Der Swissalpine erlebte 2020 in zweierlei Hinsicht eine Premiere: Die Läuferinnen und Läufer starteten in Blocks und mit Maske, Zuschauer gab es keine. Das und andere Einschränkungen waren Voraussetzung, dass der Lauf trotz Corona stattfinden konnte. Als weiteres wurde erstmals der K 68 gelaufen, der dem Trend der Zeit folgend mit wesentlich mehr Trailanteilen an die Erfolge des K 78 anknüpfen soll.
Was machte den K 78 über viele Jahre hinweg zum must-have aller Berglauf-Freaks? Die Antwort gibt ein Rückblick auf den 25. Swissalpine 2010, von dem ich seinerzeit folgenden Bericht verfasst habe:
Weitere Laufberichte mit vielen Bildern findet man auf
Marathon4you.de und Trailrunning.de
Der Swissalpin Marathon feiert Jubiläum. 25 Jahre, welch eine Zahl. Kein Mensch hatte vor 25 Jahren dem „verrückten Rennen“ eine solche Lebensdauer, geschweige denn eine solche Entwicklung zugetraut. Als Andrea Tuffli, Ideengeber und OK-Chef, seinerzeit die Gespräche mit Genehmigungsbehörden und potentiellen Sponsoren führte, war man mehr als skeptisch.
Aber der Marathonläufer Tuffli verfolgte sein Ziel mit Ausdauer und Beharrlichkeit. Manchmal nennt man das auch Sturheit. Aber in dem Geschäft braucht man das. Und ein dickes Fell. Beides hat der erfolgreiche Ingenieur offenbar. Zusammen mit dem langjährigen „Streckenarzt“ Beat Villiger und vielen Helferinnen und Helfern setzt er seinen Plan in die Tat um und am 27. Juli 1986 startet der erste Swiss Alpine Marathon.
Die Ultrastrecke ging damals über den Sertig-Pass und war 67 Kilometer lang. Das Interesse bei den Läuferinnen und Läufern und bei den Medien war von Anfang an riesig. 1.200 Teilnehmer wurden gezählt. Davon wagten sich über 900 auf die ultralange Strecke.
Bei der 10. Auflage 1995 schien der Höhepunkt mit über 3.000 Teilnehmern auf den verschiedenen Laufstrecken erreicht. Der Lauf hatte sich längst etabliert und die Ultradistanz galt als eine der härtesten Prüfungen überhaupt. Dann der große Einschnitt 1998. „Jetzt ist er endgültig übergeschnappt, der Andrea,“ war aus dem Umfeld von Tuffli zu hören. Dabei hatte er „nur“ eine Streckenänderung vorgeschlagen. Nicht mehr der Sertig-Pass (der Abstieg über das Geröll zur Chleinalp hatte vielen arg zugesetzt), sondern die Keschhütte und der Scaletta-Pass sollten auf dem Weg zurück nach Davos passiert werden. Die Laufstrecke sollte sich damit auf sagenhafte 78,5 Kilometer bei einer Höhendifferenz von 2.320 Meter addieren. Der K 78 war geboren.
2002 werden erstmals mehr als 4.000 Läuferinnen und Läufer gezählt, beim 20. sind es über 5000. Trotz des anhaltenden Erfolges ruht sich niemand auf den Lorbeeren aus. Immer neue Ideen werden geboren und umgesetzt. Alles kann man dem Tuffli vorwerfen, dass er gegen Neuerungen ist, nicht. Und wenn sich etwas nicht gewährt: „Weg damit!“ In den letzten Jahren ist er in der Hinsicht etwas ruhiger geworden. Nur eine wesentliche Änderung hat er zum Jubiläum vorgesehen – und die hat es in sich. Nachdem es für das zu „knappe Zeitfenster“ schon arge (verbale) Prügel besonders von den Hobbyläufern gab, jetzt der Hammer: „Frühstart“ um 6.00 Uhr für alle, die sich eine Zeit von 12 Stunden nicht zutrauen. Zielschluss um 20.00 Uhr. 14 Stunden Zeit. Ich glaub es nicht.
