Es geht weiter hoch, zuerst auf gut zu belaufender Straße und Wirtschaftswegen, dann nach einer kurzen Gefällstrecke auf Trailpfaden hoch. Zuvor bietet sich mir ein unvergleichlich schöner Blick den Taleinschnitt hoch. Im Vordergrund Wasser, an den Abhängen bunt gefärbte Bäume und dahinter erhebt sich stolz die Cime de l’est. „Das wird es“, denke ich und werfe meine Kamera an. Der Versuch, auf der veralgten Holzbrücke zu stoppen, geht nicht in, sondern auf die Hose. Wie auf einem Stück blanken Eises haut es mich um. Da nichts schmerzt und ich mich nur erschrocken habe, stehe ich gleich auf und versuche, das anvisierte Motiv in den Sucher zu nehmen. Darin erkenne ich nur Unschärfe, was mich stutzig macht. Ein Blick auf die andere Seite der Kamera zeigt mir dann weshalb. Das Objektiv ist periskopisch verbogen und lässt keine Schärfeeinstellung mehr zu. Auf den folgenden mehr als drei Trailkilometern bis Mex versuche ich mit verschwitzten Händen, allen erdenklichen Kniffen und grobmechanischen Eingriffen mit Feingefühl mein optisches Gedächtnis wieder zum Mittun zu bringen. In dem kleinen Dorf gibt es wieder einen Kontroll- und, siehe da, Verpflegungsposten.
Die eben gewonnenen 800 Höhenmeter werden jetzt wieder abgebaut. Auf dem teilweise abschüssigen Pfad mit losem Gestein ist es nicht immer einfach, die Traktion halten zu können. Kurz bevor Dieter an einem kleinen Gehölz eine Bremsung einschaltet, kann ich ihn noch ablichten. Immerhin, Weitwinkelaufnahmen kann ich mit der Kamera wieder machen und die Hoffnung habe ich nicht aufgegeben, dass sich da noch mehr machen lässt. Meine Aufmerksamkeit gilt vorerst aber dem Untergrund. Ein verbogenes Objektiv reicht mir, ich möchte mir nicht auch noch etwas verbiegen.
Zusammen mit Dieter komme ich auf dem Grund des Rhonetals an und steuere mit ihm zusammen den dritten Kontrollposten bei der Kirche von Evionnaz. Es verwundert mich inzwischen nicht mehr, dass auch da ein großzügiges Angebot an Getränken und Essen auf uns wartet. Auch nicht, dass ich bisher noch nie daran gedacht habe, die Wegbeschreibung hervorzunehmen, denn die Strecke ist mit Schildern und Flatterbändern vorbildlich markiert.
Über 50 Kilometer liegen noch vor uns, die mit der geringsten Attraktivität folgen gleich im Anschluss. Der Abschnitt der Hauptstraße entlang – bei vielen Marathons das Standardprogramm – ist hier die Ausnahme. Wenn man dabei zu Zweit unterwegs ist, kann man sich beim Gespräch davon ablenken. Das machen Dieter und ich und bleiben in der Folge bis ins Ziel zusammen.
Bei Verneyaz kommen wir zum beeindruckenden 114m hohen Pissevache-Wasserfall. Ich habe nicht näher recherchiert, doch mein Rückschluss, das der Name aus zwei Nomen zusammengesetzt sei, ergibt die Feststellung, dass Kuhpisse ein recht derber Name für diese Naturschönheit sei.
"Endlich traten wir vor den Wasserfall, der seinen Ruhm vor vielen anderen verdient. In ziemlicher Höhe schießt aus einer Felskluft ein starker Bach flammend herunter in ein Becken, wo er in Staub und Schaum sich weit und breit im Wind herumtreibt ... Wir kletterten daran herum, setzten uns dabei nieder und wünschten ganze Tage und Stunden des Lebens dabei zubringen zu können."
Nein, das war nicht Steiner, das schrieb Goethe im Jahre 1779 zu diesem Wasserfall. Ich nehme mir keine Zeit zum Niedersetzen, denn es wartet der nächste Anstieg bis Salvan. Auf einem Serpentinenweg winden wir uns zu diesem vierten Kontrollpunkt bei Km 27, an welchem wir auch wieder fürstlich verpflegt werden. Den Prophetengarten im Ort spare ich mir für einen Wanderausflug auf. Mit nunmehr leichter Steigung geht es weiter nach Marécottes und seinem Wildpark und dann nach Trétien, wo der Anstieg wieder knackiger wird.
