Schuld sind immer die Anderen. In diesem Falle unter anderem der Arbeitskollege, der um die Wende herum von seinen Lauferlebnissen schwärmte. Den ultimativen Status nahm dabei der Swissalpine ein. Damals ging er über 67 Kilometer und auch das war für mich jenseits der Grenze meines Vorstellungsvermögens. Trotzdem blieb tief in mir der Wunsch, auch einmal zu einer solchen Laufleistung fähig zu sein.
Mitte der Neunziger begann ich mit dem regelmäßigen Laufen und weitere dreizehn Jahre später war ich so weit, dass ich mich erstmals an eine Distanz über den Marathon hinaus wagen wollte. Da war es naheliegend, dies in Davos zu tun, gewissermaßen als Erfüllung dieses lange geheimen Wunsches tief in mir.
Zu diesem Zeitpunkt begann auch meine Mitarbeit bei Marathon4you und am Vorabend des Starts lernte ich Klaus und Margot persönlich kennen. Dass ich den K78 dann auch in einer für mich heute unvorstellbaren Zeit ins Ziel brachte – der Schritt zum Ultra also überfällig gewesen war - trug ebenfalls dazu bei, diesem Laufanlass einen besonderen Stellenwert in meiner Vita zu geben.
In diesem Jahr steht die 30. Austragung des Swissalpine an, ein Grund mehr, nach zwei Jahren Unterbruch wieder an den Start zu gehen. Mit all den positiven Erlebnissen und Emotionen im Hintergrund erhoffe ich mir einen erfolgreichen Wiedereinstieg in die Welt des Ultra-Laufens. Die organisatorischen Rahmenbedingungen geben mir diesbezüglich ein gutes Gefühl.
Am späteren Freitagnachmittag reise ich mit der Bahn an. Das im Startgeld inbegriffene Swissticket übersteigt je nach Ausgangspunkt den Gegenwert. Bei der Startnummernausgabe gibt es darüber hinaus zum Jubiläum ein Geschenk in Form eines Duschtuches. Wer länger in Davos verweilt, kann mit dem ebenfalls abgegebenen Regio-Ticket während mehrerer Tage die Umgebung erkunden. Dass trotz des teuren Frankens das Preis-Leistungs-Verhältnis offenbar stimmt, zeigt ein Blick in die Starterliste, die Teilnehmer aus aller Herren Länder präsentiert.
Für ein Segment des Sommertourismus hat der Swissalpine offenbar einen wichtigen Stellenwert; angeblich sollen einige Hostels ihre Sommerpause nur für diesen Anlass unterbrechen. Auch in meiner Unterkunft tragen fast alle Gäste läuferische Insignien und Frühstück gibt es am Samstag bereits um 5.00 Uhr.
Mit dem Vorteil, in unmittelbarer Nachbarschaft des Sportzentrums zu nächtigen, kann ich mich nach zwei gepflegten Boxenstopps in den eigenen vier Wänden zwanzig Minuten vor dem großen Moment ins Startgelände begeben. Ganz entspannt sehe ich dem neuen Abenteuer entgegen und treffe noch alte Bekannte bevor es losgeht.
Traditionellerweise wird die Eroberung des Paradieses musikalisch angekündigt und dann strömt die Maße los. Reto und ich überqueren als letzte die Startlinie. Ich bin gespannt, ob und wann ich den Champion Chip in umgekehrter Richtung wieder über die Zeitmessmatten hieve.
Zuerst gibt es eine große Schlaufe auf breiter Straße durch Davos-Platz, Zeit und Platz genug für das Feld, sich zu sortieren. Trotz Wohlfühltempo ziehe ich aus der hintersten Reihe schon an einigen Teilnehmern vorbei, doch schon nach drei Kilometern melden die Sensoren Darmprobleme. Alle Ablenkungsversuche, indem ich Zuschauer abklatsche oder meine Aufmerksamkeit auf sonstige Dinge auf und neben der Strecke richte, bleiben erfolglos. Die Schläge im Gefälle zum Bahnhof hinunter machen die Beschwerden immer akuter. In der Haarnadelkurve hinunter zur Bahnunterführung erkläre ich dem Streckenposten kurz, warum ich die Strecke verlasse, sprinte zum Bahnhofgebäude und rette mich auf die Toilette.
In der Hoffnung, dass es das nun war, sprinte ich zurück zur Kurve, wo hinter dem letzten Läufer bereits die Absperrbänder entfernt werden. Zum Glück habe ich das Verdikt „Zurück auf Feld eins“ als Kind beim „Leiterlispiel“ zu akzeptieren und nicht gleich die Würfel wegzuwerfen gelernt.
