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08.10.11 - Défi du Jubilé

Mit (De)Mut voran

Patrick Makaus Weltrekordlauf in Berlin konnte ich gerade noch die letzten fünf Minuten vor dem Fernseher verfolgen. Der Redeschwall des Kommentators wurde erst vom Interview mit dem Sieger unterbrochen und vorerst einmal gebremst. Die in den Formulierungen dieses Spitzenathleten spürbare Demut hat ihm beinahe die Sprache verschlagen.

Obwohl ich wirklich dankbar bin für das Vorrecht, seit langer Zeit praktisch verletzungsfrei an so vielen Laufveranstaltungen teilnehmen zu können, nahm ich es mittlerweile fast als gegeben, dass ich aus dem Stand locker einen Doppeldecker oder gar Ultra laufen und am nächsten Arbeitstag schwungvoll die Treppe hochsprinten konnte. Die langwierige Atemweginfektion, mit der ich mich herumschlagen musste und mir das erste DNF einbrockte, hat mir aufgezeigt, dass ein bisschen mehr De- und weniger Übermut nicht falsch ist.

Vor diesem Hintergrund ist es ganz passend, dass ich die schon lange geplante Herbstserie in der Abtei von St. Maurice beginne. Bevor wir auf die Strecke geschickt werden, richtet der Abt besinnliche Worte ans Läuferfeld.

Die Défis du Jubilé sind eine Palette an Herausforderungen und nicht ein Wettkampf im üblichen Sinn des Wortes. Der Teilnehmer wählt seine Distanz in Form einer persönlichen Herausforderung, nach Lust und Laune, entsprechend seiner Kondition und mit Bedacht – gemäß dem Motto:

Mit der Wahl der Strecke meistert jeder seine persönliche Herausforderung!

Zur Auswahl stehen acht Herausforderungen (Défis) von 7 bis 71 km mit 450 bis 2530 Höhenmetern. Die längste Strecke  (Défi+) wird in diesem Jahr erstmals angeboten und bietet drei zusätzliche Kilometer, welche mit 500 Höhenmetern gespickt sind und zwei Qualifikationspunkte für den UTMB geben. Fünf Zwischenstrecken ermöglichen es, die Tour auf mehrere Jahre aufzuteilen und die Urkunde nach Beendigung der ganzen Distanz zu erhalten. Seine gewählte Herausforderung zu schaffen ist wichtiger als die ermittelte Zeit innerhalb der großzügig bemessenen Zielzeit.

Dieses werde ich ziemlich sicher ausgiebig beanspruchen, zu groß ist mein Trainingsrückstand für andere Vorhaben. So mache ich mich also als einer der letzten Startenden auf den Weg, hinaus in den anbrechenden Morgen. Die dicken Wolken machen es ihm schwer sein Licht zu verbreiten, immerhin halten sie ihr Wasser zurück.

 
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Der erste Abschnitt auf der Straße ist lang genug, dass sich beim gleich darauf folgenden Anstieg auf dem unbefestigten Weg niemand in die Quere kommt. Die Schnellen sind weg, wir anderen kommen hinterher. Es ist ein gutes Gefühl, wieder im Läuferfeld eingereiht zu sein. Zu diesem Gefühl gesellt sich auch etwas Bange. Ist es Mut, dass ich trotz des Unterbruchs an meinem geplanten Programm festgehalten habe – oder Übermut?  Zu viel Gedanken muss ich mir nicht machen. Jeder zurückgelegte Abschnitt ist eine gewonnene Herausforderung, das ist die Philosophie dieser Laufveranstaltung.

Im Wald ist es noch so dunkel, dass das Eintreten in den kurzen  Tunnel keiner großen Umstellung der Augen bedarf. Etwas mehr Schwierigkeiten macht mir das Atmen. Nichts Gravierendes, einfach noch  nicht so, wie es bis im August war. Deshalb, und um meinen Gedanken nachhangen zu können, steht fest, dass ich heute ohne Gespräche, alleine, meine Kreise ziehen werde.

Es gehört zum Wesen der Défis, welche den „Chemins bibliques“ folgen, dass die Läufer in und durch die Dörfer geführt werden. In Vérossaz ist bei der Kirche der erste Kontroll- und Verpflegungsposten, an welchem ich gerne einen Becher warmen Tee entgegennehme, denn die Morgenfrische hat sich in der Zwischenzeit auch zu einer Morgennässe entwickelt. Mit Fotografieren wird es heute nicht so werden.

Ich gehe weiter und hänge meinen Gedanken nach. Die Schautafel am Wegrand mit dem Satz, dass wir Kinder Abrahams sind, führt zu Gedankensprüngen. Ja, so ist es doch, und wie in fast allen Familien gibt es Zwistigkeiten und Streit. Das ist der bessere Fall. Im anderen sind es Mord und Totschlag.  Über diesen gedanklichen Weg komme ich zu einem Lied aus John Hiatts neuem Album und dem bewegenden Video dazu: „When New York had her Heart broke“. Zehn Jahre ist es her und die Bilder von 9/11 sind immer noch in meinem Kopf  und ich meine, den Geruch, welcher noch Tage später über der ganzen Stadt lag, in dem Moment wieder in der Nase zu haben. Als ich damals zwischen den mit Staub bedeckten Fassaden in der Nähe von Ground Zero stand, beschlich mich erst eine kleine Ahnung, dass die wirtschaftlichen Folgen dieses Akts von Hass letztlich unserer Firma das Genick endgültig brechen würde. Lange hat es dann nicht gedauert und mein Leben auf den Kopf gestellt.