Vermutlich ist es das letzte Mal in diesem Jahr, dass ich im Wald die Sonne riechen kann. Ihre Kraft und Wärme reichen gerade noch, um das Harz so viel von seinem Duft verströmen zu lassen, dass dieser Wohlgeruch sich in meiner Nase ausbreiten kann. Wieder einmal komme ich mir vor wie Frederick in Leo Lionnis berühmtem Bilderbuch. An der Talflanke bade ich in der in der Herbstsonne leuchtenden Farbpalette der Wälder. Wie die kleine Maus Frederick sammle ich Vorräte an Sonnenstrahlen für die kalten Wintertage und Farben gegen das Grau der nächsten Jahreszeit.
Verschiedene ältere Häuser, nicht zuletzt das offensichtlich leer stehende Hotel Bristol zeugen davon, dass diese Region einmal eine wichtige touristische Funktion erfüllte. Der Reiseveranstalter Thomas Cook führte auf seinen ersten organisierten Reisen Englische Touristen auf dem Weg vom Berner Oberland nach Chamonix hierher. Vom Bauboom, welcher viele andere Destinationen im Wallis überfahren hat, blieb diese Gegend in den vergangenen fünfzig Jahren verschont und konnte so seine Ursprünglichkeit bewahren. Nicht die Spuren der touristischen, sondern die von echten Dinosauriern gibt es oben in der Talmulde von Vieux-Emosson. Zu sehen sind diese im August 1976 entdeckten Fußabdrücke nur im Sommer, den Rest des Jahres liegen sie unter Schnee versteckt.
Bei der Kirche von Finhaut ist der fünfte Kontrollposten, welchem wieder ein extensives Buffet angegliedert ist. Käseplatte mit Brot und hauchdünn geschnittenem Walliser Trockenfleisch der Extraklasse, Kuchen, Kekse, und, und, und…. Dieter und ich kennen keine Eile und nehmen uns richtig Zeit, um Körper und Geist auf die zweite Hälfte des Défi vorzubereiten.
Danach geht es in die Schlucht der Trient hinunter. 300 Höhenmeter auf der einen und gleich viel mit umgekehrtem Vorzeichen auf der anderen Seite sind zu bewältigen, wobei der Abstieg auf kurzer Distanz, entsprechend sehr steil verläuft. Je tiefer ich in die Schlucht vordringe umso mehr nehmen die Bilder, welche ich beim Lesen der Chroniken von Narnia jeweils vor Augen habe, hier Gestalt an. Zuerst sind es einzig die Muskeln mit ihrem Ziehen, welche ein völliges Verwischen von Traum und Realität verhindern, später auf der steilen Lärchenholz-Treppe des „Sentier des Gorges Mystérieuses de la Tête-Noire“ (Wanderweg der geheimnisvollen Schluchten von Tête-Noire) ist es eine unumgängliche Verschnaufpause, die mich in die körperliche Realität des Traillaufs holt. Einen Abstecher zur hiesigen Feen-Grotte muss ich auf einen anderen Zeitpunkt verschieben, aber auch von unserem Weg aus ist allein das Rauschen tief unten eindrucksvoll.
Nach dem Aufstieg folgt der Weg einen Kilometer der Hauptstraße entlang, welche Martigny mit Chamonix verbindet. Eine Brücke ermöglicht den Wechsel zur rechten Talseite, womit wir uns auf dem Rückweg befinden. Auf dieser Talseite erinnert uns Vieles an den ersten Tag des Gondo Events, wenn man sich das durch langgezogene Nanztal dem Rhonetal hin zubewegt. Bevor das Gefälle zunimmt, gibt es bei einem schmucken Weiler nochmals Verpflegung. Die Helfer bereiten für sich Raclette zu und würden auch uns davon abtreten – und wie im Wallis üblich nicht ohne ein paar Tropfen heimischen Rebensafts. Das spare ich mir gerne fürs Ziel auf und fülle die Trinkblase mit quellfrischem Wasser, ein Luxus, den es nur aus einer solchen Brunnenröhre zu haben gibt.
Auf diesem Abschnitt begegnen wir auch immer wieder Wanderern mit Startnummern, teilweise ganze Familien, welche einen Teilabschnitt des Défi zurücklegen. Ein steiniger Pfad führt nach 50 Kilometern die steile Talflanke zum Rhonetal hinunter. Nun sind wir wieder in Vernayaz, diesmal kommen wir aber durch das Dorf hindurch. Zuerst geht es am Eingang der Trientschlucht vorbei. Am Grund dieses Einschnitts von mehreren hundert Metern fließt der Gletscherfluss Trient der Rhone entgegen. In 200 m Höhe wird er von zwei der höchsten Brücken Europas überspannt. Wenn ich mir dieses Schauspiel (gegen Eintritt) ansehen will, muss ich im kommenden Jahr wiederkommen. Der Zugang ist nur von Mai bis September geöffnet.