Beim Verlassen des Talgrundes, bei der ersten nennenswerten Steigung, bin ich wieder von mehr Läufern umgeben und freue mich auf die nun folgenden vorwiegend unasphaltierten Pfade. Etwa acht Kilometer in sanftem Auf und Ab, hauptsächlich im Wald, stehen bevor. Unterbrochen durch den Hotspot Spina, wo in diesem Jahr besonderes Glockengeläut zum Jubiläum erklingt. An einer langen Stange in einem blumengeschmückten Unterstand hängt eine ganze Reihe Kuhglocken, welche wie von Geisterhand bewegt bimmeln. Die Geisterhand steht ein paar Meter schräg über dem Schopf und hält ein Tau in der Hand, mit welchem sie besagte Stange rhythmisch in Schwingung behält.
Es geht weiter im Nadelwald und dann steht plötzlich ein markanter Orientierungspunkt im Blickfeld: Die Kirche von Monstein, genauer gesagt die neue Kirche, errichtet vor knapp 120 Jahren im damals modernen Jugendstil. Nicht, dass die Monsteiner vorher noch keine eigene Kirche gehabt hätten; der alten wurde nur zu viel zugemutet. Die im Jahre 1885 neu eingebrachten Glocken waren etwas überdimensioniert und haben die Struktur des alten Sakralbaus arg beschädigt.
Welche Lehre ziehe ich daraus? Nicht zu viel wollen, sondern kontrolliert die kommenden 60 Kilometer angehen. Bei der Verpflegungsstelle halte ich mich an Bouillon (ich würde heute sogar auf Monsteiner Bier verzichten, sofern solches angeboten würde) und versuche, mich vom folgenden Gefälle nicht zu schneller Gangart verleiten zu lassen.
Am Talboden angekommen, wird man über das Gleis der Rhätischen Bahn gelotst. Schmelzboden, so heißt dieser Ort, ist der dem Dorf Monstein seinerzeit zugedachte Bahnhof. Wie weit und ansteigend der Heimweg dann noch ist, erschließt sich jedem, der eben ohne Gepäck hier runtergebrettert ist. Der Name Schmelzboden und der Wegweiser zum Bergbaumuseum sind genügend Hinweise, was hier mal Sache war.
Der nun folgende Streckenabschnitt tut es mir jedes Mal wieder an. Die Zügenschlucht in der Sonne zu belaufen, ist für mich besonders schön. Während die unbefestigte Straße immer auf praktisch gleicher Höhe ist, wird die Schlucht selbst immer tiefer. Ich freue mich auch auf das Verlassen der alten Zügenstraße, wenn ein Single Trail uns bis zum Bahnhof Wiesen führt. Zum Glück bin ich nicht in Eile, denn es kündigt sich ein Zug an, was bedeutet, dass die Schranke geschlossen sein wird. Ein Grund mehr, es am Verpflegungsposten gemütlich zu nehmen. Zudem muss ich noch den Akku der Kamera wechseln, bevor ich mich auf den höchsten Bahnviadukt im Bündnerland aufmache. Obwohl ich auch nach Jahren der Bergläufe immer noch nicht schwindelfrei bin, lasse ich es mir nicht nehmen, mir einen ausgiebigen Blick weit hinunter auf die Landwasser zu genehmigen.
Gleich nach dem Viadukt geht es wieder hinein in den Wald auf einen ansteigenden Wurzelpfad. So naturbelassen bleibt es bis zum Abstieg nach Filisur. Im Dorf ist die Streckenführung anders als ich es mir gewohnt bin. So ist es beim Swissalpine: Jedes Jahr gibt es Änderungen – manche werden dann aber wieder zurückgeändert… Eine tolle Neuerung zum Jubiläum ist der S42, bei welchem fast alle mir in der Startliste bekannten Läufer starten. Die Versuchung war groß, mir ebenfalls diesen Happen zu gönnen, doch schließlich hat die Entschlossenheit, endlich wieder einen Ultra laufen zu wollen, gesiegt.
Die K30-Läufer haben in Filisur fertig, es gibt nun bis auf weiteres nur noch ein paar blaue Startnummern der Staffelläufer. Auch sie bestreiten mit dieser Kategorie im Jubeljahr eine Premiere auf dem langen Kanten.
