Es war ein kleiner, unbedeutender Schritt für die Menschheit aber ein großer Schritt für mich. Damals, vor erst vier Jahren, als ich erstmals weiter als die Marathondistanz laufen wollte. Nicht nur ein paar Meter weiter, nein, fast nochmals so viel würden dazukommen und Höhenmeter auch noch. Ich hatte mir dafür den Swissalpine ausgesucht. Es war ein perfekter Einstieg in die Welt der Ultraläufe, womit es einer ganz natürlichen Regung entspricht, dass es mich aufs letzte Wochenende im Juli immer wieder nach Davos zieht. Natural Running, könnte man sagen.
Als die Strecke vor Jahren über den Sertigpass führte, blickte ich ehrfürchtig zu den Protagonisten solcher Heldentaten hoch. Vergangenes Jahr, als dieser Talübergang gegenüber dem Scalettaspass wieder den Vorzug erhielt, war ich 10'000 Kilometer vom Geschehen entfernt, also ist es nichts als natürlich, dass ich dieses Jahr wieder anreise.
Auch die Anreise steht unter dem Zeichen des Natürlichen. Die im Startgeld eingeschlossene Anreise mit den öffentlichen Verkehrsmitteln von jedem beliebigen Ort der Schweiz ermöglicht eine Umwelt schonende und entspannte Reise. Bevor ich die Startunterlagen abhole, bringt mich die zweite zugesandte Freikarte, der Regiopass, mit dem Bus nach Sertig Dörfli. Tönt doch so richtig schweizerisch. Richtig; Dörfli sowieso und Sertig auch, denn es wird nicht deutscher Artikulation folgend ausgesprochen, sondern mit betontem, langem i. Wer des Sprachrhythmustrainings nach Zvi Penner kundig ist, der blickt problemlos durch, für die anderen sei als Verständnishilfe das Wort „Delfin“ genannt. Endbetont, langes "i".
Bei schönstem Wetter inspiziere ich das mir unbekannte Terrain für den kommenden Tag. Eine kleine Wanderung zum Wasserfall, an welchem man nicht vorbeikommen wird, und dann weiter in Richtung Sertigpass ist mein Nachmittagsprogramm. Was ich sehe gefällt mir. Der erste Eindruck sagt mir, dass dieses Gelände meinen Vorlieben mehr entspricht als das Dischmatal. Und der Moment der Ruhe in der kleinen Kirche füllt die Speicher der anderen Art für meinen ersten Ultra seit bald zehn Monaten.
Startnummernausgabe und Expo haben den Weg ins erneuerte Kongresszentrum gefunden, wo ich meine Unterlagen schnell in Empfang nehmen kann. Leider ist „mein“ Schuhhersteller nicht vertreten, ich hätte ihm gleich ein oder zwei Paar Reservereifen abgekauft. Dafür kann ich mich mit dem Chefredakteur treffen und Weiteres zu den Gedanken in Erfahrung bringen, die er an der Hornisgrinde unterwegs gewälzt hat. Spannend, sag ich nur…
An der Pressekonferenz staune ich ob der Leichtigkeit, mit welcher der Sieger der vergangenen fünf Austragungen die Sache angeht. Auf die Frage zu einem Mitkonkurrenten konnte er nur so viel sagen, als dass er den guten Mann nicht kenne. Mich erinnert Jonas Buud ein wenig an Forrest Gump. Er läuft einfach los – und gewinnt. Natural Running eben.
Auf dem Rückweg zu meiner Unterkunft blitzt es, kracht es und öffnen sich die Schleusen. Der Grund für meinen unruhigen bis ausbleibenden Schlaf ist aber ein anderer. Traue ich mir in Anbetracht der vielen fehlenden Trainingskilometer nicht zu viel zu? Schließlich möchte ich auf natürliche Weise ins Ziel kommen, nicht im Besenwagen. Natural Running eben.
Im Joseph’s House – der ursprüngliche Sankt im Namen wurde an der Fassade durch das Logo der Betreibergesellschaft ersetzt – gibt es ausnahmsweise schon um 05.30 Uhr Frühstück. Ein Relikt aus der Zeit, als dieses altehrwürdige Gebäude ein Sanatorium war? Angepriesen wurde die Institution damals nämlich so: „Aufgenommen werden erwachsene Kranke jeden Alters und jeder Konfession.“ Die „Kranken“ um mich herum machen allesamt einen fitten Eindruck. Natural Running eben.
Bei der Eishalle kehre ich nochmals zurück zum bereits abgegebenen Kleiderbeutel und entledige mich meiner Uhr. Das Ding will ich nicht, brauche ich nicht. Natural Running eben.
Es bleibt mir zwar nicht mehr viel Zeit bis zum Start, doch sputen muss ich mich erst, wenn Vangelis zur Eroberung des Paradieses aufruft. Wenn ich jetzt die Augen schließen würde, könnte ich locker einschlafen. Das wäre der falsche Zeitpunkt aber ein gutes Zeichen, dass ich mittlerweile ganz entspannt bin.
Die Wettkampfuhr signalisiert mir, dass ich über drei Minuten nach den Favoriten die Startlinie überquere. Spielt das eine Rolle? Nein, denn erstens wird mit dem Champion Chip die Zeit gemessen und zweitens will ich nach Gefühl laufen.
Auf der langen Schlaufe durch den Ort habe ich genügend Platz um mich herum, komme langsam auf Betriebstemperatur, treffe Bekannte und halte da und dort ein Schwätzchen. Alles auf Asphalt und trotzdem ist es für mich Natural Running. Irgendwann bemerke ich, dass wir die Talseite gar nicht wie früher gewechselt haben und immer noch auf der Straße laufen. Ob ich lieber auf Naturpfaden laufen würde? Gegenfrage: „Laufst du gerne im Gedränge?“