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13.10.12 - Défi du Jubilé

Meditatives Leiden

Der französische Spinnenmann Alain Robert hat am vergangenen Freitagabend zum ersten Mal in der Schweiz die Zuschauer mit seinem Können verblüfft. Ausgerechnet da, wo ich heute die Startnummer für einen weiteren Ultra abhole. Der Freikletterer erklomm in rund 20 Minuten mit bloßen Händen den 49 Meter hohen Glockenturm der Abtei Saint-Maurice im Wallis. Ich werde morgen beim D+ (Défi+ = Herausforderung plus) 2500 Höhenmeter mehr zu überwinden haben, doch die sind auf 71 Kilometer verteilt.

Es ist schon das dritte Mal in Folge, dass ich in St. Maurice bei den Défis du Jubilé antrete. So verweise ich für zusätzliche Informationen auf die letzten Berichte und beschränke mich dieses Jahr auf die Änderungen, welche an der Strecke vorgenommen wurden und welche Wirkung der Anlass diesmal auf mich hat.

Mit der zunehmenden Zahl Deutschsprachiger, die ins Wallis fahren, nimmt auch die Chance zu, am Vorabend nicht alleine zum Essen gehen zu müssen. In der illustren Gesellschaft einer Spartathlon-Finisherin, einer Schweizer Vizemeisterin im 100km-Lauf, des Laufseniors „The Legend“ und weiterer Cracks sitze ich beim Portugiesen in der italienischen Pizzeria und versuche mich als Übersetzer ins Französische.

 
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Das Bett in der Einzelbox im Schlafsaal ist bequem, doch das Schnarchen und andere Geräusche liegen mir in den Ohren und das Nachtessen auf dem Magen.  Da macht es mir nichts aus, dass es schon um 05.45 Uhr Frühstück und bald danach das Streckenbriefing (auch auf Deutsch) gibt. Mit besinnlichen Worten des Abts und seinem Wunsch, dass unsere Bemühungen unserer Gesundheit gut tun, werden wir um  07.00 Uhr auf die Strecke gelassen.

Gleich zu Beginn ist die Streckenführung wegen Steinschlaggefahr geändert. Nach 300 Metern geht es bereits steil hoch. Es ist noch dunkel, der schmale Weg stellenweise sehr  aufgeweicht und rutschig, doch mir gefällt auch diese Variante.

Ebenfalls neu sind in diesem Jahr die Schautafeln entlang der Strecke. Ihr Thema sind die Tiere in der Schöpfung, illustriert sind sie mit Ausschnitten  aus einem fünf Meter langen Gemälde. Das genaue Studieren der einzelnen Tafeln muss ich auf ein anderes Mal verschieben, sie sind zu ausführlich, als dass sie mit meinem Laufprogramm kompatibel wären.

 
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Je länger ich unterwegs bin, umso mehr zeigt sich die Sonne. Aber auch die guten äußeren Bedingungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich in der rechten Wade eine Verhärtung spüre. Wenn ich Vorfuß laufe und besonders von Mex wieder hinunter ins Rhonetal spüre ich nichts, doch beim Loslaufen nach dem dritten Verpflegungsposten – ja, die gibt es, obwohl der Lauf offiziell in Selbstautonomie stattfindet – ist das komische Gefühl nicht nur einfach störend, sondern auch leicht schmerzhaft. Der Regenbogen vor dem Wasserfall „Pissevache“ lässt mich Hoffnung schöpfen, doch die Ernüchterung folgt in einer der Serpentinen hoch nach Salvan. Ein stechender Schmerz durchzuckt das Bein und ich habe das Gefühl, dass ich keinen Schritt mehr gehen kann. Nach einer Pause versuche ich es nochmals und finde heraus, wie ich gehen und laufen muss, damit es irgendwie geht und läuft. Immerhin sieht es so aus, dass ich in Salvan noch nicht aufgeben muss.

 
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In Anbetracht der muskulären Beeinträchtigung beschließe ich nach dem Verpflegungsposten, bereits jetzt den MP3-Player zu starten und mich mit musikalischer Meditation abzulenken. Jedoch nicht ohne vorher noch die geänderte Strecke durch das Dorf hindurch – auch das eine weitere Aufwertung – bewusst zu erleben. Dann ist Johnny Cash’s  Spätwerk auf der Abspielliste, American Recordings und Unearthed. Bald schon kommt folgendes, passendes Lied:

„Das Tier in mir
wird von schwachen und zerbrechlichen Stäben im Käfig festgehalten
Ruhelos am Tag
Und in der Nacht schimpft und wütet es die Sterne an
Gott helfe dem Tier in mir

Das Tier in mir
musste lernen, mit Schmerzen zu leben
Und wie sich vor dem Regen zu schützen
Und im Handumdrehen
muss es möglicherweise zurückgehalten werden
Gott helfe dem Tier in mir…“   (Nick Lowe)

Ich lasse das Tier in mir gewähren, ziehe weiter und übe mich in der wichtigsten Komponente des Ultralaufs, dem Durchhalten. Belohnt werde ich durch das warme Herbstlicht. Das Laub leuchtet und strahlt in allen Farben und Schattierungen und so tun es meine Augen und mein Gesicht. Was mich zuvor am Weiterlaufen gehindert hat, ist nur noch eine kleine, leicht unangenehme  Randerscheinung auf meinem weiteren Weg über Trétien nach Finhaut. Mein Kopf sagt mir, dass ich es auf diese Weise sicher bis nach Vernayaz schaffen und damit immerhin den D6 beenden kann. Das sind dann doch auch schon 52km und rund 2000 Höhenmeter.