Auch ohne die geschenkten zwei Stunden hatte ich mir den Davoser Bergultra ins Pflichtenheft geschrieben. 2007, vor meiner Verletzung, war es mein letzter Ultralauf. Jetzt sollte es mein erster danach werden. Ich bin bei weitem nicht so innovationsfreudig wie der Tuffli. „Nur keine Experimente“, denke ich und quartiere mich wie immer auf der Schatzalp (1900 m) ein. Bei Pius App, einem der Besitzer des traditionsreichen Berghotels, fühle ich mich gut aufgehoben. Er ist ein Alpine der ersten Stunde und geht dieses Jahr zum 25. Mal an den Start. Leider reicht es wegen einer OP an der Achillessehne nur zum 11er. Aber Dabeisein ist alles. Wie jedes Jahr hat er spezielle Arrangements für die Teilnehmer, Pasta-Buffet vom Feinsten am Vorabend, extra frühes Frühstück und Sonderfahrt mit der Bergbahn und beste Höhenluft zum Eingewöhnen inklusive.
Die ganze Woche regnet es in Davos. Aber für Samstag ist Sonnenschein vorhergesagt und nicht mehr als 20 Grad. Noch am Freitag kann man das nicht glauben. Die Berge sind in Wolken und die können das Wasser nicht halten. Obwohl ich nervös bin wie ein Anfänger, schlafe ich auf der Höhe wie ein Murmeltier. Der Wecker reißt mich aus dem Schlaf. Sofort gehe ich ans Fenster, schaue in den Himmel und sehe den hell leuchtenden Mond, tausende Sterne und keine Wolke. Ich bin hellwach.
Obwohl mir das Frühstück die liebste Mahlzeit des Tages ist und das Buffet alle Köstlichkeiten für Läufer und Begleiter bereithält – ich kriege gerade mal ein Müsli und eine Banane runter. Die erste Bahn fährt pünktlich und ist gut belegt. Natürlich alles Alpines – meist Ersttäter, angelockt vom geänderten Zeitfenster. Die Stammläufer starten meist später. 5913 Anmeldungen registrieren die Veranstalter – und das nach dem Rekordjahr 2009. Alleine der K 78 (1661) verbucht einen Zuwachs von 42 %! Auch der K 42 (1166) und C 42 (361) liegen über dem Vorjahr.
5 Minuten dauert die Fahrt, 5 Minuten der Fußmarsch zum Sportzentrum. Zeit genug, das Gepäck nach Bergün abzugeben und mit den vielen Bekannten einen Schwatz zu halten. 500 Läuferinnen und Läufer sind es bestimmt, die sich für den Frühstart entschieden haben. Nicht alle hätten das notwendig. Manche wollen einfach nur ohne Zeitdruck und Stress die Strecke genießen. Aber bestimmt sind auch ein paar Ehrgeizige dabei, die einmal „vorne mitmischen“ wollen. Jedenfalls sehe ich einige Startnummern, die hier nicht her gehören.
Mit „Conquest of paradise“ und guten Wünschen geht es auf die Strecke. Ich hätte nicht gedacht, dass so früh so viele Zuschauer da sind. Auch in der Stadt sind viele Fans an der Straße, Gäste stehen auf den Balkons der Hotels, es ist fast wie immer. Auch Andrea Tuffli sammelt seine ganz persönlichen Eindrücke. Der Zuruf eines Läufers freut ihn bestimmt ganz besonders: „Danke für die zwei Stunden!“
Es ist kalt, bestimmt deutlich einstellig. Die Sonne erreicht zunächst nur die höchsten Berggipfel, fast herbstlich mutet das Tal an. Ideal zum Laufen, schlecht für Fotos. Aber die Finger sind sowieso klamm. Bis Filisur verlieren wir ungefähr 500 m an Höhe, was aber nicht heißt, dass der Bergultra mit einem schnellen Abwärtslauf beginnt. Gefällstrecken wechseln sich mit teilweise kräftigen Anstiegen ab, die Wege über Wiesen und durch kleine Waldstücke sind meist schmal und rustikal. Ohne den Frühstart hätte ich zumindest bis Chants mächtig Zeitdruck. So aber genieße ich den Luxus, alle Zeit der Welt zu haben. Und jede und jeder, mit der/dem ich rede (und das sind viele), sieht das genauso. Die meisten sind sogar nur deshalb hier. Ohne die „Zugabe“ hätten sie sich den Lauf nicht „angetan“.