Zehn Jahre später laufe ich hier auf Wegen mit einer Menge Symbolik in Bezug auf die Erlebnisse, nachdem mein Leben so massiv umgekrempelt worden war. Der Pfad mit dem Auf und Ab wird noch schmaler als er schon war und der Hang, dem er sich entlangzieht, immer steiler. So steil, dass sich keine großen Bäume daran festkrallen können. Dafür weitet sich der Horizont, bekomme ich einen besseren Ausblick ins Tal, dessen Boden fast 800 Meter weiter unten liegt. An einer Stelle kommt über eine breite Strecke Wasser den Hang hinunter, doch es fließt über einen mächtigen Felsvorsprung, der den Weg und mich trocken hält. Geschützt, hinter dem Wasserfall und unter dem Felsen, so habe ich mich in diesen Zeiten immer wieder gefühlt. Ich liebe diese Bilder, welche mir im Nachhinein wieder ermöglichen, Durchlebtes mit Abstand, Staunen und Dankbarkeit zu reflektieren.

In Mex gibt es wieder einen Kontrollpunkt mit Verpflegung. Ich genehmige mir ein paar süße Kalorien in Form von Schokolade und nutze die gefühlte Auszeit des Regens nochmals für ein paar Bilder bevor ich den Abstieg ins Rhonetal beginne. Es fühlt sich so gut an, diesen Singletrail herunterzupreschen. Ich bin froh, dass ich vergangenes Jahr zahlreiche Fotos von der Strecke einfangen konnte, denn die Lichtverhältnisse und die Feuchtigkeit sind alles andere als geeignet, diese Aufgabe zur Zufriedenheit zu lösen.

An der Kapelle St-Barthélémy in La Rasse aus dem 17. Jahrhundert vorbei geht es weiter hinab ins Rhonetal, wo der Kirchturm von Évionnaz schon von weitem anzeigt, wo der nächste Kontrollpunkt ist. Wetterbedingt diesmal nicht vor der Kirche, sondern im Flur des Gemeindehauses gegenüber.

Am Dorfausgang führt der Weg an den Waldrand, weiter durch den Flecken La Balmaz und dann eine Weile der Kantonsstraße entlang bis nach Miéville. Ab dem Wasserkraftwerk beim Pissevache-Wasserfall wird es dann wieder rustikaler. Wie eindrücklich dass Wasser ins Tal stürzt, haben Goethe, Rousseau und Madame de Staël beschreiben, also kann ich getrost darauf verzichten. Was sie noch nicht wussten, kann ich dafür anfügen. Kletterfreunde finden in den Granitplatten und-pfeilern Routen bis in den 8. Grad. Für mich ist das nichts, ich bin nicht schwindelfrei. Doch schwindelig kann es einem auch beim folgenden Anstieg von Verneyaz nach Salvan werden. Auf sage und schreibe drei Dutzend Serpentinen schraubt sich der Weg hoch. Die Bahn Martigny-Châtelard (die nach Chamonix weiterführt) nimmt eine weitaus weniger direkte Linie und ist trotzdem auf Zahnradunterstützung angewiesen. Ich bewege mich im reinen Adhäsionsbetrieb und habe immer wieder einen von den Hüllen der Edelkastanien weich gepolsterten Boden unter der den Füßen. Barfußläufer würden das vermutlich als weniger angenehm einschätzen.

 
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Obwohl die Feuchtigkeit in der Luft deutlich zugenommen hat, bin ich froh um den Wasservorrat, den ich mittrage. Nach diesem Anstieg gönne ich mir am Kontrollposten bei der Kirche in Salvan etwas Herzhaftes. Leckeres Brot und feiner Käse geben mir Energie für den weiteren Weg.  Dieser führt der Talflanke entlang weiter nach Marécottes, wieder ein Stück auf der wenig befahrenen Straße, entlang des Wildparks und weiter nach Le Trétien, dem kleinen Ort, der am Hang zu kleben scheint.

