Ich bin entsetzt, wie lange es abwärts und dann dem Panoramatrail entlang geht. Ich dachte, wir steigen von der Keschhütte geschwind die fehlenden gut 100 Höhenmeter auf zum Sertigpass. Nichts da, fast 400 m büßen wir bei dem Abwärtslauf ein, bevor wir die Richtung ändern und zunächst zu den Ravaischseeen (2570 m) aufsteigen. Vor gerade einmal 90 Minuten war meine Frau noch hier und hat bei herrlichem Wetter Fotos gemacht. Jetzt regnet es und es ist so kalt, dass ich Mühe habe, an meinem Foto zu hantieren oder zum zigten Mal das Objektiv zu reinigen. Ich überlege tatsächlich, mir über die Finger die pinkeln, um sie zu wärmen. Dann frage ich lieber einen Kameraden, ob er mir seine Handschuhe leiht, er würde meine lange Hose dafür kriegen. Fairerweise lehnt er ab. Die Handschuhe seien nass und er könne sie ebenso gut wegschmeißen. Na ja, für meine Hose gilt das ja auch.
Trotzdem empfinde ich die Landschaft als traumhaft schön. Die Seen liegen auf verschiedenen Höhen, verbunden durch einen schmalen Bach, den wir queren. Um uns türmen sich die Berge bis auf über 3000 m auf. Den Sertigpass (2739 m, ca. 21 km) kann man gut erkennen. Wie orangefarbenen Perlen an der Schnur schlängeln sich die Alpines dort nach oben.
Unglaublich, mit welcher Freude die zahlreichen Helferinnen und Helfer nicht nur hier im Einsatz sind. Ich sehe nur lachende Gesichter. „Für Dich habe ich einen Windstopper in Deiner Lieblingsfarbe“, sagt eine Helferin in Anspielung auf meine orangene Mütze und hält mir einen Umhang entgegen. „Da, den schenkt Dir Mirgros.“ Ein toller Laden muss das sein.
Zwei Boullion, ein Cola und drei Stückchen vom Alpine-Brötli und ich bin wieder hergestellt. Den Rest werde ich schon noch packen. Es geht ja nur noch bergab, wird uns verheißen. Zunächst trifft das ja auch zu, sehr heftig sogar. Das geht mächtig in die Beine. Dazu muss man auf dem rutschigen Geläuf noch höllisch aufpassen. Das Sertigtal ähnelt dem Dischmatal, durch das wir sonst nach Davos laufen, nur oberflächlich betrachtet. Es ist steiler und wilder und die Wege sehr viel schlechter. Das können auch die blühenden Almwiesen weiter unten nicht kaschieren. Trailrunning ist angesagt.
Auf die nächste menschliche Ansiedlung treffen wir erst wieder bei km 25 (Chüealpe, 2101 m). Danach wird der Weg besser und kommt einem trotz Matsch und sonst was wie eine Promenade vor. Es wird gelaufen, was die Knochen noch so hergeben.
Sertig Dörfli (1861 m, 28 km), das sind nur ein paar Häuser und Ställe, aber für die Alpines so was wie die Rückkehr in die Zivilisation. Trotz des schlechten Wetters sind viele Zuschauer hier, um die geplagten Läufer willkommen zu heißen. Noch 14 Kilometer …
Ich liebe das Dischmatal. Gemütlich und ohne besondere Schwierigkeiten schlängelt sich der Weg durch Wiesen dem Bach entlang, der Blick ist frei bis Davos, das man nach genussvollem Lauf erreicht. Das Sertigtal ist das Gegenteil. Ungemütlich und mit großen Schwierigkeiten führt ein schmaler Weg durch dunkle Wälder. Nur manchmal gibt eine Lichtung den Blick ins Tal frei. Ich bin gerade dabei, übelste Verwünschungen auszustoßen, da strahlt mich eine blonde Schönheit an. Es ist Heike. Und das Beste: Sie hat den Rucksack voller Köstlichkeiten, den ihr Mann, weil wahrscheinlich weit hinter mir, noch nicht plündern konnte.