Am vergangenen Sonntag habe ich berichtet, wie ich beim Zisterzienserstift in Mehrerau nur Einkehr gehalten habe, um mich um meine körperlichen Bedürfnisse zu kümmern. Eine zweite Chance, dem spirituellen Aspekt mehr Raum zu geben, bietet sich mir in St. Maurice, im Unterwallis, wo in einem besonderen Rahmen ein Lauf über verschiedene Distanzen angeboten wird.
Wer ohne irgendwelchen Transfer wieder an den Ausgangsort zurückkehren will, entscheidet sich für alle sieben Etappen. Ehrensache, dass ich den ganzen Défi du Jubilé in Angriff nehmen und dabei 68 Kilometer und gut 2000 Höhenmeter überwinden werde.
Wie in einer meiner Sprachlektionen beim Trail de l’Absinthe schon einmal ausgeführt, heißt Défi ganz schlicht Herausforderung. Neu kommt jetzt noch „du jubilé“ hinzu, macht zusammen: Herausforderung zum Jubiläum. Zu welchem? In fünf Jahren feiert die Abbaye de St. Maurice ihren 1500sten Geburtstag.
Acaunus (Saint-Maurice) liegt gleich vor dem Engpass der Rhone, an einer steilen Felswand. Die als Thebäer bezeichneten Legionäre erlitten hier für ihren christlichen Glauben den Bluttod. Das Gedächtnis an diese mutige Tat machte aus dem Grab und dem 515 erbauten Kloster einen wichtigen Mittelpunkt abendländischer Märtyrerverehrung. Merowinger, Karolinger, Burgunder, Savoyer und selbst Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation suchten hier christliche und sogar politische Kräfte.
Über dem Grab der Thebäer baute Bischof Theodor von Octodurum (Martigny) im 4. Jahrhundert das erste Gotteshaus, welchem im 5. Jahrhundert eine Wallfahrtskirche folgte. Der Burgunderkönig Sigismund errichtete 515 eine größere Basilika und rief einige Gruppen Mönche in seine Stiftung mit der Aufgabe, sie möchten das ununterbrochene Chorgebet zum Lob der Märtyrer sichern. Im Verlauf der Jahrhunderte erforderten Steinschlag, Feuersbrunst und Kriegsschäden immer wieder den Bau neuer Kirchen.
Vor bald zwanzig Jahren entstand die Idee für die „Chemins bibliques“ im Distrikt Saint Maurice. Aufgeteilt auf vier unterschiedlich lange Etappen werden10 Ortschaften durch insgesamt 68 km Wege verbunden. Tafeln zu biblischen und archäologischen Themen und Ausstellungen laden zum Verweilen ein. Die Botschaft der Bibel soll auf ganzheitliche Weise erfahren werden, wobei man sich selbst und den Fragen des Lebens in großartiger Natur näher kommt. Auf die Frage „wohin?“ eine Antwort zu finden, ist sicherlich einfacher, wenn man über das Woher Bescheid weiß. Dazu, über das Leben in dieser Region, wird ebenfalls reichlich Information geboten.
Im Hinblick auf das besondere Jubiläum wird auf diesem Rundkurs zum fünften Mal der Défi ausgetragen. Wem das Wandern nicht ausreicht, kann die ganze Strecke als Läufer in Angriff nehmen und so an der Balance von körperlicher, seelischer und geistiger Gesundheit arbeiten.
Weil der Start schon früh am Morgen und die Anreise lang ist, fahre ich schon am Freitagabend nach Saint-Maurice. Für einen kleinen Unkostenbeitrag wird eine Übernachtung in einem Schlafsaal des zur Abtei gehörenden Collège angeboten. Aus technischen Gründen müssen wir aber in ein Gästehaus ausweichen, wo ich den Luxus eines Einzelzimmers erhalte.
Mit den vier Französisch sprechenden Läufern, welche zur gleichen Zeit die Zimmer beziehen, mache ich mich auf die Suche nach einem Restaurant. Ihre Vorabenddiät ist nicht kompatibel mit Lehrbuchmeinungen, was auch verwunderlich wäre. Ihre Erzählungen von gemeinsamen Lauferlebnissen zeichnet sie als Genussläufer aus, Joe hätte seine helle Freude an ihnen, und gäbe es diese Schilderungen in schriftlicher Form, würden sich manche Leser genauso vor Lachen krümmen wie ich es vor meinen asketisch anmutenden Tagliatelle à la Crème tue. Mir gefällt’s.
Es ist das erste Mal, dass ich mein Marathonfrühstück in einem Refektorium einnehmen darf. Läufe werden also nie zur Routine, es gibt immer wieder etwas Neues zu entdecken.
Bei der Startnummernausgabe liegt die Streckenbeschreibung mit Karte und Profil aus und nebenan in der Turnhalle gibt es zwanzig Minuten vor dem Start ein kurzes Briefing. Die Ausschreibung besagt, dass dieses „pas à pas“ und die gesamte Verpflegung mitgeführt werden müssen. Dieser Ultra ist als „course en autonomie“ deklariert. Zum Glück ist die Wettervorhersage gut und geht es nur auf 1300 Meter hinauf. So kann ich in Sachen Kleidung meinen auch sonst gut gefüllten Rucksack entlasten.
Nach ein paar besinnlichen Begrüßungsworten Worten des Abts, Père-abbé Joseph Roduit, werden wir um 07.30 Uhr aus dem Hof von Collège und Abtei auf die Strecke gelassen.
Ein kurzes Stück geht es entlang der Straße in Richtung Massongex, vorbei an dem an der strategisch wichtigen Verengung des Rhonetals thronenden Schloss der Gouverneure und dem Zugang zur Feengrotte. Sie ist die erste öffentlich für Touristen zugängliche Grotte der Schweiz. Seit ihrer Entdeckung im Jahre 1863 staunen die Besucher über dieses Kunstwerk der Natur, ein vom Wasser in unzähligen Windungen ins Gestein gegrabener Gang. Nach 63 Krümmungen taucht nach 1000 Metern am Ende des Höhlenganges ein 50 Meter hoher Wasserfall auf.
Massongex wird im kommenden Jahr wieder einen Platz in der Liste der Lauftermine besetzen. Anknüpfend an den während fast vierzig Jahren ausgetragenen Marathon des Dents-du-Midi wird am 18. September 2011 zum 1. Trail des Dents-du-Midi geladen. 4700 Höhenmeter, verteilt auf 60 km. Tönt doch gut?
Wir bleiben überirdisch, verlassen die Straße und setzen nach einem Kilometer zum Anstieg an. Dieser führt bald schon durch einen Tunnel, anschließend weiter durch den Wald hoch nach Daviaz und weiter nach Vérossaz. Dabei hat man schon bald die Ostflanke der Dents- du-Midi im Blick, die Cime de l’est. Auf der gegenüberliegenden Seite des Rhonetals ist ein anderer „Zahn“ zu sehen, der Dent de Morcles. Nicht nur wegen dieser „Zähne“ genannten Berge handelt es sich beim Défi nicht um einen zahnlosen Lauf. Nach der ersten Durchgangskontrolle unweit der Kirche von Vérossaz kommt allerdings bereits wieder ein Gegenbeweis. Der Kontrollposten selbst ist ein Beispiel für Tiefstapelei. Ich reibe mir die Augen, was uns autonomen Läufern da nach diesen ersten sieben Kilometern alles zur Verpflegung angeboten wird.