Der sonore Treichel-Klang ist schon von weitem zu hören. Es hat Tradition, dass der Bauer vom Spina-Hof die Riesen-Glocke schwingt (die ja keine Glocke, sondern eine Treichel ist) und die Alpines begrüßt. Er ist fit, seine Söhne, die ihn sonst unterstützen, liegen wohl noch in den Federn. Obwohl, wer kann bei dem Lärm schon schlafen? Getränke gibt es auch, dann geht es weiter. 30 Minuten später kommen wir zur Hööhalde mit der St. Peter-Kirche in Monstein (1626 m – km 17) , 1896/97 im Jugendstil erbaut und ein Fotomotiv erster Güte.
Auf dem geteerten Fahrweg laufen wir teilweise ziemlich steil abwärts, bis wir nach der Bahnüberquerung Schmelzboden (1340 m - km 20) erreichen. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts wurde hier in mühevoller Arbeit Erz abgebaut. In einem Museum kann man sich darüber ausgiebig informieren. Die Bedingungen waren hart. So sah 1845 die Arbeitszeitregelung aus: „Die Schicht besteht aus 12 Stunden, um 6.00 Uhr wird angefahren (also der Stollen betreten), um 7.00 Uhr abends wird ausgefahren. Von 12 Uhr bis 1 Uhr ist Ruhestunde.“
Der jetzt folgende Weg durch die wildromantische Zügenschlucht ist überaus reizvoll. Steil aufragende Felswände, wilde Bäche, schmale Stege und dunkle Tunnels bilden die Kulisse. Bilder zum Staunen und Genießen. Der Weg hat leichtes Gefällte, das Laufen fällt leicht und macht richtig Spaß. Bis 1974 war dieser Weg noch als Kantonstraße eine wichtige Verbindung nach Davos.
Etliche Brücken der Rhätischen Bahn sind zu bewundern, die kühnste ist das Wiesner Viadukt, 88 Meter hoch und 210 Meter lang. Kurz nach dem kleinen Bahnhof laufen wir parallel zur Bahnlinie auf den schwingenden Gitterrosten in luftiger Höhe über die Brücke. Wer Glück hat, wird bei seiner Passage von einem Zug begleitet und von den Fahrgästen angefeuert. Ich habe Pech, der Zug kommt mir gerade entgegen.
Am Ende der Brücke steht Röby mit zwei großen Kuhglocken und wie immer bunt kostümiert. Was der Didi für die Tour de France, ist der Röby für den Swissalpine. Hat er hier seinen Job getan, geht er auf die Walkingstrecke, um den Zieleinlauf als Aktiver zu erleben. Ein echtes Original.
Es geht noch einmal kurz steil bergan und dann nur noch abwärts bis Filisur (1032 m - km 31). Man hört schon Durchsagen über die im ganzen Ort aufgestellten Lautsprecher. Zuvor holt mich Eberhard ein, der das Kapitel Swissalpine wegen dem Zeitfenster eigentlich auch abgeschlossen hatte. Jetzt ist er mit großer Begeisterung erneut dabei. Kurz vor dem Ort überholen uns die ersten K31-Läufer, schon bald darauf kommen die Führenden des K78, unter ihnen der Schwede Jonas Buud, der schon dreimal gewonnen hat.
Unwillkürlich fällt mir die Geschichte ein, wie er 2007 als völlig unbeschriebenes Blatt nach Davos kam und sich bei Andrea Tuffli erkundigte, wo er sich nachmelden könne. Er wolle den K 78 laufen - und gewinnen, ließ er den verdutzten OK-Chef wissen. Der kennt sich normalerweise in der Laufszene ganz gut aus. Aber Jonas Buud, nie gehört. Überhaupt: Passt das zusammen, ein Schwede und Berglauf? Nun ja, Marathon sei er schon mal gelaufen, einen Ultra noch nicht. Ja, dann solle er sich eben mal eine Startnummer holen und sich die Sache ansehen, meinte da der höfliche Schweizer. Der Fall war für Andrea Tuffli erledigt.