Die folgenden Kilometer hinein ins Albulatal sind jeweils eine mentale Herausforderung. Der minimale Anstieg bis Bellaluna ist mir zu viel zum Laufen und gibt mir gleichzeitig das Gefühl, dass man ziemlich schwach ist, wenn man ihn einfach nur geht. Nachher geht es auf einer für mich neuen Strecke hinauf nach Bergün. Vor drei Jahren hatte ich mich auf diesen Abschnitt eingestellt, ein Unwetter am Abend zuvor machte ihn dann unpassierbar und es hieß, auf die Passstraße auszuweichen. Wobei, ganz unbekannt sind mir diese Kilometer nicht. Vor zwei Jahren war ich hier beim Irontrail –allerdings in umgekehrter Richtung und mitten in der Nacht – unterwegs. Jetzt, bei Tag, ist der Aufstieg im sommerlich sonnigen Wald ein weiterer Höhepunkt des heutigen Tages.
Um zum Werkhof beim Dorfeingang zu gelangen, müssen wieder einige der erarbeiteten Höhenmeter abgebaut werden. Dort angekommen, kann auf den abgegebenen Dropbag zurückgegriffen und am Verpflegungsposten aufgetankt werden. Den Schlenker zum Gepäckdepot kann ich mir sparen. Ich habe wieder meinen kleinen Rucksack mit einer Regenjacke und dem Antidot für den hoffentlich nicht auftretenden Notfall dabei. Gegenüber früheren Jahren habe ich den Eindruck, dass ein höherer Prozentsatz der Teilnehmer mit kleinen Rucksäcken ausgerüstet ist. In Bezug auf die Versorgung mit Getränken und Verpflegung ist dies beim K78 sicher nicht nötig. Auf den ungefähr 12 Kilometern von Bergün bis zur Verpflegung an der Keschhütte sind weitere fünf Verpflegungsstellen eingerichtet. Für den Ultra-erprobten Läufer ist das schon fast Schlaraffenland.
Im Val Tuors, bevor dann in Chants der heftige Aufstieg zur Keschhütte beginnt, unterhalte ich mich mit Jürg, einem seit Jahrzehnten in den USA wohnhaften Schweizer, und bekomme ein paar Tipps zu mir theoretisch bekannten Ultraläufen in den USA. Was auch ihm bei dieser Veranstaltung auffällt, ist die teilweise fehlende Trail-Etiquette der Teilnehmer. Abfall wird auf den Boden geworfen und beim Überholen auf Single Trails muss es ein forsches „Achtung“ oder „Vorsicht“ von hinten tun.
Nach Chants, wo es so richtig steil wird, beginnt es mir so richtig zu gefallen. Die Serpentinen durch den immer lichter werdenden Wald und das immer noch schöne Wetter sind wichtige Zutaten, aber auch die Feststellung, dass es mit dem Atmen – wenn auch auf tieferem Niveau als früher – gut klappt und die Muskulatur in den Beinen trotz Trainingsrückstand gut mitmacht.
Und dann ist es auch schon so weit: die Keschhütte ist nach einer Wegbiegung erstmals sichtbar. Spätestens da habe ich kaum mehr Zweifel, dass ich es bei der Rückkehr auf die Ultradistanz packen werde.
Dem gestrengen medizinischen Kontrollblick halte ich stand und kann mich nach weiter Zufuhr von Bouillon und Alpin-Brötli weiter in Richtung Sertigpass aufmachen. Das Feld ist nicht sehr dicht und überholen und überholt werden für niemanden eine Plage.
Es dauert gefühlsmäßig gar nicht lange und schon bin ich zwischen dem oberen und dem unteren See, dem Lai da Ravais-ch-Sur und dem Lai da Ravais-ch-Suot, wo der Schlussaufstieg zum Sertigpass ansetzt. Mit dem Kulminationspunkt vor dem inneren Auge sind die zweihundert nahrhaften Höhenmeter gut zu schaffen. Wer nicht zum ersten Mal mitläuft weiß auch, was ihn dort erwartet: Eine gut ausgerüstete Verpflegungsstation (ich kann mir beim jungen Helfer eine Portion Risotto genehmigen), ein Massageteam und eine weitere gestrenge hippokratische Musterung.
Abgesehen von meinen aufgedunsenen Händen und den Rückenschmerzen geht es mir gut. Das mit den Händen ist kein seltenes Phänomen und fürs andere gibt es eine einfache Erklärung. Man muss schon ein besonderer Hornochse sein, wenn man meint, ein Pflasterstein-Verlegungs-Projekt im Hornbach-Stil sei die ideale Vorbereitung in den Tagen vor dem Swissalpine…
Aber lassen wir das. Ich bin froh, muss ich keinen der hier herumliegenden Steine anpacken, sondern nur darauf achten, dass ich beim Abstieg nach Sertig nicht an einem hängen bleibe. Der auf dieser Bergseite hängende Nebel versetzt mich nach all den Stunden im Sonnenschein in eine richtiggehend andere Welt.
