Du bist in der Schweiz, wenn du sowas hörst. So feuert man dort die Läufer an. Tag und Nacht. Aber ganz besonders heute, zur Premiere des neuen Swissalpine Irontrail in Davos, Kanton Graubünden, wo die Schweiz am Schönsten ist (sagen die Einheimischen). Und Recht haben sie. Man hat das Gefühl, in einem Musterländle zu sein, alles rundherum ist irgendwie perfekt. Und sauber. Und gutgelaunt. Und, ach was, kommt einfach her und guckt gefälligst selber.
Wie sie es gemacht haben, weiß ich nicht, aber sie haben die Gluthitze der letzten Tage für 24 Stunden abgestellt. Einfach ein paar Wolken vor die Sonne und gut ist. Sehr angenehmes Laufwetter für uns. Schon seit Mitternacht sind die 127er unterwegs, hier ab St.Moritz, dem neuen Startort für die langen Trails. Ziel ist Davos für alle Läufe aus dem großen Baukasten. Man kann sich wirklich das Passende aussuchen. Meiner heute heißt T88 und ist auch etwa so lang wie er heißt. Früher war das der K78, Davos-Davos, eine wahre Legende in der Ultrawelt. Heute wird es länger und schwerer, 25,5 Stunden bis Zielschluss. Ranhalten heißt das.
Und früh aufstehen. Am Bahnhof Davos-Platz wartet ein Sonderzug auf die Läufer. Pünktlich um 5:49 (irgendwie eine komisch-krumme Zeit, oder?) rollt er durch diese fantastische Landschaft entlang der alten K78er-Trasse. Erinnerungen werden aufgefrischt. Viadukte und Tunnel wechseln sich ab, Steigungen und Kurven, schnuckelige Bahnhöfe, wie auf einer Modellbahn. Und tatsächlich war die Strecke oft Vorbild für Modellbahnanlagen…
St. Moritz ist Endstation. Luxus überall. Lange Rolltreppen führen ins Zentrum hoch, an Protzschlitten und Superluxushotels vorbei. Mitten in der Fußgängerzone ist die Orga mit der Startnummernausgabe, Gepäck, Startbogen. Es gibt Tische zum Aufrödeln, aber nix zu trinken. Der Brunnen machts, frisches, kaltes Gletscherwasser. Köstlich. Alphornbläser vertreiben unsere Nervosität. Als ein Helikopter auftaucht, hören sie auf, plötzlich wird angezählt und ab geht’s, bergab zum See runter und dann wellig durchs waldige Gelände entlang der Skimarathonloipe.
Weicher Waldboden, fester Schotter. Der Stazerwald sieht wie eine Parklandschaft aus, so ordentlich-gepflegt. Da passen die netten Kleinigkeiten (Zerrspiegel oder die Uhrenbank) ganz gut rein. Und erstmal der herrliche Waldsee… So geht das bis Pontresina. Dort ist der erste VP. Getränke, mehr brauchts noch nicht. Die Bouillon ist spitze und nötig. Etwas Salz tut gut, denn unmittelbar danach folgt ein krasser Anstieg. Er ist ja nicht lang, aber steil und bietet einen Vorgeschmack auf weiteres. In der Sonne (die Wolken sind weg) tappen wir auf dem Trail hoch, verschwinden im Wald und marschieren stramm weiter, über die Baumgrenze nach Muottas Muragl, einer großen Bergstation mit einfach fantastischer Aussicht in alle umliegenden Täler, St. Moritz und Engadiner Seenplatte. Und auf die weißen Berge des Oberengadin. Gnadenlos toll. Ein Alphornduo begrüßt uns. Die beiden haben uns schon den Start verschönert.
An einem riesigen Holzhaufen vorbei, der wird demnächst zum Signalfeuer, beginnt ein kurvig-steiler Trail abwärts. Vorsicht ist geboten, ein Kamerad mit geknicktem Fuß sitzt am Rand und wird mit dem Heli abgeholt. Zu Fuß geht es weder hoch noch runter, das kann teuer werden…
Bald hat uns der Wald wieder, weicher Boden macht das Laufen leicht. Aber nur bis unten, da fängt nämlich eine lange Schotterpiste an, über zwei Flüsse und am Flugplatz längs. Eher die unspektakuläre Strecke. Sie endet in der Halle in Samedan. Vollversorgung, Dropbags für die 127er, so manche sind schon 12 Stunden unterwegs. Und müde. Wir haben den ersten von 4 Bergen geschafft, da kommt noch so einiges.