Aber dann die Sensation. Der blonde Schwede schert sich nicht um die Favoriten (Seriensieger Grigory Murzin, Vorjahressieger Giorgio Calcaterra) und läuft einfach sein Tempo. Und das ist für die Konkurrenten spätestens ab dem Aufstieg zur Keschhütte zu hoch. Der Schwede gewinnt. Auch 2008 und 2009. Und als er gestern auf der Pressekonferenz gefragt wird, was er sich diesmal ausrechnet, sagt er knapp: „Ich will gewinnen.“
Die nächsten 7 Kilometer geht es dem Flüsschen Albula entlang, bis Bellaluna ziemlich bequem auf einem breiten Naturweg. Wir sind gerade bei der Verpflegungsstelle, als uns die ersten Frauen überholen. Jasmine Nunige ist dabei. Sie ist auf dem Weg zu ihrem dritten Sieg und ich zu meinem schönsten Swissalpine.
Wir wechseln hinüber zur Verkehrsstraße, der wir bis Bergün folgen. Zuvor stößt noch Schneggi zu uns. Auch so einer, der mit dem Swissalpine und den Durchgangszeiten so seine Erfahrungen hat. Heute ist er richtig aufgekratzt, so kenn ich ihn gar nicht. Den Lauf nennt er schon jetzt den „Schönsten aller Zeiten.“ Eberhard und ich nicken.
Dann wird das Bergdorf Bergün (1335 m – km 39) erreicht. Gleich am Ortseingang sind das Kleiderdepot und die Verpflegungsstelle. Wer Probleme hat, sollte hier aussteigen und mit dem Zug zurück nach Davos fahren. Im weiteren Verlauf der Strecke ist das nicht mehr ganz so einfach und eventuell mit einem langen Rückmarsch verbunden. Der Ort steht ganz im Zeichen des Swissalpine. Um 11.30 Uhr wird hier der K 42 gestartet, der nach einer Schleife um den Ort auf die Strecke des K 78 stößt und ihr bis zur Keschhütte folgt. Jetzt bilden die Teilnehmer zusammen mit den vielen Zuschauern eine imposante Kulisse. Im Zentrum fällt gleich der Platzturm La Tuor aus dem 13. Jahrhundert auf, ansonsten ist jedes Haus entlang der Straße, meist aus dem 16. bis 18. Jahrhundert, ein Schmuckstück für sich. Typisch für den Engadiner Stil sind die Fassadenmalereien, Erker und Fenstergitter sowie das Sgraffito, eine spezielle Putztechnik.
Zuerst ist der Weg ins Val Tuors noch geteert, dann wird er etwas schmaler und steinig. Die Steigung ist aber meist moderat und ich kann weite Strecken entlang des tosenden Gebirgsbachs laufen. Trotzdem werde ich ständig überholt, was aber für keinen ein Problem ist. Längst habe ich die Marathondistanz hinter mir. Länger bin ich seit drei Jahre nicht gelaufen. Ich nehme es gar nicht zur Kenntnis. Ich fühle mich gut, habe mir die Kräfte bis hier hin gut eingeteilt. Wir erreichen die Almhütten von Davant (km 45) und wenig später Chants (1822 m – km 47).
Die kleine Almsiedlung ist ein beliebtes Ausflugsziel, es sind viele Schaulustige hier. Nach einer ausgiebigen Verpflegung und Erfrischung am kühlen Brunnen geht es weiter.