Noch einmal geht es im Zickzack den Wald hoch bis zum höchsten Punkt der Strecke auf 1300m. Nur wenig höher ist die Landschaft in Weiß gekleidet. Noch etwas weiter oben gehen die weißen Bergzüge nahtlos über in den gleichfarbigen Nebel. Der Kirchturm von Finhaut ist aber schon bald deutlich zu erkennen, eindeutiges Zeichen, dass schon bald wieder die Schäfchen gezählt und verpflegt werden. Und wie! Mit Liebe gebackene Köstlichkeiten und vieles mehr wird uns aufgetischt. Jetzt nur nicht zu viel essen. Auf dem steilen Abstieg in die Schlucht zieht es mich auch sonst ganz ordentlich abwärts, es sind über 300Hm, welche auf relativ kurzer Strecke abgebaut und nach kurzem Verweilen auf dem Grund der Schlucht wieder gesammelt werden. Der Weg selbst entlang der „Gorges mystérieuses“ hat nichts wirklich Mysteriöses an sich. Zuerst führt er durch eine märchenhafte Kulisse, dann wird er anstrengend. Wieder 300Hm weiter oben bin ich bei „Tête Noire“ angelangt. Mein Kopf ist aber nicht schwarz, sondern leuchtet in kräftigem Rot. Dafür, dass dieser Zustand nicht lange dauert, sorgen die Schneeflocken, die sich nun mit dem Regen mischen.

Nach einem kurzen Straßenstück geht es über die „Pont de Litro“ auf die andere Talseite und wieder auf natürlichen Untergrund. Noch einmal mache ich einen kurzen Fotoversuch, dann konzentriere ich mich auf den Trail. Über längere Zeit geht der Pfad ein bisschen hoch und runter, gleich daneben geht es zuweilen ganz heftig runter. Gut, dass der Abhang mit Bäumen besetzt ist, so erscheinen mir diese Passagen nicht ganz so ausgesetzt wie sie es eigentlich sind. Trotzdem ich das Augenmerk auf den Weg richte, habe ich Zeit, an alles Mögliche zu denken. Die Gedanken bewegen sich zwar in verschiedenen Bahnen, aber immer in der gleichen Richtung. Kontemplatives Laufen, eine irgendwie mystische Erfahrung; einfach schön, einfach gut.

Bei La Crettaz, knapp vor der Marathondistanz warten an der Kontrollstelle wieder freundliche Helfer mit einem fürstlichen kleinen Buffet auf uns Läufer. Samuel hat diese Stelle schon vor zwei Stunden passiert… Gleich im Anschluss beginnt der Abstieg entlang des Tals nach Gueuroz, von wo aus die letzten 200Hm ins Rhonetal mit starkem Gefälle auf rutschigen Felsen eine koordinative Herausforderung bieten. In Verneyaz ist im Kirchgemeindehaus ein weiterer Kontrollposten. Müßig zu sagen, dass es auch da an Verpflegung nicht mangelt. Bis und mit Défi 6 habe ich es also geschafft. Noch habe ich zwei Kilometer vor mir, um mich in Dorénaz, am rechten Ufer der Rhone, zu entscheiden, ob ich in der Ebene bleiben und den Défi 7 beenden oder den erneuten Anstieg nach Alesse auf mich nehmen und einen Platz in der Liste der Finisher des Défi+ bekommen will. Wenn ich ganz in mich hineinhorche, dann weiß ich, dass der Entschluss feststeht. „Übermut tut selten gut“, sage ich mir und schlage den Weg durchs Dorf ein. Ich will nicht übertreiben und mir das Glücksgefühl, das sich aufgebaut hat, nicht auf dem letzten Abschnitt wieder nehmen lassen.

Die kleine Straße entlang des Waldrandes und der Weinberge ist zwar auch eine kleine Härteprüfung. Bekanntlich bläst der Wind im Rhonetal immer talaufwärts. Zum Glück ergibt es sich gerade hier, dass wir uns zu zweit in ziemlich stummer Gesellschaft Schritt um Schritt dem Dorf Collonges nähern können. Hier wird wieder Buch geführt und noch einmal Verpflegung angeboten.

Die Straße aus dem Dorf hinaus führt wieder über die Rhone, zurück auf die linke Talseite. Zuerst gibt mir die asphaltierte Straße bis zum Kraftwerk etwas zu beißen, dann gibt es nochmals Trail satt mit Blick auf die urtümliche Rhone. Ein Wanderwegweiser zeigt 1h 05min Marschzeit bis St. Maurice an. In meiner Verfassung rechne ich mit der Hälfte der angegebenen Zeit und liege damit ziemlich richtig. 8:31 nach dem Start laufe ich wieder im Hof des Collège der Abtei ein. Ich bin froh, dass ich den Mut hatte, trotz Trainingsrückstand an den Start zu gehen und dass ich mich nicht zum Übermut verleiten ließ, die neue, anspruchsvollste Strecke zu laufen. In der Ausschreibung heißt es: „Die „Défis“ sind auch: Ein bisschen Stolz und viel Demut.“ Also, ich freue mich, dass ich es geschafft habe und bin unendlich dankbar, dass mir die Gesundheit und die sonstigen Möglichkeiten gegeben sind es zu tun!

Auf der Liste der Finisher steht der Vermerk „Kälte, Regen, Schnee und warmes Ambiente“. Letzteres bezieht sich definitiv nicht nur auf das traditionelle Raclette im Anschluss an die wohltuende warme Dusche. Ich weiß, wohin es mich am 13. Oktober kommenden Jahres ziehen wird.

 

Informationen: Défi du Jubilé
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