Den Ort verlassen wir recht schnell und erreichen (eher flach) den Zugang ins Val Bever. Entlang des Baches und der Bahnstrecke steigen wir unermüdlich auf den nächsten 7 km etwa 200 m an, in wechselnder Steigung. Spinas mit der Baustelle des neuen Albulatunnels ist schnell erreicht, alles auf Schotter. Und danach auch. Uns begegnen reichlich Biker, die in rasendem Tempo den Weg runterflitzen, manche können erst in allerletzter Sekunde ausweichen! Also Obacht hier, ganz außen gehen, bis zum Posten Palüd Marscha. Und dort nochmal auftanken, was geht. Der nächste Berg kommt. 400m, sausteil. Nasse Wolken umgeben uns, so mancher legt seinen Regenschutz an. Es ist aber noch nicht schlimm, und oben am Pass wird’s auch trocken. 2466 m, der zweite Berg. Im Geröll, erst flach, dann immer steiler, an Bergseen vorbei, durch kleine Bäche, wieder runter. Mit einer prächtigen Aussicht in unberührte Bergwelten.
Weiter unten taucht die Passstraße auf. Ein Posten sichert den Übergang. Ganz tief unter uns verläuft der Albulatunnel der Bahn. Bei Preda werden wir die andere Öffnung erreichen, mit den riesigen Steinhaufen und Förderbändern. Aber vorher erleben wir einen der schönsten Bergseen in weiter Runde, den Palpuogna. Ein fantastischer Wald, herrliches Geläuf, und das am Ufer des kristallklaren Sees. Riccardo und Aselia begegnen mir hier, er filmt mich, ich fotografier zurück. Er hat auf youtube einen blog, ich den Bericht bei trailrunning,de. Und er kennt mich, zitiert meine Hefeweizen-Halluzination! Mann, was habe ich plötzlich wieder einen Brand!
Der wunderbare Trail leitet uns weiter abwärts, in Naz ist ein hochwillkommener Posten. Alles gibt’s hier, von Bouillon bis zum Muffin, ein Schlemmererlebnis. Und beim Nachbarn gibt es Bier, wenn man denn ganz lieb fragt…Der ist begeistert von uns und hat die Brücke über den Bach unter einen Sprühnebel zur Abkühlung gelegt, das passt gut. Noch etwa 5 km bis Bergün, auf Trails immer weiter runter. Waren wir vorhin noch auf 2466 m, müssen wir jetzt auf 1370m absteigen. Das ist reichlich und bisweilen lehrreich, denn wir kreuzen mehrfach die Bahnanlagen mit den vielen Viadukten. Bahnlehrpfad heißt der Trail hier, auf großen roten Tafeln werden die Geheimnisse des Bahnbaus erläutert. Also Modellbahner aufgepasst! Quer über den Campingplatz Albula an den Fluss, über eine flache Wiese, an den nächsten Fluss, auf die alte 78er Strecke und in den Ort. Halbzeit.
In der Halle ist viel los. Unsere Dropbags liegen bereit, lecker essen und vor allem trinken. Wie schon in Samedan, schlage ich bei der köstlichen Pasta ordentlich zu und mache ein kleines Schläfchen. Eine Viertelstunde reicht. Power-nap. Und nun regnet es. Der Wetterbericht hatte doch recht. Aus Tropfen werden Bindfäden. Wer gerade reinkommt, ist nass durch und durch. Also nochmal zurück und Vollschutz angelegt. Blöd nur, dass es immer noch warm ist, so 20°. Schrecklich. Nass vom Regen oder vom Schweiß. Hier kann man wählen.
Bergün wird auf neuer, besserer Strecke verlassen. War es früher eine endlose Asphaltstraße, immerhin fast flach, ist es nun ein steiler, steiler Schotterweg.700 m Anstieg und oben ein Brunnen mit kaltem Wasser. Der Regen hört auf, als ich gerade auf dem Schotterweg bin. Flott die Regenklamotten weggepackt und weiter. Meditativ, der Blick demütig zum Boden und einen Schritt vor den anderen. Na gut, es gibt auch Aussicht hier. Und oben wird sie immer besser, besonders nach Westen rüber, zur untergehenden Sonne. Klare Luft, aber schlammiger Boden. Der Trail will vorsichtig belaufen werden, gute 6 km ist er lang. Das zieht sich und das Licht lässt nach. Es reicht aber bis zum Posten Alp digl Chant. Viele, viele Höhenmeter sind wieder futsch. Dafür kommen umso mehr bis zur Keschhütte dazu. Wieder 700! Leider gibt es keine vernünftige Stärkung hier. Mit nur Iso, Wasser und nem Riegel soll man also zu Kräften kommen. Den T39ern, die um 8 in Bergün zum Nachtlauf starten, macht das nichts. Aber die 88er und die 127er hätten da schon mehr nötig…
Es ist jetzt Nacht, aber der Vollmond leuchtet die Strecke ganz gut aus. Das kommt mir gut zupass, denn meiner Lampe geht der Strom aus. Wider erwarten kann ich genauso marschieren, wie im Hellen. Das ist aber nur reines Glück. Ohne richtiges Licht ist es so gut wie unmöglich. Das merke ich immer wieder und schalte meine Lampe an kritischen Stellen dazu, solange der Strom reicht. 700 m ohne Energie sind ein Erlebnis. Ich bin völlig platt. Und dann traben sie an mir vorbei, die Nächtläufer – bei dieser Steigung im Laufschritt! Es ist zum Heulen. Nun haben die aber auch kein Gepäck dabei. Meine 4 kg dagegen drücken ordentlich das Tempo.