Eine solche tut sich auch sonst (wieder) auf. Je länger ich talwärts trabe und je länger mein Körper diese Schläge entgegen nehmen muss, umso mehr beginnt sich meine Verdauung wieder bemerkbar zu machen und zu rebellieren. Ich versuche das, so gut es geht, zu ignorieren, doch das recht frische Wasser am Verpflegungsposten im Chüealptal tut das Seinige dazu. Beim nächsten ausgeschilderten Klo verlasse ich die Strecke und fühle mich fortan ein paar Ligen zurückversetzt. Ich kann nur noch gehen. Schon ein angedeuteter Laufschritt versetzt meine Gedärme in Wallungen und in Anbetracht der über der Baumgrenze nicht vorhandenen Büsche gehe ich kein Risiko ein. Von hier weg werde ich in der Folge auf den verbleibenden rund 13 Kilometern gnadenlos versägt.
Während der durchschnittliche Läufer sich in Sertig Dörfli links hält und der Verpflegungsstation einen Besuch abstattet, gehe ich zur rechten Seite zum Wohnwagen der Samariter und lasse mir Imodium geben.
Gute zehn Kilometer liegen noch vor mir und an Laufen ist nicht mehr zu denken. Immerhin habe ich trotzdem realistische Chancen, das Ziel rechtzeitig zu erreichen. Der auf diesen Kilometern nun einsetzende Regen ist der zu meiner momentanen Stimmung passende Begleiter. Auf dem leicht ansteigenden Wurzelpfad im Wald ist mir das ziemlich egal. Wie wenn sich nun noch mehr gegen mich verschworen hätte, beginnt es just dann sintflutartig zu regnen, als der Weg aus dem Wald hinaus auf die Straße in Richtung Clavadel führt.
Es sind keine fünf Kilometer mehr nach dem letzten Becher Cola bis ins Ziel. In der jetzigen Situation reines Pflichtprogramm, das ich aber gerne in Kauf nehme. Dem Erlebnis, in den Bergen bei bis fast zum Schluss schönem Wetter gewesen sein zu dürfen und wieder einen Ultra einzutüten, tut das keinen Abbruch. Ich habe auch nicht das Gefühl, auf dem letzten Kilometer nochmals einen Laufschritt auspacken zu müssen. Hier bin ich, hier gehe ich. Trotzdem gelingt mir kaum noch ein brauchbares Foto. Es ist schon zu dunkel und meine Hand zu aufgedunsen und zu unruhig.
Dass ich auf das Bleifreie nach dem Zieleinlauf verzichte, spricht Bände. Ich lasse mir die Jubiläumsmedaille umhängen und das Finisher-Shirt aushändigen (aus satt gewebter Baumwolle) und dann im Sportzentrum einen Teller Pommes und eine Cola servieren. Dann mache ich mich, mittlerweile völlig durchfroren, auf den glücklicherweise kurzen Rückweg zu meinem Hostel und einer heißen Dusche.
Seinerzeit als Einstieg, heute als Wiedereinstieg, ich bleibe dabei: Wer einmal Ultra-Luft jenseits flacher Asphaltpisten schnuppern will, der ist beim K78 an der richtigen Adresse.
K78 Männer
1 Glyva, Evgenii (UKR) 06:31:51
2 Tsyganov, Dimitri (RUS) 06:37:47
3 Armstrong, Vajin (NZL) 06:38:34
K78 Frauen
1 Nunige, Jasmin (SUI) 06:52:21
2 Huser, Andrea (SUI) 07:27:41
3 Staicu, Simona (HUN) 07:48:03
994 Finisher K78
K42 Männer
1 Wenk, Stephan (SUI) 03:33:52
2 Lustenberger, Martin (SUI) 03:37:00
3 Gehring, Lukas (SUI) 03:53:56
K42 Frauen
1 Cheridito, Cathrin (SUI) 04:33:23
2 Haefeli, Yvonne (SUI) 04:41:52
3 Prof. Dr. Blumenthal, Evelyne (SUI) 04:51:01
671 Finisher K42
S42 Männer
1 Heim, Alexander (GER) 03:47:17
2 Øvre-Helland, Sondre (NOR) 03:50:27
3 Pulfer, Stefan (SUI) 03:52:52
S42 Frauen
1 Poltéra, Ornella (SUI) 04:17:11
2 Josi, Eliane (SUI) 04:26:11
3 Schmid, Luzia (SUI) 04:27:53
943 Finisher S42