Der Weg von Finhaut hinunter in die Schlucht ist sehr anspruchsvoll, aber zu meinem Erstaunen kann ich ihn sehr zügig und praktisch schmerzfrei unter die Füße nehmen. Auf der anderen Seite strahlen offensichtlich die „gorges mystérieuses“, die mysteriösen Schluchten, etwas fest auf den Anstieg nach Tête Noir aus. Mein Kopf ist nicht schwarz, aber ob er rot oder weiß ist, weiß ich nicht. Dafür spüre ich, dass sich von einem Augenblick auf den anderen die Beine leer fühlen.

Ich ziehe mir ein Gel rein und singe stumm mit Johnny Cash das Lied “Help Me” von Larry Gatlin:

„Oh Herr, hilf mir eine weitere Meile zu gehen,
nur eine weitere Meile
Ich bin es müde, alleine zu gehen.

Und Herr, hilf mir zu lächeln.
Ein weiteres Lächeln, nur ein weiteres Lächeln.
Ich glaube nicht, dass ich die Dinge selbst hinkriege.

Nie zuvor dachte ich, dass ich Hilfe bräuchte;
dachte, ich könne mich selbst durchschlagen.
Doch jetzt weiß ich, dass ich es einfach nicht mehr verkrafte.
Und mit einen demütigen Herzen, auf den Knien,
flehe ich dich um Hilfe an….“

In meiner kleinen Welt leide ich und meditiere, während die Sonne und die schneebedeckten Berggipfel mehr und mehr von Wolken verschleiert werden.  Aber ich erhole mich erstaunlich schnell und kann den weiteren Weg auf der anderen Talseite der Trientschlucht entspannt und in Gedanken versunken weiterlaufen. Auch wenn ich viel schneller könnte, würde ich es zumindest stellenweise auf keinen Fall tun. Zwar verschleiern die Bäume und Sträucher, dass der Hang neben dem schmalen, unebenen Pfad fast senkrecht und eine dreistellige Meterzahl abfällt, doch ich gehe auf Nummer sicher, um nicht Gefahr zu laufen, in einer Kiste auf den „309“ geladen zu werden (wie es Johnny Cash in seinem Lied „Like The 309“ besingt, dem letzten, das er geschrieben hat).

Beim Weiler La Crêtaz gibt es wieder einen Verpflegungsposten und die Aussicht, dass es bis zu meinem revidierten Ziel nur noch sieben Kilometer sind, welche zudem fast ausschließlich Gefälle aufweisen.  Diese Art Muskelbelastung ist mein Vorteil, ich kann es praktisch ohne Beschwerden rollen lassen und mit der beruhigenden Natur um mich herum den Texten der Lieder folgen. Auf dem Flachstück ins Dorf hinein und zur Kirche meldet sich die Wade wieder zurück. Sie kann meinen Entscheid aber nicht mehr umstoßen: Bis hierher habe ich es geschafft, dann packe ich auch den Rest.

 
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Nach der Verpflegung im Kirchgemeindehaus schalte ich die Musik vorübergehend nicht mehr ein, sondern laufe mit Angela und unterhalte mich mit ihr. Während am Morgen der Wind noch talabwärts blies, kommt er nun wie gewohnt aus der Gegenrichtung. Wenig später bei Dorénaz muss ich – wie schon im vergangenen Jahr – im Tal unten bleiben und auf die zusätzliche drei Kilometer, gespickt mit 500 Höhenmetern, verzichten, welche aus dem D7 den D+ machen. Punktesammlern für den UTMB bedeutet dieser Umweg viel, nämlich zwei statt nur einen Qualifikationspunkt.

Ich bin froh, dass ich das flache Stück auf Asphalt nicht alleine laufen muss, das heißt, alleine würde ich es sicher gehen… Bei Collonges lasse ich Angela dann aber ziehen; ich weiß, dass mir das Laufen wieder einfacher fallen wird, sobald ich mich der Rhone entlang wieder auf Naturwegen befinde.

Die letzten Kilometer hinein nach Saint-Maurice kommen mir kürzer vor. Dass ich mich durchgebissen habe, gibt mir einen Energieschub für den Schluss. Nach etwas mehr als neun Stunden stehe ich im Ziel, mit Schuhen, Rucksack, Stöcken und dem ganzen Rest der Ausrüstung. Ein Teil von mir ist aber noch irgendwo da draußen in Gedanken versunken.

Nach der heißen Dusche löse ich noch meinen Gutschein für eine Portion Raclette ein, dann muss ich aufbrechen, denn im Emmental wartet schon die nächste Startnummer auf mich.

Auch im kommenden Jahr wird es an diesem Oktoberwochenende wieder eine Menge interessanter Veranstaltungen geben, doch ich habe die Ahnung, dass ich wieder hier auftauchen werde.

 

Informationen: Défi du Jubilé
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