Irgendwie komme ich an die Keschhütte. Mein Magen revoltiert, er will außer Wasser nichts haben. Also Pause. In der Hütte wickele ich mich in eine Decke und penne fast eine Stunde. Im Traum erscheint mir die Restdistanz: 23 km. Nicht viel, aber im Finstern und im Schleichschritt kann das dauern. Und da gibt es ja noch den Zielschluss um 10. Dieses gnadenlose Limit. Also schäle ich mich aus der Decke, ziehe mir mein Langarmhemd drüber, gieße etwas Bouillon in den Magen, was den völlig überrascht, und tappe ins Dunkel davon.
Auch ohne Licht finde ich die Markierungen, es hilft meine Streckenkenntnis. 200 m runter und 300 wieder hoch, im Geröll, durch unzählige kleine Bäche. Weit, weit voraus, in unglaublicher Höhe, blitzt ein Licht. Immer, wenn ein Läufer vorbeikommt, entsteht ein Foto. Der arme Kerl sitzt, nein, kauert in einem winzigen Zelt, lauert uns auf und flasht uns blind. Vorher ist aber noch der Posten Sertigpass mit Lagerfeuer, guter Versorgung und fleißigem Team. Auch hier bleibe ich ein Weilchen in der warmen Decke.
Immerhin, hinter dem Pass geht’s nur noch abwärts. Sertig-Dörfli, das ist das Ziel. Aber die Geröllhalde davor ist furchtbar. Lose Brocken, kein Spaß trotz Vollmond. Aber unten ist dann der breite Fahrweg, eben und glatt und immer nur runter. Hier könnte man Strecke und Zeit gutmachen, zumindest für 5 km.
Am Posten dann die Zeitnahme. 11 km to go. Es ist knapp halb 5 in der Früh und nun ist mir alles wurscht. Ab in den Wald, kurvig und wellig, eigentlich ein Trailtraum. Der Morgen beleuchtet allmählich die Wege vor mir, und der Laufschritt setzt wieder ein. Dann – unglaublich - das 5 km-Schild direkt vor mir! 80 hinter und 5 vor mir! Rosa Wolken am Himmel!
Kurz aus dem Wald raus, durch Clavadel, noch mal kurvig- wellig, dann die breiten Fahrwege, im Winter wohl Skipisten, ein letzter Berg – und Davos liegt vor mir.
Eigentlich. Aber ein Deckel aus weißem, undurchdringlichem Nebel wallt über dem Ort. Nix zu sehen, gar nix. Aber auch wieder toll. Wann hat man schon sowas. Und es ist hell.
Kurz nach 6, alles in Butter. Scharf links runter, Wanderer und Gassigeher feuern mich an, auf Asphaltstraße in den Nebel. Der löst sich auf wie eine Fata Morgana. Beim Zielbogen ist er fast futsch. Die Anzeige dort ist leider nicht die Laufzeit, aber immerhin Ortszeit. Mann, 22:18 Stunden bis hierher. Die Ankunft bei Licht hat was. Die Leute sind alle wach und munter, sie jubeln. Das wollte ich doch hören, das war der große Plan…
Fazit
Der T 88 ist ein wahrer Trail. 4 lange und steile Anstiege, immer 6-700 Höhenmeter, alles am Stück, immer in traumhaft schöner Bergwelt, bewacht und gesichert. Nach St. Moritz mit dem Zug nur für uns Läufer, per Rolltreppe zum Start. Alles da, Luxus bis zu absoluten Basics. Mit guter Ausrüstung und Energie ist das Limit zu schaffen. 4 ITRA-Punkte noch dazu, Medaille und ein tolles Shirt. Das werde ich demnächst stolz tragen!
(Klaus und Margot Duwe)