Auf den nächsten gut 5 Kilometern steigt die Strecke um 810 Meter an. Es beginnt ganz gemütlich nach der Holzbrücke in weitläufigen Serpentinen durch schattigen Wald. Aber bald wird es steiler, steiniger und immer unwegsamer. Dann sind wir jenseits der Baumgrenze. Der schmale Pfad schlängelt sich steil durch Almwiesen, deren Grün immer spärlicher wird und schließlich einer Stein- und Felswüste weicht. In langen Kolonnen marschieren die Alpines nach oben. Keiner drängelt, keiner schimpft. Zwei Verpflegungsstellen hat man auf diesem Streckenabschnitt eingerichtet. Das reicht, weil es trotz intensiver Sonne heute nicht zu warm ist. Ansonsten ist es schon zu empfehlen, zumindest eine Trinkflasche mitzuführen.
Wenn man die Keschhütte (2625 m - km 53) dann endlich sieht, ist man noch lange nicht oben. Der Weg scheint sich ewig hinzuziehen und obwohl er auf weiten Teilen gar nicht so steil wirkt, setzt er einem aufgrund der Höhe ganz ordentlich zu. Auf dem Schlussanstieg zum höchsten Punkt der Strecke lenken dann die phantastischen Blicke auf den Piz Kesch und den Porchabella-Gletscher von der Anstrengung ab. Viele Einheimische haben sich schon früh auf den Weg zur Keschhütte gemacht, um den Swissalpine hier oben live zu erleben. Sie feiern die Alpines, als seien sie bereits im Ziel. Das erreichen sie jedoch nur, wenn ihnen der Arzt hier für den nächsten Streckenabschnitt „grünes Licht“ gibt. Händedruck, Ansprache und ein tiefer Blick in die Augen genügen. Wer auf dem Zahnfleisch ankommt, bekommt eine Pause verordnet.
Steil und unwegsam geht es abwärts, dann wird der legendäre Panoramatrail erreicht. Ungefähr sieben Kilometer zieht er sich immer auf einer von um die 2500 m dahin, mal rauf mal runter, über Bäche und Rinnen, steile, blühende Wiesenhänge, Felsen und manches Jahr auch über Schneefelder. In diesem Jahr ist nur eines übrig geblieben. Nicht groß, aber es reicht. Als ich das letzte Stück mit einem langen Schritt überwinden will, rutscht mir das Standbein weg und es haut mich voll in den Dreck. Ein Wintersportler werde ich wohl nie. Vor Schreck kann ich mich einen Moment kaum rühren. Sofort sind ein paar Läufer da, wollen helfen. Aber es ist nichts passiert, nur Hand und Schienbein blutig aufgeschürft. Es kann weiter gehen.
Auf dem schmalen Panoramatrail ist nur ein „einvernehmliches“ Überholen möglich. Aber niemand drängt. Man macht an geeigneter Stelle Platz, oder überholt, wenn Platz gemacht wird. Gedränge oder Gemeckere erlebe ich nicht. Nur tolle Kameradschaft. Für Touristen ist der Trail am Lauftag gesperrt. Tief unten sieht man die Alp Funtauna, die die K42er anlaufen und über die bei schlechtem Wetter auch der K 78 umgeleitet wird. Ansonsten ist man inmitten einer herrlichen und, wie es scheint, unberührten Bergwelt. Für viele ist der Panaromatrail der schönste Teil der Strecke.
Ich bin letztes Jahr den K 42 gelaufen. Ich habe die Zügenschlucht vermisst und Wiesen, Flisur und das Albulatal. Dafür lernte ich die herrliche Alp da unten kennen, eine echte Postkartenidylle. Und ich freue mich auf Dürrboden und Dischmatal. Was ich damit sagen will? Ich weiß nicht, was mir am besten gefällt. Der K 78 ist alles. Es gibt ihn nur ganz oder gar nicht.
Am Scalettapass (2606 – km 60) lasse ich mir die Wunden versorgen. Die zwei Mädels freuen sich, dass es was zu tun gibt und ich genieße ihre Fürsorge. Während sie sprühen und verpflastern, lasse ich mir von einer Dritten Waden und Schenkel massieren. Sie soll nie aufhören. Auch Dirk fühlt sich gut, der Jubiläums-Swissalpine und sein 100. Marathon fallen nämlich nicht ganz zufällig zusammen. „So ein Lauf und so ein Wetter …“ Er strahlt mit der Sonne um die Wette. Mit der Startnummer 1000 belegt er am Ende Platz 700 und in der AK wird er 102. Warum hat er die Zwei nicht mehr geschafft?
