am besten gefällt. Der K 78 ist alles. Es gibt ihn nur ganz oder gar nicht.
Am Scalettapass (2606 – km 60) lasse ich mir die Wunden versorgen. Die zwei Mädels freuen sich, dass es was zu tun gibt und ich genieße ihre Fürsorge. Während sie sprühen und verpflastern, lasse ich mir von einer Dritten Waden und Schenkel massieren. Sie soll nie aufhören. Auch Dirk Klatt fühlt sich gut, der Jubiläums-Swissalpine und sein 100. Marathon fallen nämlich nicht ganz zufällig zusammen. „So ein Lauf und so ein Wetter …“ Er strahlt mit der Sonne um die Wette. Mit der Startnummer 1000 belegt er am Ende Platz 700 und in der AK wird er 102. Warum hat er die Zwei nicht mehr geschafft?
Der Lauf hinunter nach Dürrboden ist eine Tortur. Steil, steinig und überhaupt … Wer Schwäche zeigt und die Füße nicht hoch bekommt, ist schnell aus dem Rennen. Der Weg verzeiht keine Unachtsamkeit, ein Sturz ist schmerzhaft. Laufen, schauen, und fotografieren sollte man nacheinander machen, nicht gleichzeitig. Ich bin gebrannt, ich halte mich dran. Die Schotterpiste kann meine gute Laune nicht trüben. Ich kriege die Gewissheit, dass ich ins Ziel komme. Ein Ultra, nach so langer Zeit. Und dann nicht irgendeiner - der Swissalpine, der K 78! Ich mache die Faust und mein lautes, lang gezogenes „Jaaaaa“ ist bis zum Dürrboden zu hören.