Der Lauf hinunter nach Dürrboden ist eine Tortur. Steil, steinig und überhaupt … Wer Schwäche zeigt und die Füße nicht hoch bekommt, ist schnell aus dem Rennen. Der Weg verzeiht keine Unachtsamkeit, ein Sturz ist schmerzhaft. Laufen, schauen, und fotografieren sollte man nacheinander machen, nicht gleichzeitig. Ich bin gewarnt, ich halte mich dran. Die Schotterpiste kann meine gute Laune nicht trüben. Ich kriege die Gewissheit, dass ich ins Ziel komme. Ein Ultra, nach so langer Zeit. Und dann nicht irgendeiner - der Swissalpine, der K 78! Ich mache die Faust und mein lautes, lang gezogenes „Jaaaaa“ ist bis zum Dürrboden zu hören.
Die alten Hütten und Häuser am Dürrboden (2007 m – km 65) stammen noch aus einer Zeit, als hier eine wichtige Raststation für Säumer mit ihren Maultieren und Pferden auf dem Weg über den Scalettapass ins Engadin und weiter über den Berninapass ins Veltin war. Heute laben sich hier die Alpines und die Zuschauer genießen bei Kaffee und Kuchen die Sonne und die einmalige Atmosphäre. Besonders feiern sie Hermann Hassler. Er ist zum 25. Mal dabei – und immer auf der längsten Strecke.
Der Weg nach Davos ist noch weit. 14 km bei fast 500 m Gefälle hören sich nicht dramatisch an. Aber es spielen sich Dramen ab auf diesem Teilstück, das der vom Papier her bequemste Streckenabschnitt zu sein scheint. Wer nämlich bergauf zu viel gelaufen ist und sein Pulver verschossen hat, muss jetzt bergab gehen und wird mehrfach bestraft. Im Gehschritt will der Weg nämlich kein Ende nehmen, ständig wird man überholt und die Schönheit des Tals entgeht einem vollends. Frust ist angesagt. Flüche und Schwüre sind zu hören. Wer dagegen gut drauf ist und Reserven hat, genießt den Lauf und macht etliche Plätze gut.
Bei mir ist es heute eher so mittendrin. Ich bin schon besser gelaufen, aber trotzdem heilfroh, es überhaupt geschafft zu haben. Den letzten Anstieg am Talausgang hinauf auf den Aussichtsweg habe ich einkalkuliert. Röby, der in der Frühe noch für gute Laune am Wiesner Viadukt sorgte, ist mit seinen Stöcken auf den letzten Kilometern. Und auf einer Bank sonnt sich Pius App, der Schatzalp-Hotelier, weil er wieder einmal als einer der Letzten ins Ziel kommen will.
Tausend Dinge gehen mir durch Kopf – und der Tuffli. Ich habe ihm schon gestern zum Jubiläum gratuliert. Heute muss ich es noch einmal tun. Die Leistung dieses Mannes ist einmalig. Nicht nur, dass er die Idee zu diesem Lauf hatte. Er hat sie auch umgesetzt. Und nicht nur das, er hat den Swissalpine weiter entwickelt, ihn in 25 Jahren zur Marke gemacht, zum wichtigsten Sommerevent einer ganzen Region. Andrea, ich ziehe den Hut. Habe ich einen Wunsch frei? Mach weiter.
Es ist herrlich, hier zu sein. Die Leute klatschen, ich spüre keine Schmerzen. Ich sehe das Stadion, laufe auf den hässlichen Hintereingang zu und bin in der mit Fahnen geschmückten Arena. Man weiß in Davos, was man den Alpines schuldig ist. Viele begeisterte Zuschauer bleiben bis zum Schluss. Man kann es in den Gesichtern lesen: Es ist etwas Besonderes, hier ins Ziel zu laufen. Wer wie ich das etwas später tut, hat das Glück, dass Freunde warten. Schön, dass Ihr da seid.